'Der begrabene Riese' - Seiten 165 - 260

  • Ja, es heißt Drachin. Und das sympathische Viech heißt Querig, habe es eben nachgeschlagen.


    Was ich mich immer frage, ist, wann denn der begrabene Riese mal wieder auftaucht und welche Rolle er, immerhin titelgebend, in dem Roman spielt. Ist er tot? Schläft er nur? Ist er ein Wiedergänger? Wer hat ihn begraben, geht das auch auf die Drachin zurück?


    Und dann dieser Gawain, dieser Ritter von der traurigen Gestalt mit der klapprigen alten Mähre, der rostzerfressenen Rüstung und einer unerfüllbaren Mission... Leider liegt meine Don-Quixote-Lektüre schon ewig zurück, sodass mir nicht recht klingeln mag, was Ishiguro mit diesen Parallelen sagen möchte. :gruebel :gruebel :gruebel

  • Wistan und Edwin hatten angefangen, sich als Brüder auszugeben, als sie über die von Soldaten bewachte Brücke ziehen wollten. Da sie diese Nummer auch später beibehalten haben, redet Edwin im Kloster von Wistan als "seinem Bruder".

    :nerv Stimmt, das hatt ich schon wieder vergessen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Wenigstens bei der Lektüre von Wikipedia macht es ein bisschen "klingeling" - aus dem Artikel zu Don Quijote:


    "(...) Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha ist eines der wichtigsten Bücher der Weltliteratur, insbesondere mit seiner Bedeutung im spanischsprachigen Raum. Die literarische Figur des Ritters Don Quijote ließ bald nach ihrem Erschaffen durch Cervantes, der wohl ursprünglich eine kurze, herbe Parodie auf die damals populären Rittergeschichten schreiben wollte, zahlreiche literarische Ideen entstehen. Doch nur vordergründig betrachtet ist Don Quijote eine solche Parodie. (...) Das zentrale Thema Cervantes' ist – wie bei seinem Zeitgenossen William Shakespeare – die Frage, was in unserer Umwelt Wirklichkeit oder Traum ist, also der Konflikt zwischen Realität und Ideal. Nach Cervantes könne weder den Sinnen noch den Worten vertraut werden, selbst Namen werden zweideutig. Auch die Leser sollen zweifeln, ob sie den Held als versponnenen Idealisten oder lächerlichen Narren einzuordnen haben. (...)"


    Bin sehr gespannt, wie es noch weitergeht mit unserem tapferen Tafelritter von der traurigen Gestalt. :grin


  • Und noch eine weitere Anspielung auf eine interessante Figur der Mythologie und Weltliteratur gibt es:

    An einer Stelle wird erwähnt, dass die garstigen Vögel dem armen gefesselten Pater Jonus die Leber zerfetzt hätten. Voilà, da haben wir: Prometheus, der die Menschen mehr liebte als die Götter und dafür von Zeus an einen Berg im Kaukasus geschmiedet wurde, wo ein Adler ihm immer wieder die Leber herausgefressen hat. :wow


    Das macht Ishiguro ja bestimmt nicht, weil er zeigen möchte, dass er ein paar Klassiker kennt... :gruebel Aber vielleicht suche ich auch zuviel Sinn in diesen Anspielungen und sie sollen einfach nur das sein: Anspielungen?

  • Ich finde, Gawain hat mit Don Quijote bestenfalls äußerliche Ähnlichkeit. Der Ritter von la Mancha war kein Ritter, er war im wörtlichen Sinne ver-rückt. Aus seiner Zeit, aus seiner Realität gefallen und lebte in seinen Heldengeschichten, die er ins Heute übertrug. Mochten sie passen oder nicht.

    Gawain war und ist ein Ritter und Krieger. Er lebt in der Welt, wie sie eben ist. Er ist - wie Axl - alt geworden und wird von Erinnerungen und wohl auch von seinem Gewissen geplagt.

    Wenn er eine traurige Gestalt abgibt, ist das tragisch und nicht im geringsten lächerlich.


    Über die Rolle der Mönche bin ich mir wirklich nicht sicher. Sie werden aber nicht bestraft, wie Prometheus, sie bestrafen sich selbst. Eine Art Buße. Wofür?

