Doppelleben
Matthias Sachau stand für mich bislang bei den intelligentamüsanten Jungsbuchautoren in der vordersten Reihe, vor allem mit Büchern wie "Kaltduscher", "Schief gewickelt", "Wir tun es für Geld" und so weiter - gleich neben Oliver Uschmann, Hans Rath und möglicherweise nicht allzu weit entfernt von Sven Regener. Aber schon der vorletzte Titel - "Mit Flipflops ins Glück" - schien in eine andere Richtung zu weisen. Mal davon abgesehen, dass jeder Verlagsmarketingmensch, der all seine drei Sinne beieinander hat, um jeden Preis davon abraten müsste, Flipflops (oder Adiletten) in einem Romantitel zu erwähnen, fehlte hier die auf den ersten Blick schon anhand der Titelei erkennbare, mehr oder weniger subtile Ironie. Okay, der leise Widerspruch - Flipflops und Glück mag man als kultivierter Mensch als unvereinbar empfinden - deutete möglicherweise etwas an, aber irgendwas rief im Hintergrund: "Finger weg, hier stimmt was nicht."
Nun also "Alicia verschwindet", auf einem Cover, das eine im alten Cabrio (Jaguar?) davonfahrende, langhaarige Frau von hinten zeigt. Erschienen bei "Insel Taschenbuch".
Moment mal.
Insel? Huch? War das nicht dieser halbvergessene Suhrkamp-Imprint, der in den Siebzigern Monografien peruanischer Bergbauern veröffentlicht hat, Streitschriften zur Volkszählung, ins Kroatische übersetzte, polnische Gedichte und solches Zeug? Irgendwie ein bisschen angestaubt, aber ein, zwei Titel sollte man damals immer im Regal haben, falls engagierte Altlinke zum Essen kommen, die was auf Kultur geben? Nee, oder? Und jetzt MATTHIAS SACHAU? Der eigentlich über Stehpinkler und Very-Late-Coming-Of-Ager schreibt? WTF?
Mir fielen spontan zwei Erklärungsmöglichkeiten für dieses Phänomen ein. Möglichkeit eins: Es gibt zwei unterschiedliche Autoren, die beide unter dem Namen Matthias Sachau veröffentlichen. Möglichkeit zwei: Sachau ist nicht mehr der alte. Und der Insel-Verlag auch nicht.
Man verrät nicht zu viel, wenn man den Finger auf Möglichkeit zwei legt und fest zudrückt.
"Alicia verschwindet" ist eine Liebesgeschichte, die in der britischen Society angesiedelt ist, und die viele Verweise auf Emily Brontës Roman "Sturmhöhe" enthält. Super, oder? Gleich drei tolle Eigenschaften auf einmal: Liebesschmalz, Insulaner-Adel und alte Geschichten, mit denen einen schon die Englischlehrerin gejagt hat. Jetzt noch ein Nagelbrett als entspannende Unterlage - und der gemütliche Leseabend kann kommen!
Verblüffenderweise funktioniert es, weil es einfach gut gemacht ist. "Alicia verschwindet" erzählt von der Freundschaft zwischen einem von denen, die, wie er selbst sagt, bereits mit einem ganz Satz goldener Löffel im Mund geboren wurden, und einer fotografievernarrten, unkonventionellen Frau aus der Mittelschicht, besagter Alicia. Nun steht die Eheschließung zwischen dem Goldlöffelgeborenen und einer standesgemäßen, nicht eben unzauberhaften Dame namens Rovena an, aber kurz vorher verschwindet Alicia plötzlich titelentsprechend und hinterlässt dem verdutzten Robert Arlington-Stockwell (also dem Goldlöffel) ein paar merkwürdige Hinweise in Fotografieform. Die den jungen, attraktiven Adligen schließlich über einige Umwege zum Psychoanalytiker Heathcliff führen, dem er die ganze Geschichte bis hierher in einem Londoner Herrenclub erzählt, während man Drinks nimmt.
Okay, die Geschichte ist ein wenig vorhersehbar, und das wäre sie für mich vermutlich umso mehr gewesen, wenn ich zuvor "Wuthering Heights" (also "Sturmhöhe") gelesen hätte, was ich glücklicherweise nicht getan habe - und auch nicht nachholen werde. Aber sie ist äußerst liebenswürdig, ziemlich spannend und unkonventionell erzählt, dabei sehr stilsicher und mit profundem Hintergrundwissen ausgestattet (vermutlich hat Sachau schon seit Jahren ein geheimes Doppelleben als Societyreporter geführt). Sie zieht in den Bann und bricht erfolgreich eine mittelgroße Lanze für diese Leute, die in völlig unpassender Kleidung bei Bullenhitze Kricket spielen und dabei Porridge futtern oder Tee mit Kondensmilch trinken. Anders gesagt: "Alicia verschwindet" unterhält sehr gut und macht Spaß - auf andere Weise zwar, als Sachaus Jungsbücher vorher, aber auf überraschend positive. Und man entwickelt tatsächlich so etwas wie Mitgefühl für diesen eigenartigen Menschenschlag.
Also werde ich mir das mit den Flipflops auch noch antun - und ein, zwei Augen darauf haben, was der Insel-Verlag da so treibt. Und Sachau sowieso. Der vielleicht doch noch Den Ganz Großen Jungsroman in petto hat. Irgendeiner muss ihn schließlich schreiben.