Theresa Hannig - Die Optimierer
Titel: Die Optimierer
Autor: Theresa Hannig
ISBN-10: 3404208870
ISBN-13: 978-3404208876
Erscheinungsdatum: 29.09.2017
Verlag: Bastei Lübbe
Seiten: 304
Zum Autor:
Theresa Hannig wurde 1984 in München geboren. Sie studierte Politikwissenschaft, Philosophie und VWL und arbeitete als Softwareentwicklerin, Beraterin für IT-Sicherheit und als Projektmanagerin von Solaranlagen. Mit ihrem Debütroman Die Optimierer gewann sie den Stefan-Lübbe-Preis 2016. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von München.
(Quelle: Verlagsseite)
Inhalt:
Das Buch fängt mit einem Zitat von Edward Snowden an, das man sich hinter die Ohren schreiben sollte und das nach dem Lesen der Geschichte noch um einiges an Ernst und Intensität gewinnt:
Zu behaupten, das
Recht auf Privatsphäre
sei einem egal, weil man nichts zu verbergen
hat,
ist wie zu behaupten, das Recht auf freie Meinungsäußerung
sei einem egal, weil man nichts zu sagen hat.
Um diese Privatsphäre des Einzelnen geht es im Grunde in diesem Buch - im Jahre 2052, in dem die Handlung angesiedelt ist, gibt es sie nämlich nicht mehr. Die Gesellschaft in der BEU, der Bundesrepublik Europa, bestehend aus den mitteleuropäischen Kernstaaten, unterliegt der totalen Kontrolle und Überwachung durch staatliche Einrichtungen. Hochentwickelte Roboter sorgen für Wohlstand und Sicherheit in der sogenannten Optimalwohlökonomie. Ziel ist es, Mensch und Gesellschaft zu optimieren, um ein möglichst reibungsloses, zufriedenes und durch und durch kontrolliertes Zusammenleben zu ermöglichen.
Zu diesem Zweck werden alle Bürger überwacht und es werden umfangreiche Datensammlungen angelegt mit Gesundheits- und Krankheitsdaten, Details über Familienleben, Sozial- und Sexualkontakte, Konsumverhalten und andere höchst private Dinge. In der Praxis heißt das, dass es auch in allen Lebensbereichen strengste Vorschriften gibt, deren Einhaltung lückenlos überwacht und deren Übertretung mit harte Strafen geahndet wird. Etabliert hat sich dabei ein System mit Sozialpunkten, ähnlich dem, das aktuell in China aufgebaut wird.
Jedoch hat nicht nur der Staat Zugriff auf die Daten des Einzelnen, sondern im Grunde die ganze Bevölkerung, die jederzeit das Profil ihres Gegenübers abrufen und einsehen kann, und zwar mittels sogenannter Datenlinsen - virtuelle Kontaktlinsen, über die nicht nur beliebige Daten aus einer Art Cloud abgerufen werden können, sondern über die man auch z. B. Fahrzeuge, Schließanlagen, Haushaltsgeräte etc bedienen und steuern kann. Der soziale Druck, der dadurch zusätzlich noch entsteht, ist enorm, ebenso wie die gesellschaftliche Kontrolle des Einzelnen durch die Massen.
Dieser Optimierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche dienen die Mitarbeiter der staatlichen Agentur für Lebensberatung, die versuchen, für jede Person den richtigen Beruf und den optimalen Platz in der Gesellschaft zu finden, sprich: größte Zufriedenheit für das Individuum und größtmöglicher Nutzen für die Allgemeinheit. Einer dieser Lebensberater in der Münchner Agenturniederlassung ist die Hauptfigur der Geschichte: der 32jährige Samson Freitag, ein überzeugter Anhänger und glühender Verfechter der Optimalwohlökonomie. Samson ist ein überkorrekter, pedantischer Erbsenzähler, sein Leben bis in den kleinsten Winkel optimiert, und er selbst völlig überzeugt von dem, was er tut.
