Michal Ksiazek: Straße 816. Eine Wanderung in Polen
Verlag: S. FISCHER 2018. 272 Seiten
ISBN-10: 3103973292
ISBN-13: 978-3103973297. 22€
Originaltitel: Droga 816
Übersetzerin: Renate Schmidgall
Verlagstext
»Straße 816« ist eine erstaunliche Reisereportage über den letzten Urwald im Osten Europas. Ein Buch zum Innehalten und Verweilen, eine poetische Wanderung der Sinne. An der Grenze zu Weißrussland und der Ukraine schlängelt sich die Straße 816 durch die unberührte Flusslandschaft des Bugs. Durch Michał Ksiᶏżeks Augen sehen wir eine erstaunliche Artenvielfalt, die woanders vor dem Aussterben bedroht ist, aber in der grünen Lunge Polens überleben kann – Insekten, Pflanzen und vor allem Vögel: Bluthänflinge, Erlenzeisige und die größte Eule der Welt, den Uhu, der fähig ist, eine Gans, einen Reiher oder gar einen kleinen Hund zu fangen. Die wenigen Menschen, die der Wanderer trifft, haben das Leben gesehen, sie tragen die Erinnerungen in sich, ob jung oder alt. Seit Jahrhunderten ist dies ein Grenzgebiet verschiedener Ethnien, Konfessionen und Kulturen. Katholische Polen, orthodoxe Ukrainer, deutsche Vernichtungslager, Sobibór lag gleich an der 816, und auch Treblinka war nicht weit weg. »Straße 816« ist ein fesselndes Buch, das die überwältigende Naturschönheiten mit dem Grauen der Geschichte zu verbinden vermag.
Der Autor
Michal Ksiazek, geb. 1978 in Oraczew/Polen, ist Kulturwissenschaftler, Ornithologe, er schreibt Reportagen und Gedichte. Sein Buch »Jakutien, Wörterbuch eines Ortes« (2013) war für den Gdynia-Preis nominiert, sein Gedichtband »Wissenschaft von den Vögeln« (2014) wurde mit dem Silesius-Preis für Lyrik ausgezeichnet, und für seine Reisereportage »Straße 816« (2015) erhielt er im September 2016 den Gdynia-Preis in der Kategorie Essayistik. Ksiazek lebt in Warschau und im Urwald von Bialowieza.
Inhalt
Der Bug entspringt in der Ukraine, fließt an der Grenze zu Weißrussland entlang, umkurvt Warschau, um in den Narew zu münden, der wiederum in die Weichsel fließt. In früheren Zeiten war der Bug Grenzfluss zwischen dem russischen Kaiserreich und dem Königreich Polen. Das Flusssystem verbindet die Ostsee und das Schwarze Meer und bildet u. a. die Ostgrenze der EU. Die Vernichtungslager Sobibór und Treblinka lagen in dieser geschichtsträchtigen Gegend; die Flussauen bieten Lebensräume für zahlreiche Tiere.
Der Wanderer, der hier unterwegs ist, unterscheidet sich von den üblichen Pilgern durch seinen aufmerksamen Blick für die Natur und weil er sich als Person völlig zurücknimmt. Michal Ksiazek ist Ornithologe und Lyriker und er engagiert sich für den Urwald von Bialowieza, der durch menschliche Begehrlichkeiten in Gefahr ist. Dort wo der Autor unterwegs ist, spricht er als Pole fremd, wirkt fremd und fühlt sich, als hätte er eine dunklere Hautfarbe. Sein Gefühl, „im Osten“, also östlich der polnisch-ukrainischen Grenze zu sein, ist urplötzlich da, vermischt sich mit dem Eindruck, dass Zimmerpreise an Grenzen stets höher sind als anderswo. Warum es wohl „im Osten“ einfacher ist, eine Unterkunft für eine Nacht zu finden als in der EU? An einer Grenze wurde schon immer geschmuggelt, auch am Bug werden Schmuggler-Anekdoten stolz weiter erzählt. Auch berichtet man, es gäbe hier riesige Uhus mit einer Spannweite lang wie ein Mann. Ksiazeks Blick für die Natur ist geschult, er sieht nicht einfach Mäuse, er kann unterschiedliche Spezies bestimmen und kennt jedes Gras, das im Überschwemmungsgebiet des Flusses wächst.
Die Geschichte von Krieg und Vertreibung wird vom Pflanzenwuchs auf Ruinengrundstücken erzählt (Huflattich liebt Brandstätten), von Massengräbern und von Dorf-Friedhöfen am Weg. Grabsteine tragen jüdische, deutsche und russische Namen, keine polnischen. „Die Anderen“ waren früher Ruthenen und Ukrainer, deren Gräber nachfolgende Bewohner zerstörten. Immer wieder trifft Ksiazek auf gleichgültiges Schulterzucken. Seine Gesprächspartner bestreiten, dass es hier je orthodoxe Christen gegeben hätte, weichen Fragen nach der Geschichte ihres Wohnortes aus. „Das waren die Deutschen, die Russen, die Schweden …“ Sie wären ja in dieser Generation erst hergezogen. Dass es an mancher Stelle vorher keine Straße, keinen Strom und kein Klo gab, ist heute schwer vorstellbar. Die Frage, warum an einer Stelle in einem Laubwald Kirschbäume wachsen, wird vermutlich unbeantwortet bleiben.
Schließlich erreicht der Wanderer die Bahngleise, die unter Besetzung der Nationalsozialisten nach Sobibór führten. Die Bewohner des ukrainisch-jüdischen Dorfes Sobibór wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion umgesiedelt. Dass damals Dörfer durchschnitten wurden und Felder plötzlich in einem anderen Land lagen, ist uns von der deutsch-deutschen Grenze vertraut. Ksiazek befürchtet allerdings, dass Europa von diesen Dingen keine Ahnung hat. Städte mit drei und mehr Religionsgemeinschaften waren hier nicht ungewöhnlich, der Wanderer trifft jedoch immer wieder auf Zeichen der Verdrängung von Juden und Orthodoxen, und wenn es nur in der dominierenden Form der Grabkreuze ist.
Michal Ksiazek erarbeitet sich sein Wanderrevier über die Sprache, über den gegenseitigen Einfluss der Kulturen. Ob jemand von hier oder von dort ist und wo die Menschen geblieben sind, die hier früher lebten, ist noch immer ein heikles Thema. Warum Menschen im Tod nicht alle gleich sind, konnte ihm niemand beantworten. So geht es am Ende des Weges für ihn zurück auf die Suche nach dem Weißrückenspecht, die Arbeit, für die er lebt und bezahlt wird.
Fazit
Ksiazek schreibt prägnante, kurze Absätze und hält sich als Person angenehm hinter der der Geschichte der Landschaft am Bug zurück. Gewünscht hätte ich mir eine Landkarte, auch wenn Europas östlicher Urwald sich bisher der Kartierung zu entziehen scheint.
9 von 10 Punkten