Carsten Jensen - Der erste Stein
Inhaltsangabe:
In einem Militärcamp in Afghanistan trifft ein Zug dänischer Soldaten ein. 27 Männer und die Soldatin Hannah haben sich unter Führung des charismatischen Rasmus Schrøder aus unterschiedlichsten Gründen hierher versetzen lassen. Alle sind hochmotiviert, hervorragend ausgebildet und abenteuerhungrig. Doch die Tage fließen monoton dahin. Nichts geschieht. In diesem Krieg, das verstehen sie bald, geht es nicht um Konfrontation, sondern um demonstrierte Präsenz. Als der Zug bei einer Patrouille zwei Männer durch eine Landmine verliert, beginnt eine Spirale der Gewalt, bei der schließlich keiner mehr weiß, was die Wahrheit und was gut und böse ist. Auf die Herausforderung, vor der sie jetzt stehen, hat sie kein militärisches Training vorbereiten können: Das eigene Überleben wird zu ihrer einzigen tödlichen Mission.
Meine Meinung:
Kriegsroman und Politthriller, die Kernaussage der Inhaltsangabe ist eigentlich das "wer ist gut und wer ist böse".
Das Buch ist in zwei große Abschnitte unterteilt. Abschnitt I befasst sich mit den Soldaten des 3. Zugs der dänischen Armee; Abschnitt II mit der Fortführung der Handlung aus Sicht des dänischen Geheimdienstes und eines Agenten in Afghanistan.
Im ersten Abschnitt lernt man den Alltag der Soldaten und die einzelnen Figuren recht gut kennen, am Anfang schrecken die vielen Namen, einige bleiben auf der Strecke was die Tiefe der Schilderung anbelangt, aber all die, die eine wie auch immer geartete Bedeutung in der Handlung einnehmen, werden einem näher gebracht. Alles beginnt mit einem nahezu monotonen, tristen Alltag im Kriegsgebiet, der punktuell von Situationen der größten Lebensgefahr abgelöst wird. Es endet in einem Verrat des 3. Zugs und einer undurchsichtigen Gesamtlage. Wer ist ein Warlord, wer ein Taliban, wer ein Bauer? Sind die Bündnisse von gestern auch die Bündnisse von heute? Schnell werden die Verbindungen in lokale Politik geknüpft, aber sind sie haltbar oder fragil?
In Teil Zwei wird dann das Gesamtgefüge noch größer. Wie viel Kontrolle hat die Armee über ihre "Subunternehmen", die in Afghanistan tätig sind? Wie viel wird bewusst oder geduldet getan? Wer hat welche Interessen?
Der Paukenschlag für den 3. Zug ist jedoch klar in Teil Eins im Verrat einer Person zu sehen, diese Situation markiert den Wendepunkt, den Beginn eines Wegs, den am Ende niemand mehr zurückgehen kann oder wird...weil Leben dabei beendet werden oder weil man das, was einen ausgemacht hat, verliert...
Das Buch würde ich in vier Worten mit "der Sog der Realität" beschreiben. Man hat das Gefühl, man schält sich durch die einzelnen Leben und Handlungsstränge und enthüllt mit jeder neuen Schicht etwas mehr...Loyalität, Verrat, Liebe, Freundschaft, Familie, Identität...all das spielt eine große Rolle abseits der geschilderten Handlungen, die in den Kriegsszenen mitunter barbarisch anmuten. Man hat das Gefühl, dass das, was man liest, haargenau so passieren könnte, man wird nicht geschont - weder in Absurdität noch in Brutalität.
Zugleich hat es das Buch geschafft, mir eine neue Sichtweise auf Afghanistan zu vermitteln. Man spürt dem Buch seine genaue Recherche an, die Handlung bleibt nicht dünn, obwohl viele Passagen durchaus Sachbuchcharakter haben könnten...daneben die oftmals ruppigen Dialoge, grausamen Szenen, berührenden Worte und grandiose Landschafts- und Naturbeschreibungen. Ein Mix, der mich so sehr noch in keinem Buch begeistert hat - und mir so auch noch in keinem Buch begegnet ist.
"Zum Dank vergewaltigte er ihr Herz und ihr Vertrauen in die Welt, dieses Vertrauen, das aufzubauen sie so viel gekostet hat." (S. 324)
Auch den Titel finde ich sehr passend gewählt, was sowohl das Gesamtgefüge auch insbesondere gerade den Verrat am 3. Zug betrifft.
Kurzum: Das Buch hat mich sehr beeindruckt, ist bewegend und beeindruckend...und ist Anwärter auf meinen Jahreshighlight-Posten. 10 Punkte.