  • Ich finde, Gawain hat mit Don Quijote bestenfalls äußerliche Ähnlichkeit. Der Ritter von la Mancha war kein Ritter, er war im wörtlichen Sinne ver-rückt. Aus seiner Zeit, aus seiner Realität gefallen und lebte in seinen Heldengeschichten, die er ins Heute übertrug. Mochten sie passen oder nicht.

    Gawain war und ist ein Ritter und Krieger. Er lebt in der Welt, wie sie eben ist. Er ist - wie Axl - alt geworden und wird von Erinnerungen und wohl auch von seinem Gewissen geplagt.

    Wenn er eine traurige Gestalt abgibt, ist das tragisch und nicht im geringsten lächerlich.


    Über die Rolle der Mönche bin ich mir wirklich nicht sicher. Sie werden aber nicht bestraft, wie Prometheus, sie bestrafen sich selbst. Eine Art Buße. Wofür?


    Das sehe ich anders. Ishiguro hat Gawains Beschreibung dermaßen an Don Quijote angelehnt, dass das kein Zufall sein kann. Auch Gawain lebt in seinen alten Heldengeschichten. Und wer sagt denn, dass er wirklich ein Ritter ist, gar einer von Artus' Tafelrunde? Außer seinem eigenen Wort haben wir dafür keinen Beleg. Dass er lächerlich sei, habe ich nicht geschrieben!? :wow Ich finde ihn auch nicht lächerlich.

    Vielleicht sagt Gawain Axl nicht, wer Axl wirklich ist, weil auch Axl sich dann daran erinnern könnte, wer Gawain wirklich ist, nämlich evtl. auch nicht der, der er vorgibt zu sein...?


    Ging die Idee mit der "Selbstbestrafung" der Mönche nicht vom Abt aus? Auch hier glaube ich nicht, dass man in die Parallele zu Prometheus zuviel hineininterpretieren muss, aber es ist doch auffällig, dass die Vögel ausgerechnet Jonus' Leber zerfressen haben. Es hätte auch irgendetwas Anderes sein können, aber es ist die Leber. Auch hier glaube ich nicht an Zufall. Was auch immer Ishiguro nun damit sagen wollte.

  • Mich lässt das Buch etwas unschlüssig zurück. Es gefällt mir sehr. Aber auf der anderen Seite ist es gar nicht greifbar. Ich bleibe dabei das Märchen zu genießen, denn das ist es immer noch. Aber da ich es nicht so richtig greifen kann finde ich eine Diskussion schwierig.


    Vielleicht soviel: Die Ähnlichkeit zu Don Quichotte liegt meiner Meinung nach schon vor. Und zu Prometheus sicher auch aus meiner Sicht. Was das alles bedeutet ist wieder eine ganz andere Frage :help

  • Ich komme jetzt an den Punkt, dass meine Begeisterung für das Buch nachlässt.

    Ich fand diesen Teil im Kloster extrem langatmig. Wenn der Nebel des Vergessens gleichbedeutend damit ist, dass die Geschichte auf der Stelle tritt, hoffe ich, dass der Schleier sich im nächsten Abschnitt endlich lüftet.

    Die Geschichte ist hier extrem überladen mit Gawain, der verrückten, widerlichen Vögelfütterung, dem Drachen, dem Monster im Gang, Schädeln über Schädeln und gefesselten Mädchen. Ein bisschen weniger davon, wäre nach meinem Geschmack mehr gewesen.


    Ich finde das von Nadezhda geteilte Wikipedia-Zitat zu Don Quijote bzw. Cervantes "Irreführung/gewollte Verwirrung" seiner Leserinnen sehr passend.


    Ich hoffe, im nächsten Abschnitt geht endlich die Geschichte weiter.

  • Nein, Irreführung ist in dem Zusammenhang das falsche Wort. Ich glaube eher, die Überfrachtung mit Symbolik ist gewollt, die Verwirrung ist ja durch das Vergessen Teil der Figuren.


    Gawain wirkt auf mich übrigens nicht verrückt, sondern eher als ein Teil vergangener Zeiten, die unwiederbringlich sind. Er ist wie die Drachin, eine Art Wächter. Über seine - von mir vermutete - Verbindung zu ihr erfahre ich hoffentlich bald mehr, falls die Geschichte dann endlich nicht mehr auf der Stelle tritt.

