Inhalt:
Zu vielschichtig und psychologisch feinst verwoben ist dieses riesige, 1878 erschienene Werk, um es hier auch nur ansatzweise zu erfassen.
Erzählt wird die Geschichte der adligen Familie Karenin, einer dekadenten, in gesellschaftlichen Normen erstarrten Sippe. Die Kälte ihres Gatten treibt die sensible Anna dem wesentlich jüngeren Grafen Wronskij in die Arme. Diese stark sexuell orientierte Beziehung endet im Fiasko. Schließlich richtet Anna sich selbst, aber auch ihren Mann und den Geliebten zugrunde.
In der anderen großen Figur des Romans, dem Gutsbesitzer Lewin, hatte sich Tolstoi selbst verewigt. Dessen Rückzug aus der Moskauer Gesellschaft und seine Selbstbescheidung auf ein bäuerlich schlichtes Leben verkörperten auch Tolstois Ideale.
Autor:
Leo Tolstoi (1828-1910) entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht. Nach ausgedehnten Reisen durch Europa zog er sich auf sein Familiengut zurück und schrieb dort seine großen Werke. Unter dem Eindruck Rousseauscher Ideen verurteilte er Kultur und Zivilisation als das natürlich Menschentum verfälschende Elemente. Werke u.a.: "Krieg und Frieden", "Anna Karenina", "Die Kreuzersonate", "Meine Beichte".
Meine Meinung:
"Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich."
Dies ist der beruehmte Eingangssatz zu einem Klassiker, der aus gutem Grund auch Jahrhunderte nach dem Erscheinen der Erstausgabe den Lesern was zu sagen haben wird. Tolstoi hat naemlich eigentlich mit dem Titel des Romans "Anna Karenina" einen Fehler gemacht, denn Anna ist nicht der Kern des Romans. Sie ist nur eine Hauptperson unter vielen anderen, die alle zusammen genommen ein gutes Bild der russischen Gesellschaft des 19. Jhd. abgeben. Und ein Klassiker ist es geworden, weil Tolstoi diese Figuren so menschlich beschrieben hat, dass sich jeder Leser in ihnen wieder erkennen kann - auch wenn man in einem anderen Jahrhundert oder auf einem anderen Kontinent lebt.
Nie hab ich ein Buch gelesen, in dem ich mich so gut mit den Gedankengaengen und Handlungen der Personen identifizieren konnte. Ich hab mich stellenweise in Anna wieder erkannt, aber auch in Dolly, in Kitty, Wronsky und in Lewin. Selbst dieser gefuehlskalte Widerling Karenin hatte ein paar Gedanken, die mir sehr bekannt vorkamen.
Es funktioniert fuer den Leser so gut, weil Tolstoi ueber seine Charaktere nicht richtet. Er gibt kein Urteil ab sondern ueberlaesst es dem Leser zu erkennen, dass sowas kaum moeglich ist.
Ich hab entsprechend dabei auch viel ueber mich selber gelernt, mehr als aus jedem Self-Help Buch, das mir ueber die Jahre empfohlen wurde. Und mehr als einmal gedacht, dass dieses Buch Pflichtlektuere aller Psychologiestudenten sein sollte.
Letztlich hab ich ein ganzes Jahr gebraucht um dieses Werk zu lesen. Es ist einfach so dicht, dass ich kaum mehr als 20 Seiten an einem guten Tag geschafft hab, weil darin soviel an Gedanken drin war, wie andere Buecher sie nicht auf 200 Seiten schaffen.
Es ist das erste Mal, dass ich es wirklich bedauere nicht einige markante Stellen mit Stickies markiert zu haben. Da ist die Stelle, wo Lewin mit den Bauern Heu erntet und am Ende des Tages ein wirklich gutes Zitat liefert. Da ist Wronskys Erkenntnis, dass es in der Tat ein grosses Problem sein kann, wenn das was man sich wuenscht wirklich in Erfuellung geht. Glueck ist eben wirklich der Weg und nicht nur das Ziel. - und all diese Stellen kann ich eben leider nur mangelhaft beschreiben, weil mir eben die Stickies fehlen. Tolstois Sprache ist da nunmal 1000 mal besser als meine!
Fazit:
Ein Buch, das auf jeden Fall in die Top 10 der besten Buecher meines Lebens gehoert. Allerdings liegt es z.T. auch am richtigen Zeitpunkt in meinem Leben. Es vermittelt soviel an Lebenserfahrung, dass ein junger Leser Schwierigkeiten haben koennte die Tiefe wirklich zu erfassen.