Wondergrandpa
Michael Chabon hat mich mit "Die Geheimnisse von Pittsburgh" für sich vereinnahmt, mit "Wonderboys" hat er mich abhängig gemacht, "Sommerland" und "Das letzte Rätsel" habe ich atemlos verschlungen, und dann kam das große, mächtige, eindrucksvolle "Telegraph Avenue", das mir schlicht die Füße weggehauen hat. Ich bin ein Fan von Michael Chabons Art, Geschichten zu erzählen, und ich mag seine Themen und seine Art, mit dem Romanpersonal umzugehen, ungeheuer gerne. Chabon ist einer der wenigen Autoren, von denen ich wünschte, sie würden einmal pro Monat einen Roman veröffentlichen. Er gehört zu den ganz, ganz wenigen Autoren, deren Romane ich mehrfach lese.
Der neueste Roman "Moonglow" erzählt allerdings eine relativ simple, überschaubare Lebensgeschichte, und zwar diejenige von Michael Chabons Grandpa, von diesem mehr oder weniger selbst berichtet am Sterbebett, in der Woche vor dem eigenen Tod. Zuvor war dieser Großvater ein eher wortkarger Mensch, nachdenklich, pragmatisch, sehr moralisch, eigenbrötlerisch, originell, unerwartet empathisch - und fraglos liebenswert. Um die Episoden aus diesem langen, aber überhaupt nicht übermäßig ereignisreichen Leben etwas attraktiver zu gestalten, verflechtet Chabon sie mit etwas Jetztzeitgeschehen, einigem an Reflexion über die eigene Kindheit, und außerdem verschiebt er ständig die Zeitebenen. Das ist geschickt gemacht und erfüllt seinen Zweck, aber dennoch bleibt am Ende eine gewisse Unzufriedenheit.
Dabei stimmen alle Komponenten. Der Großvater war während des Zweiten Weltkriegs in einer Art Spezialeinheit, die lohnendes Material und lohnende Menschen hinter den Frontlinien ausmachen und den Geheimdiensten überantworten sollte. Er war rund um das Kriegsende auf der Jagd nach Wernher von Braun, der tatsächlich von den Amerikanern gefasst, rehabilitiert und an prominenter Position im späteren Raumfahrtprogramm eingesetzt wurde, wo er für die Saturn V-Rakete verantwortlich zeichnete, die die ersten Menschen zum Mond gebracht hat. Von Braun war allerdings auch der Vater der V2, die von KZ-Insassen unter unglaublichen Bedingungen gebaut und auf die Alliierten abgefeuert wurde. Der Wissenschaftler hat zwar zeitlebens bestritten, von den Verhältnissen in Dora-Mittelbau und vorher in Peenemünde gewusst zu haben, aber es spricht viel dafür, dass von Braun - gedeckt von den Amerikanern - gelogen hat. Von Braun verkörpert den moralischen Antagonisten in diesem Roman - und begegnet Chabons Großvater auch physisch. Diese Episode gehört zu den bemerkenswertesten im Buch.
Nach dem Krieg verfiel der Großvater einer mysteriösen, bezaubernden Frau, die er ehelichte und die Chabons Großmutter wurde - eine Frau, die zeitlebens von ihrer Schizophrenie geplagt wurde, die sie vermutlich auch den Geschehnissen im Krieg zu verdanken hatte. Für sie gab der Großvater seine Karriere im Raketenbau auf, aber die Leidenschaft für Raketen blieb ihm bis zum Lebensende.
Man erfährt viel in diesem wunderbar erzählten Roman, der ganz energisch einen moralischen Standpunkt vertritt, weitgehend ohne Kernkonflikt auskommt und insgesamt eine Liebeserklärung an jenen Großvater ist - eine, die diesem Mann vermutlich gerecht wird, zumal so kunstvoll geschrieben und von einem so großartigen Autor verfasst. Aber das Problem bei halbbiografischen Erzählungen ist immer das gleiche: Die Figuren sind eben echt, man dichtet ihnen keine Eigenschaften an, die es einfach nicht gab und das Bild verzerren würden, die aber der Geschichte etwas Würze verleihen würde. Man verzichtet auf allzu Negatives, was nicht heißt, dass man beschönigt oder verklärt. Aber die besten Geschichten erzählt eben nicht das Leben, wie ständig behauptet wird, sondern die besten Geschichten werden von tollen Autoren ausgedacht (und erzählt). Von Leuten wie Michael Chabon, der mit "Moonglow" einen soliden Roman vorgelegt hat, mich aber bitte mit dem nächsten wieder so richtig vom Hocker haut.