  • Saiya Ich fand auch, dass die Geschichte an manchen Stellen vermeidbare Längen hatte (insbesondere die Ekelpassagen hätten auch nach meinem Geschmack gern deutlich kürzer ausfallen können). Aber keine Sorge, sie nimmt bald wieder Tempo auf!

    So etwas brauche ich auch nicht.

    Vielleicht will er uns ja auch mit den "Ekelpassagen" sagen.


    So fleißig wie wir hier in der Runde die vermeintliche Symbolik in allem suchen, so intensiv leben die Menschen im Buch diese aus. Und das ist nicht nur auf die heidnischen Sachsen beschränkt. Die christlichen Mönche pervertieren das regelrecht. <X

    Im Abschnitt davor gibt es eine Szene, in denen sich Beatrice, Axl und der britannische Alte über den Aberglauben der Sachsen lustig machen bzw. sie schauen auf sie herab. Eine Szene später glaubt Beatrice Gott sei wütend auf sie, müsse besänftigt werden und später denkt sie ein Dämon in der Ecke des Zimmers habe ihr die Krankheit geschickt.

    Die Christen sind da nicht besser.

  • Die Christen sind da nicht besser.

    Ich finde, dass hat Ishiguro gut herausgearbeitet. Auch die Grausamkeit der Mönche und die Einstellung und das zudecken der Schuld finde ich hier gut dargestellt.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Oje, in was ist unser Paar da nur hineingeraten! In dem Abschnitt wird es wirklich heftig!


    Ich hoffe, im nächsten Abschnitt geht endlich die Geschichte weiter.

    Ich glaube, DAS ist die Geschichte. Und Axl und Beatrice sind nicht die Hauptpersonen, sondern nur zufällig darin verwickelt.


    Überhaupt habe ich mir das jetzt alles (Text und eure Anmerkungen) den ganzen Tag lang durch den Kopf gehen lassen und - wen es interessiert - hier kommt meine (momentane) Interpretation:


    Irgendwas GANZ furchtbares ist in dem Land passiert. So furchtbar, dass es den Menschen nicht möglich wäre, (miteinander) weiterzuleben, wenn sie es nicht vergessen hätten.


    Dieses Vergessen geschieht durch den Atem der Drachin Querig. Sie wird von verschiedenen Personen geschützt, so von den Mönchen auf dem Berg (Gruppe des Abts), und trommelwirbel von Ritter Gawain.


    Gawain wirkt auf mich übrigens nicht verrückt, sondern eher als ein Teil vergangener Zeiten, die unwiederbringlich sind. Er ist wie die Drachin, eine Art Wächter. Über seine - von mir vermutete - Verbindung zu ihr erfahre ich hoffentlich bald mehr,

    Saiya vermutet ja auch eine Verbindung und ich würde sogar weitergehen und ihn als eine Art Beschützer der Drachin bezeichnen. Was gibt es besseres als die Tarnung, er wolle sie umbringen? So kann er völlig ohne Aufsehen die ganze Zeit den Wald bewachen und kriegt mit, falls sich Gefahr nähert. Stutzig gemacht hat mich, warum er sonst eiligst zu dem Abt reiten soll und ihm sagen, was er über Wistan weiß.


    Aber nicht alle Leute meinen, dass das Vergessen gut ist. So unter anderem Pater Jonus "Sondern dass wir Verborgenes aufdecken und der Vergangenheit ins Auge blicken müssen". Oder auch Wistan, der auch den Nebel des Vergessens lüften will, wobei mir seine Motive noch nicht klar sind.

    Rumpelstilzchen schrieb:

    Keinem kann man trauen, alle haben ihre eigenen Ziele und Absichten, selbst diejenigen, die Axl und Beatrice wohl freundlich gesinnt sind.

    Wie gesagt, meiner Meinung nach geht es nicht um die beiden, sondern sie sind nur der Aufhänger, um ganz was anderes zu erzählen. Deshalb treffen sie auch auf ganz unterschiedliche Leute, die ihre eigenen Ziele/Motive haben.


