Yasmine Ghata: Lange hatte ich Angst in der Nacht
Diana Verlag. 160 Seiten
ISBN-10: 3453291999
ISBN-13: 978-3453291997. 18€
Originaltitel: J'ai longtemps eu peur de la nuit
Übersetzerin: Pauline Kurbasik
Verlagstext
Arsènes Kindheit endet an dem Tag, an dem ihm seine Großmutter fortschickt. Ein hastig gepackter Koffer, kein Blick zurück: Für den achtjährigen Jungen beginnt die Flucht von Ruanda nach Europa. Im fernen Paris wächst er heran, findet neue Eltern, geht zur Schule und kommt doch nie an. Bis er der Schriftstellerin Suzanne begegnet, die ihre eigene Heimatlosigkeit in den Augen des Jungen gespiegelt sieht. Endlich bricht Arsène sein Schweigen, und im Erzählen verbinden sich für ihn Vergangenheit und Zukunft.
Die Autorin
Yasmine Ghata, geboren 1975, ist eine französische Schriftstellerin und Kunsthistorikerin. Sie arbeitete in einer auf islamische Kunst spezialisierten Pariser Galerie und unterrichtet heute Kreatives Schreiben an Schulen. Ihr erster Roman »Die Nacht der Kalligraphen« wurde in 13 Sprachen übersetzt und von der Presse hoch gelobt.
Inhalt
Die Autorin Suzanne gibt an einer Schule Schreibworkshops. Ihre Teilnehmer sollen einen Gegenstand beschreiben, der wichtig für das Leben der jeweiligen Familie ist. Einer ihrer Schüler findet, als Waisenkind im Exil ginge ihn diese Aufgabe für die nächste Stunde nichts an. Was ist das für ein Schüler, der sich selbst Waisenkind nennt, fragt ich mich neugierig. Wenn Schüler Gegenstände von zuhause mitbringen, würden sich daran heftige Diskussionen über unterschiedliche Lebensumstände oder Weltanschauungen entzünden können. Ich zweifelte, ob Suzanne als pädagogische Quereinsteigerin sich mit ihrem Thema Erinnerungsstücke nicht übernommen hätte.
Arsène bringt einen schwer gebeutelten Koffer mit, der ihn seit seiner Flucht aus Ruanda bis in seine Adoptiv-Familie in Frankreich begleitet hat. In ungewöhnlicher Du-Form, die sich von Suzanne an den Schüler Arsène richtet, nicht an den Leser, wird in einem Erzählstrang deutlich, unter welch dramatischen Umständen der Junge seine Flucht überlebt hat. Der Koffer war sein Halt, sein Trost, in der Fremde sein Übergangsobjekt. Ohne den Koffer würde es heute keinen Arsène in einer französischen Schulklasse geben. Er hat seine Geschichte noch nie erzählt; sie muss förmlich aus ihm heraus gesprudelt sein. Arsène scheint in seiner Geschichte und durch sie vom Kind zum Jugendlichen zu reifen. Sein Wachsen wirkt jedoch kaum wie ein glücklicher Prozess; denn die schrecklichen Ereignisse kann er erst jetzt realisieren.
In einem parallelen Erzählstrang berichtet (in abweichender Schrifttype) ein allwissender Erzähler von Suzanne, die in bürgerlichen Verhältnissen aufwuchs und vermutlich bis heute den Tod ihres Vaters nicht verarbeiten konnte. Als Leser könnte man auf die Idee kommen, dass Suzanne sich mit ihrem Schreiben und den Schreibaufgaben für ihre Schüler selbst therapiert. Etwas mehr professionelle Distanz hätte ich mir von einer Dozentin gewünscht, deren Schüler aus weniger behüteten Verhältnissen stammen als sie selbst.
Die sehr kurze Erzählung hat wenig mehr als 110 Seiten, wenn man den Leerraum beim häufigen Erzählerwechsel abzieht. Yasmine Ghata legt allerdings keinen Text vor, der sich schnell wegschmökern lässt. Die besondere Erzählform baut ihre Spannung auf, indem sie Arsènes Schicksal und seine Empfindungen in winzigen Etappen aus ihm hervorholt. Der Klappentext verrät leider vorher zu viel von dem, was sich Leser erst geduldig erarbeiten sollen.
Fazit
Zurück bleibt nach einem in ungewöhnlicher Form erzählten, berührenden Schicksal mein Entsetzen über einen sinnlosen Völkermord, Erleichterung, wie souverän die Adoptiveltern ihre schwere Aufgabe bewältigen, und Befremdung über den breiten Raum, den Suzannes vergleichsweise banales Schicksal in der Erzählung einnehmen darf.
8 von 10 Punkten