Nell Zink: Nikotin

  • Äußerst lesenswert (auch für Nichtraucher)


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    Als Norman Baker im Sterben liegt, ist seine Tochter Penny die einzige Person aus dessen eher seltsamer Familie, die sich um ihn kümmert. Norman war ein Gesundheitsguru, ein Schamane, aber einer von denen, die damit ordentlich Geld gemacht haben. Seine Hinterlassenschaft fällt entsprechend aus, aber die Söhne Matt und Patrick und die ziemlich junge Zweit-Ehefrau Amalia melden schnell ihre Ansprüche an, so dass Penny, die nicht Penelope, sondern Penana getauft wurde, nur das vermeintliche Abbruchhaus in Jersey City bleibt - aber auch nicht als Eigentum, sondern als eine Art Beschäftigungsmaßnahme. Denn irgendwie ist nicht ganz klar, ob Norman wirklich verheiratet war, zu wem die Söhne gehören und wo eigentlich das Testament ist, wenn es überhaupt eines gibt.


    Das lange vernachlässigte Wohnhaus, von dem die anderen Bakers glauben, es wäre inzwischen eine Ruine, liegt inmitten einer Ansammlung von besetzten Objekten, stellt sich als verblüffend intakt heraus - und es ist ebenfalls von Besetzern okkupiert. Ein paar fröhliche, nette und durchaus bodenständige Typen haben es nämlich auf Vordermann gebracht und wohnen darin, und ihnen ist gemein, dass sie rauchen oder wenigstens Tabak kauen, weshalb das Haus "Nicotine" heißt. Penny, die selbst Gelegenheitsraucherin ist, gefallen die Bewohner sofort. Sie gibt sich nicht als Eigentümerin zu erkennen, sondern wird Teil der Community - wenn auch nicht direkt im "Nicotine". Bis Matt, der fiese größere Bruder, ebenfalls herausbekommt, dass das Objekt doch noch ziemlich brauchbar ist - und auf dessen hinreißende Bewohnerin Jazz aufmerksam wird.


    Nell Zinks Hauptfigur Penny lebt in einem konformistischen Amerika, dessen Protestszene lahmt, wo Überwachung und Verdächtigung zum Alltag gehören, wo sogar bei Demonstrationen jene etwas abgetrennt werden, die noch so wahnsinnig sind, öffentlich Zigaretten zu rauchen - sie sind der "blaue Block". Man ist gegen TTIP, ohne so ganz genau zu wissen, wofür das eigentlich steht, und auch die Besetzerszene in Jersey City ist zwar überwiegend arbeitslos, aber dafür fast ausschließlich damit beschäftigt, sich im Alltag möglichst behaglich einzurichten. Irgendwie hat man sich arrangiert. Das gilt auch für Rob, den ungeheuer attraktiven, aber asexuellen "Nicotine"-Bewohner, der dort eine Fahrradwerkstatt unterhält, und in den sich Penny auf den ersten Blick verliebt.


    Zwischen vielen sehr feinen Beobachtungen, einer Abrechnung mit der scheinheiligen nordamerikanischen Gegenwart, tollen Dialogen und Figuren zum Niederknien sind es vor allem Nell Zinks Humor, ihr bewundernswerter Stil und ihre sarkastisch-lässige Sichtweise, die dieses Buch tragen, das nicht so richtig eine bestimmte Geschichte erzählen will. Es ist zwar nicht so, dass es sich an den diversen Themen überhebt, aber es gibt sich auch nicht die Mühe, alles zu einem erklärenden Ende zu führen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Ereignisse um Penny und das Haus in Jersey City, um Rob, Jazz, Matt, Normans Exfrau Amalia und so weiter werden im dramaturgischen Sinne durchaus abgeschlossen, aber einige der Fragen, die währenddessen entstehen, müssen sich geneigte Leser eher selbst beantworten. Was okay ist, denn es macht ausreichend und ausgleichend großen Spaß, die Story um die liebenswürdige Penny mitzuerleben, während man sich Gedanken darüber macht, was eigentlich aus dem Protest geworden ist, aus Positionierung und energischem Eintreten für oder gegen etwas, in einer Zeit, in der höchstens noch per Mausklick "Shitstorms" ausgelöst werden, und Leute ihre Meinung hinter anonymen Avataren verstecken, während Bequemlichkeit und Kaufräusche alles andere erstickt haben.


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