Samsons Aufgabe in der Agentur ist es, Menschen zu beraten, mit Hilfe von Datensammlungen und entsprechender Software zu beurteilen, und ihnen dann einen geeigneten Beruf zuzuweisen. Bislang waren seine Beratungen immer erfolgreich, doch dann hat er einen Gesprächstermin mit Martina, einer jungen Frau, die zwar verzweifelt ihr Leben ändern möchte, jedoch keinerlei herausragende Fähigkeiten und auch nur wenig Eigeninitiative und Ehrgeiz besitzt.
Samsons Einschätzung und die Algorithmen der Beratersoftware kommen zu dem Schluss, dass Martina für die Gesellschaft keinen Nutzen hat, so wird sie in die "Kontemplation" geschickt, eine beschönigende Bezeichnung für ein arbeitsloses Leben in der Grundsicherung, mit der Aussicht, sozial immer weiter abzusteigen. Für Martina ist dieses Ergebnis jedoch so niederschmetternd, dass sie sich, jeder Hoffnung auf eine bessere Zukunft beraubt, aus lauter Verzweiflung das Leben nimmt.
Damit löst sie eine unglückliche Verkettung von Ereignissen aus, die Samson an den Rande des gesellschaftlichen Ruins bringen. Zunächst ist er sich keiner Schuld an Martinas Freitod bewusst, denn schließlich hat er alles richtig gemacht und alle Gesetze und Vorschriften befolgt, seine Arbeit hält er für gerechtfertigt und korrekt. Doch dann wird ihm vorgeworfen, sie falsch beraten zu haben, und er gerät in die erbarmungslosen Mühlen der Optimierungsbürokratie, aus denen es kein Entrinnen gibt. Sein bis dahin perfektes Leben bricht völlig zusammen, und erst jetzt kommen ihm Zweifel und er beginnt, das ganze System zu hinterfragen ...
Meine Eindrücke/Meinung:
Das Buch hat mir trotz einiger Kritikpunkte sehr gut gefallen, und da ich mich mit der ganzen Thematik häufiger befasse, war es fast schon Pflichtlektüre. Das Thema ist auch ein Wichtiges und Aktuelles, und ich fand beängstigend, wie viel von dieser Zukunftsvision, die im Jahr 2052 spielt, in Grundzügen bereits Wirklichkeit ist. Vieles von dem, was im Buch geschildert wird, existiert entweder schon oder es ist gerade in der Entstehung, wie beispielsweise das Sozialkreditsystem in China, Datenbrillen, autonome Fahrzeuge oder Gesichtserkennung. Auch sind einige technische Entwicklungen, die bei uns derzeit noch in den Kinderschuhen stecken, in dieser Vision schon Realität geworden, wie etwa humanoide Haushaltsroboter.
Manches scheint mir ein bisschen weit hergeholt, aber wenn man sich anschaut, wie rasant die Entwicklung in den letzten zehn bis zwanzig Jahren war, liegt es sicher im Bereich des Möglichen und ist nicht unrealistisch. Und in einer Utopie und Zukunftsvision kann natürlich auch nach Herzenslust spekuliert werden. Das Gesellschaftssystem an sich fand ich auch ganz interessant, es hat einige nachdenkenswerte Ansätze in Bezug auf gesellschaftliche Probleme, Umweltschutz, Nachhaltigkeit usw.
Der Schreibstil ist klar und sachlich, und lässt sich gut und flüssig lesen. Bis auf die Hauptfigur Samson Freitag, der die Geschichte dominiert, gibt es noch einige Nebenfiguren, deren Charakter aber nicht tiefgehend ausgearbeitet wurde, sondern die eher zum besseren Verständnis des Systems und der Handlungen der Hauptfigur dienen. Samson ist nicht gerade ein Sympathieträger mit seinen starren und zugleich naiven Ansichten, aber ich empfand ihn auch nicht als unsympathisch. Eigentlich tat er mir leid. Er will immer nur alles richtig machen und ein Vorbild sein, dem System und dem Allgemeinwohl und dieser besseren Welt dienen, an die er wohl wirklich inbrünstig glaubt, und die ihn dann letztendlich doch mit Haut und Haaren verschlingt.
