Unter der Drachenwand - Arno Geiger

  • Unter der Drachenwand

    Arno Geiger

    2018

    480 Seiten

    Hanser Verlag

    Fester Einband

    ISBN 978-3-446-25812-9



    Der Autor (Verlagsangabe)

    Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wolfurt und Wien. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Hebel-Preis (2008), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011) und den Alemannischen Literaturpreis (2017).


    Inhalt und meine Meinung

    Veit Kolbe landete sofort nach dem Abitur beim Militär und im zweiten Weltkrieg. Lange hatte er Glück, doch 1944 wird er schwer verletzt und erhält nach dem Lazarett Genesungsurlaub. Daheim bei den Eltern in Wien hält er es nicht aus, viel zu groß werden die Spannungen zwischen dem Vater, der noch immer an den Endsieg glauben will und dem illusionslosen Sohn.

    Durch Vermittlung seines Onkels landet er in einem Dorf am Mondsee und obwohl er insbesondere psychisch unter der Verletzung und den Kriegserlebnissen leidet, nimmt er wieder Anteil an seiner Umgebung. Er lernt seine Zimmernachbarin, die „Reichsdeutsche“ Margot kennen, den „Brasilianer“, der eine Gärtnerei betreibt und verfolgt die Vorgänge in einem Mädchenlager, in das Wiener Schülerinnen verschickt wurden. Unterbrochen werden seine Schilderungen durch Briefe an die Zimmernachbarin Margot von deren Mutter und an und von einem der verschickten Mädchen, die die Ereignisse aus ganz anderen Perspektiven zeigen und die Ereignisse am Mondsee ergänzen. Nicht recht verstanden habe ich die Motivation für die Einführung eines weiteren Briefschreibers, eines aus Wien vertriebenen Juden. So tragisch dessen Erlebnisse sind – ich finde keine rechte Verbindung zur übrigen Handlung.

    Mir gefällt ganz besonders, wie einfühlsam es dem Autor gelungen ist, die seelische Bedrängnis und Verletzungen des jungen Mannes zu schildern. Der Krieg ist immer gegenwärtig, doch er zeigt sich nur sehr selten in seinen brutalen Handlungen, sondern in scheinbar belanglosen Einzelheiten des Alltags. Wie wichtig dieser Alltag ist, wird hier eindrucksvoll gezeigt.

    Eine formale Besonderheit sind die immer mal wieder auftauchenden Schrägstriche, die wohl ein Zeichen zum Innehalten, eine Art besonderer Absatz darstellen sollen. Mich haben sie nicht gestört, sie machen für mich aber keinen Sinn.

    Ein leises Buch, das die Leserin ganz schnell in seinen Bann zieht und noch lange in Erinnerung bleibt.

  • Vielen Dank für Deine ausführliche Rezi. :-) Das Buch stand sowieso schon auf meiner Wunschliste.


    Bei der Lesung in Leipzig erzählte Arno Geiger ausführlich von seinen Recherchen, den zahllosen Briefen und anderen Originaldokumenten aus jener Zeit, die er gelesen hat. Und wie wichtig es ihm war zu zeigen, wie so etwas passieren könne, warum Menschen so reagieren und dass niemand sich sicher solle, in jener Zeit im Widerstand gewesen zu sein.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Meine Meinung


    Muss man heute noch ein Buch über den Zweiten Weltkrieg schreiben?

    Ja, man muss!

    Wenn ich mit offenen Ohren durch den Alltag gehe, stelle ich immer wieder fest, dass der Krieg schon lange her und vergessen ist. Die Männer, die im Krieg Soldaten waren, sterben nach und nach. Die alten Frauen sprechen nicht darüber, und das Grauen tritt, typisch menschlicher Selbstschutz, in den Hintergrund. Und während biedere Bürger schon wieder johlend durch die Straßen ziehen, klatscht so Mancher still in seinem Kämmerlein mental Beifall.


    Geiger schreibt über dieses Grauen, aber er kommt dabei weitgehend ohne detailliert Schilderungen von Tod und Schrecken aus. In seinem Roman entsteht das Grauen beim Leser eher indirekt, leise und zwischen den Zeilen. Der Krieg ist präsent in jeder Zeile, in jeder kleinen, alltäglichen Episode.


    Ein eindrucksvoller Roman der leisen Töne, der noch lange im Leser nachhallt.

  • Der Icherzähler Veit Kolbe ist bisher sein ganzes Leben als Erwachsener Soldat gewesen. Nach einer Verwundung im Russslandfeldzug wird er 1944 in ein Bergdorf unterhalb der Drachenwand zur Genesung geschickt, in dem sein Onkel Johann Gendarmerieposten-Kommandant ist. Veit soll und will dem Onkel nicht auf der Tasche liegen, nimmt dessen Ratschläge jedoch gern an, wie er nun sein Leben als Untermieter organisieren kann. Zunächst ist der junge Mann froh, dass er die tagelange Reise im Lazarettzug überlebt hat. Ein kurzer Besuch bei seinen Eltern in Wien zeigte ihm, dass der Krieg die Ehe seiner Eltern verändert hat und das Verhältnis zu seinem Vater schwierig bleiben wird. Erst allmählich kann Veit die drängendsten Erinnerungen einordnen, die Flüchtlingsströme und die Vernichtung Behinderter, ohne die es das Lazarett nicht gegeben hätte, in dem er behandelt wurde.