    Clare schrieb:


    Was ich seltsam finde, ist dass sich Axl an immer mehr zu erinnern scheint, obwohl, wie sie erfahren, das allgemeine Vergessen durch den Atem der Drachin kommt, die Gawain seit Jahren töten soll und Wistan töten will. und sie alles sich, nun im Kloster angekommen, der Drachin doch immer weiter nähern. Müsste das Vergessen dort nicht noch stärker sein?

    Nicht nur Axl erinnert sich in dem Abschnitt besser, auch alle anderen Personen erinnern sich ausgesprochen gut. Keiner vergisst hier irgendwas, weder Wistan, noch Edwin, noch die Mönche. Ich erkläre mir das so, dass sich der Atem der Drachin nicht auf die Umgebung bezieht, die sie schützt. Sonst würden ja auch die Mönche ihre Aufgabe (ihren Schutz) vergessen.


    Saiya schrieb:

    Mir gefällt sehr gut, dass es auf beiden Seiten Gut und Böse gibt.

    Was ist gut? Was ist böse? Oder: wer ist gut, wer böse? Kann man das hier überhaupt so trennen? Für mich gibt es nur zwei Meinungen in einer Streitfrage, was "besser" oder "schlechter" ist, ist wohl eine Einstellungsfrage.


    Überhaupt das Vergessen. Das "große Geheimnis" muss ja wirklich furchtbar sein, wenn sich die Mönche in der Hoffnung auf Vergebung zerfleischen lassen. Mir drängt sich die Frage auf, ob die Menschen nicht doch besser dran sind, wenn sie es nicht wissen. Das kann auch eine große Gnade sein! Bei allen Nachteilen, die es mit sich bringt.


    Will ich es (als Leser) überhaupt wissen? Wahrscheinlich schon, denn ich will ja die Hintergründe kennen. :grin Aber wenn es schon so schrecklich ist, wird es sicher auch zum Lesen nicht schön!


    Über die Rolle der Mönche bin ich mir wirklich nicht sicher. Sie werden aber nicht bestraft, wie Prometheus, sie bestrafen sich selbst. Eine Art Buße. Wofür?

    Für das "große Geheimnis". Interessant dabei auch die aufgeworfene Frage nach der Vergebung. Die Mönche glauben ja, dass ihnen vergeben wird, wenn sie büßen und bereuen, Wistan ist da anderer Meinung, er will Gerechtigkeit. In diesem Punkt bin ich wirklich neugierig, ob Ishiguro das nochmal aufgreift und auflöst.


    Mich würde mittlerweile auch sehr interessieren, was der Autor zu seinem Buch zu sagen hat. Es prickelt mir in den Fingern, google danach zu befragen, allerdings halte ich sie (noch) zurück. Schließlich will ich den Rest des Buches eigentlich noch unvoreingenommen lesen.


    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Was war das für eine seltsame Geschichte mit Edwin und dem gefesselten Mädchen? Ich gestehe, dass mir so manche Episode ein wenig rätselhaft geblieben ist.

    Das ist jetzt ganz ein anderes Thema, deshalb mal lieber extra. Auf diese Geschichte kann ich mir auch keinen Reim machen.


    Allerdings taucht ja bei Edwin ständig die Frage nach der Mutter auf. Und das Mädchen sagt einen - vielleicht wichtigen - Satz: jetzt bist du so alt, dass du deine Mutter retten kannst (oder es zumindest versuchen)! Und die Suche nach der Mutter ist ein ganz wichtiges Motiv bei Edwin. Ich nehme an, ihr ist beim "großen Geheimnis" etwas schreckliches zugestoßen!


    Den Gesang habe ich auf die Bisswunde zurückgeführt. Was er damit erreichen wollte, weiß ich allerdings auch nicht!

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Mich würde mittlerweile auch sehr interessieren, was der Autor zu seinem Buch zu sagen hat. Es prickelt mir in den Fingern, google danach zu befragen, allerdings halte ich sie (noch) zurück. Schließlich will ich den Rest des Buches eigentlich noch unvoreingenommen lesen.

    Das ist eine gute Entscheidung, denn es wird zu viel verraten und du würdest dir einen Teil der Lesefreude nehmen. :thumbup:

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Nein, ich meinte eher mehr ein Interviw. So wie du es beschreibst, könnte es schon passen. Aber NEIN, ich werde mich hüten, deinen Link jetzt anzuklicken. Schnell, schnell weg. :schnellweg:grin

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021