Das gezeigte Gesellschaftsmodell mit seinen gut gedrillten Mitläufern, die praktisch jedes eigenständige Denken aufgegeben und dem Staat in blinder Gutgläubigkeit die komplette Kontrolle über ihr Leben überlassen haben, erinnert an eine Zeit,die wir aus den Geschichtsbüchern am liebsten tilgen würden. Und die Geschichte - die reale und die des Buches - zeigt deutlich, wie wichtig es ist, selbst über sein Leben zu bestimmen und nicht nur blind irgendwo mitzumarschieren, wie wichtig es ist, Entwicklungen kritisch zu hinterfragen und sich nicht einfach der Masse anzupassen, nur weil es bequem ist.
Samson zu verfolgen,
seinen Absturz und seinen Wandel mitzuerleben, liest sich über weite Strecken spannend
und erschreckend realistisch. Am Ende gibt es nochmal einen Twist,
mit dem ich überhaupt nicht gerechnet habe, und die Auflösung am
Schluss fand ich wirklich verblüffend. Vielleicht würden das einige Leser schon viel früher erraten, aber für mich kam das absolut unvorhergesehen. Diese Entwicklung lässt alles nochmal in
einem ganz anderen Licht erscheinen. Es war auch irgendwie gruselig und
unheimlich, und ich kann nur hoffen, dass es niemals so weit kommen wird.
Was mich beim Lesen allerdings ziemlich gestört hat, war das massive Infodumping, das sich durchgehend über die gesamten gut 300 Seiten zieht. Nahezu in jedem Satz werden Infos über dieses Gesellschaftssystem und die technischen Errungenschaften gepackt, es gibt keinen Absatz, keine Zeile, in die nicht irgendwelche Optimalwohlökonomie-Details eingeflochten werden, und das nervt mit der Zeit, ist sehr ermüdend und verleitet zum Überfliegen und Überblättern.
Überhaupt werden viele Details extrem ausschweifend geschildert, oft wird alles bis in die allerkleinste Kleinigkeit beschrieben, egal ob es um einen Raum geht, der betreten wird oder um eine auftauchende Person, und das war mir manchmal zu viel des Guten. Und es war oft auch total überflüssig, denn eine unwichtige Nebenfigur, die nur ein einziges Mal namentlich erwähnt wird und keinerlei Funktion hat, muss man wohl kaum bis auf die Größe und Farbe der Zehennägel beschreiben.
Was ich auch ein bisschen unglaubwürdig fand, das war Samsons rasante Wandlung vom absoluten Systemanhänger zum Systemgegner. Die Gründe für diese Entwicklung waren leicht nachzuvollziehen und ich fand es sowieso an der Zeit, dass der junge Mann endlich mal sein Hirn einschaltet, aber es ging einfach alles zu schnell. Innerhalb weniger Tage hat er sich komplett gedreht, und so extrem, wie er das System und die Vorschriften vorher verinnerlicht hatte, kann ich mir das einfach nicht vorstellen. Und mit dem Schluss war ich, obwohl er schon irgendwie passend war, doch nicht so ganz glücklich, da hat mir einfach etwas gefehlt. Will aber jetzt nicht spoilern, deswegen gehe ich darauf nicht näher ein.
Im Großen und Ganzen ein gutes und lesenswertes Buch, und eine realistisch anmutende und ziemlich düstere Zukunftsvision, deren Aussage man zusammenfassen könnte in: Leute, passt auf, wem ihr eure Daten und die Kontrolle über euer Leben gebt!