    Außer Veit wohnt bei seiner Vermieterin Margot, eine „Reichsdeutsche“ aus Darmstadt mit ihrem Baby, deren Mann an der Front ist. Die beiden Untermieter und „der Brasilianer“, der fernwehgeplagte Besitzer der örtlichen Gärtnerei, bilden die Außenseiter im Dorf, deren Lebenswandel genauestens beobachtet wird. In einem Ferienlager sind Schulkinder aus Wien mit ihren Lehrerinnen evakuiert. Weitere Handlungsstränge entstehen aus Briefen, die zwischen einem Mädchen aus dem Ferienlager und ihrem Liebsten gewechselt werden, zwischen Margot und ihrer Mutter, zwischen Margots Eltern und zwischen Oskar Meyer, einem Wiener Juden, und seiner Cousine in Südafrika. Die Briefe waren damals einzige Kontaktmöglichkeit, sie wurden sehnlichst erwartet, von der Zensur verstümmelt, sind aber auch Zeitdokumente einer für den Einzelnen zermürbenden Mangelwirtschaft. Die Briefe zwischen Margots Eltern deuten einen gewaltigen Wandel im Männer- und Frauenbild jener Zeit an; denn noch macht sich niemand klar, dass die Kriegsheimkehrer in ausgebombte Städte zurückkehren und Tausende von ihnen körperlich und seelisch versehrt sein werden. Die Handlungsfäden, die sich aus den Briefen ergeben, werden am Ende miteinander verknüpft. Für ein Jahrzehnt, in dem viele Menschen lange warten mussten, bis das Schicksal ihrer Angehörigen geklärt werden konnte, eine überzeugende Symbolik.


    Es sind banale Alltagsproblem, die Margot und Veit gemeinsam zu stemmen versuchen. Die Tomaten in der Gärtnerei sollen z. B. angebunden werden, aber weit und breit sind keine Fäden aufzutreiben. Diese kleinen Nebenhandlungen verdeutlichen besonders eindringlich die Absurdität eines jeden Krieges und entlarven den moralischen Niedergang, wenn offen oder durch Denunziation ein anderer an die Front und damit in den sicheren Tod gewünscht wird.


    Anfangs habe ich mich skeptisch gefragt, ob ein weiteres Buch über den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus geschrieben werden muss. Das liegt u. a. daran, dass nach 1960 geborene Autoren Figuren aus der Generation ihrer Großeltern bisher (für meinen Geschmack) selten überzeugend charakterisiert haben. Arno Geiger zeichnet hier für mich überraschend feinfühlig einen kriegsversehrten 24-Jährigen, der jederzeit damit rechnen muss, wieder für kriegstauglich erklärt zu werden und an die Front in Russland zurückgeschickt zu werden. Mit wenigen Sätzen schafft Geiger ein Dorf als Mikrokosmos, in dem unter dem Segel einer fanatischen Ideologie die Masken fallen.

  • Veit Kolbe wurde kurz vor Weihnachten 1943 in Russland schwer verwundet und nun hält er sich am Mondsee unter der Drachenwand auf, um sich zu erholen. Er ist erschöpft und ausgelaugt und hofft, dass er nicht mehr zurück an die Front muss. In seinem Quartier ist auch die Darmstädterin Margot, die mit ihrem Kind hier gelandet ist. Mit der Kinderlandverschickung ist die Lehrerin Margarete und über dreißig Mädchen aus Wien in diesen Ort gekommen. Dann ist da auch noch der Gärtner, der davon träumt, nach Brasilien zurückzugehen. Veit wird ein Jahr hier verbringen und der Leser lernt diese Menschen kennen, die hoffnungslos sind und einfach nur überleben wollen. Aber da ist auch Trude Dohm, die Zimmerwirtin, die immer noch ihre Durchhalteparolen von sich gibt.

    Die ganze Zeit spürt man die Hoffnung, die die Menschen haben auf eine bessere Zeit nach dem Kriegsende. Aber es ist auch eine unterschwellige Bedrohung spürbar. Es ist ein melancholisches Buch,

    Veit hat so viel mitgemacht, auch wenn er nicht in der vordersten Linie dabei war, dass er nicht mehr an die Wehrmacht und nicht an den Sieg glaubt. Er will nicht mehr an die Front und versucht mit allen Mitteln, seine Erholungsphase zu verlängern. Dabei helfen im Margot und die „Panzerschokolade“. Doch für Veit ist der Krieg noch nicht zu Ende, denn es kommt ein neuer Einberufungsbefehl.

    Arno Geiger bringt unter der Drachenwand die unterschiedlichsten Menschen zusammen und wir dürfen ihre Gedanken, ihre Sehnsüchte und Hoffnungen kennenlernen.

    Es ist keine leichte Lektüre und mehr als einmal musste ich schlucken aufgrund des Pragmatismus, mit dem die Menschen versuchten, in diesen Ausnahmezeiten zu überleben.

    Ein packender und sehr eindringlicher Roman, der noch lange nachhallt.


    5/5