Torsten Schulz: Skandinavisches Viertel
Verlag: Klett-Cotta 2018. 265 Seiten
ISBN-10: 3608981373
ISBN-13: 978-3608981377. 20€
Verlagstext
Nach Jahren im Ausland kehrt Matthias Weber ins Skandinavische Viertel zurück. Schon als Zwölfjähriger kannte er jede Straße in diesem Teil Ostberlins an der Mauer. Heute stemmt er sich als selbsternannter Anti-Gentrifizierungs-Makler gegen eine Entwicklung, die er nicht aufhalten kann.
Das Skandinavische Viertel in Ostberlin kennt niemand so gut wie Matthias Weber. Als Kind unternimmt er hier in den siebziger Jahren Streifzüge, beflügelt von seiner reichen Phantasie, zugleich auf der Flucht vor inneren Dämonen. Vater, Onkel, Großmutter: nette Leute, und doch jeder auf seine Weise in Schuld verstrickt. Nur sehr langsam durchdringt der Junge das Geflecht aus Geheimnis und Verrat in seiner Familie. Jahre später kehrt Matthias in sein Revier zurück, das sich seit dem Fall der Mauer im Umbruch befindet. Er wird Wohnungsmakler, und da sich der umgängliche Grübler nicht zum Haifisch eignet, macht er es sich zur Aufgabe, Neureiche und Großkotze aus seinem Viertel fernzuhalten. Zwischen Geld und Moral, vergänglichen Amouren und existentieller Einsamkeit führt er einen letztlich aussichtslosen Kampf. Eine Geschichte um Verlust, Trauer und Wut, in der sich die Abgründe des eigenen Lebens offenbaren.
Der Autor
Torsten Schulz, geboren 1959 in Ostberlin, ist Autor preisgekrönter Spielfilme. Sein Debütroman »Boxhagener Platz« wurde in mehrere Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt. Torsten Schulz lebt bei Berlin.
Inhalt
Matthias Webers Streifzüge durch seinen Kiez enden im Ostberlin der 60er häufig vor den Stiefeln eines Grenzpostens; denn er wohnt im Skandinavischen Viertel in Sichtweite des Grenzübergangs Bornholmer Straße. Die Grenzer sind meist junge Männer aus der Provinz, die keine Ahnung haben was im Kopf eines Zwölfjährigen vor sich geht, der „Grenze kieken“ geht. Matthias fragt sich, welchen Sinn die Straßennamen haben und spinnt in Gedanken weiter, viel mehr Straßen skandinavische Namen zu geben. Vater Horst Weber reagiert gereizt auf das Lieblingsthema seines Sohnes, fragt sich, warum Bücher nicht gleich verboten werden über Länder, in die man aus der DDR sowieso nicht reisen darf. Das heikle Thema Skandinavien – Matthias kann das nicht ahnen – ist eng mit Horsts Bruder Winfried verknüpft, der sich als Arbeiter auf einer Zirkus-Tournee nach Finnland sinnlos betrunken hat. Seitdem ist die Grenze endgültig dicht für Winfried. Er lebt wieder bei seinen Eltern, ein Parasit, über den sein Bruder ungern spricht.
Der zwölfjährige Matthias wurde bisher bewahrt vor der Welt außerhalb seines kindlichen Kosmos. Die schwere Krankheit der Mutter wird ihm ebenso verheimlicht wie der KZ-Aufenthalt seines Großvaters noch nach 1945, als Deutschland theoretisch längst „befreit“ war. An dieser Unfähigkeit sich zu erinnern leidet das Land noch immer. Allein eine Andeutung hat sein Vater fallen lassen, dass Mattias vielleicht später beruflich ins westliche Ausland reisen dürfe, wenn er in der Schule immer fleißig wäre. Mattias vermisst noch nicht, was Richtung Westen hinter Mauer, Stacheldraht und scharfen Wachhunden liegt. Gescheiterte Träume vom Ausbruch, die Vater und Onkel träumten, erschließen sich ihm nur stückweise, wenn sich ein Erwachsener verplappert. In der Schule lernt Matthias, dass Sehnsüchte seines Vaters reaktionär seien.
Dem Thema Winfried begegnen wir nach der Wende auf einer zweiten Zeitebene wieder. Matthias arbeitet nach einigen Jahren im Ausland inzwischen als Makler in seinem alten Kiez. Die Wohnung seiner Großeltern hat er gekauft und lebt darin mit dem noch immer unberührten Zimmer von Winfried. Matthias schafft sich eine kleine gentrifizierungsfeindliche Nische, indem er Wohnungen an Käufer vermittelt, die sie seiner Meinung nach verdienen, gern an Alternative, nicht an Investoren. Die Vermittlungen laufen wie Handeln im Bazar, Käufer müssen den auf dieser Bühne gewünschten Text kennen und Mattias erzählt Legenden, von denen er annimmt, seine Kunden würden sie erwarten. Doch Spekulanten schlafen nicht und kennen den Text inzwischen auch.
Fazit
Ein Mann, der für seinen Kiez wie für eine Geliebte fühlt. Der Zugang zu Thorsten Schulz‘ Figuren fällt nicht leicht; denn er setzt einen Perspektivwechsel voraus in die Zeit der deutschen Teilung. Lesern, die die Mauer nicht mehr aus eigener Anschauung kennen, erleichtert Mattias konsequent kindliche Sichtweise den Wechsel in seine Welt nicht gerade. Lässt man die Handlung jedoch sacken, bleibt die Erinnerung an eine Geschichte von Verschweigen und Verrat, in der Horst Weber in den 60ern ein hohes Risiko eingeht mit dem, was er seinem zwölfjährigen Sohn von sich preisgibt.
8 von 10 Punkten