Ein Gedicht wird übermalt

  • Anstatt in vorauseilendem Gehorsam gegen Kritik Kunstwerke vor den Augen der Öffentlichkeit zu verstecken, sollte man doch besser - wie es ja zunehmend geschieht - über historische Gegebenheiten informieren. problematische Aspekte aufzeigen und diskutieren. Davon verspreche ich mir möglicherweise Veränderungen.

    Leider ist von hier aus nicht ersichtlich, welche Diskussionen da tatsächlich stattgefunden haben. Ob das, was hier auf die Schnelle aus den Online-Medien heraus gesucht werden kann, wirklich ein umfassendes Bild der Streitigkeiten und Argumente der Befürworter und Gegner liefern kann, wage ich zu bezweifeln.

    Deshalb habe ich das Thema vielleicht nicht mit dem ihm gebührenden Ernst betrachtet.

    :blume

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • Die Sache mit dem Bild in Manchester habe ich heute in der Zeitung gelesen und auch mich macht sie sehr betroffen, auch wenn ich natürlich nur sehr oberflächlich beurteilen kann, was da eigentlich vor sich geht. Wobei ich durchaus der Meinung bin, dass auch Kunst nicht alles "darf" bzw. nicht alles "sollte", aber gerade Kunst aus einer anderen Zeit sollte in diesem Kontext betrachtet werden.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Kunst auszutilgen, weil sie nicht mehr zu den aktuell bestehenden gesellschaftlichen Ansichten passt, finde ich natürlich auch nicht richtig. Für mich ist Kunst, ganz besonders Malerei, absolut zeitlos und erhaben über alle Moden und Trends. Sie ist ein Fenster zur Geschichte, und vieles aus längst vergangenen Zeiten können wir uns nur bildlich vorstellen, weil irgend jemand das mal mit Pinsel oder Federkiel festgehalten oder aus Stein gehauen hat. Wir wüssten nicht, wie Napoleon ausgesehen hat, oder Sissi oder Heinrich XIII, oder längst zu Staub zerfallene Gebäude und Städte. Wir würden weder Plato noch Homer noch ägyptische Pharaonen kennen, wüssten nichts darüber, wie sich die Menschen des Mittelalters oder der Antike die Welt vorgestellt haben.


    Bilder und Dokumente sind Zeitzeugen, sie zeigen das Schöne genauso wie das Schreckliche, und ich glaube, in diesem Sinn sollte man sie vielleicht auch betrachten, und nicht als Objekte, die gerade nicht in irgendwelche kurzlebigen Trends passen. Insofern stimme ich zu.


    Über den Fall dieses wundervollen Bildes von John William Waterhouse, dessen Kunst ich sehr liebe und verehre, habe ich auch im Spiegel gelesen. Erst dachte ich auch "Huch? Was ist da los?" Aber dann kam in dem Artikel noch folgende Erklärung:


    "Kuratorin Clare Gannaway von der Manchester Art Gallery will eigenen Aussagen zufolge damit eine Debatte auslösen, wie solche Bilder in der heutigen Zeit gezeigt werden sollten. Zensurvorwürfe wies sie in einer Pressemitteilung am Donnerstag zurück.

    "Dieses Museum präsentiert den weiblichen Körper als entweder 'passiv-dekorativ' oder 'femme fatale'. Lasst uns diese viktorianische Fantasie herausfordern!", teilte sie mit. Das Abhängen sei Teil einer eigenständigen Kunstperformance in der vergangenen Woche gewesen und teilweise von den derzeitigen Debatten über Sexismus wie unter dem Schlagwort #MeToo, inspiriert gewesen.


    An der Stelle, an der das Gemälde hing, sollen Museumsbesucher jetzt ihre Diskussionsbeiträge auf kleinen Zetteln an die Wand pinnen. Auch im Internet kann man sich zu der Aktion äußern. Die überwiegende Anzahl der Kommentare auf der Webseite des öffentlichen Museums war kritisch ..."

    (Quelle: Spiegel Online)



    Es geht also offenbar gar nicht um Zensur, und darum, Kunst zu vernichten oder zu verstecken, oder ein paar nackte Brüste aus dem Museum zu entfernen, sondern es soll eine Diskussion angestoßen werden und jeder darf frei seine Meinung dazu äußern, was ich an sich schon für eine gute Sache halte. In meinen Augen ist es nichts schlechtes, über diese Dinge und althergebrachte Positionen eine öffentliche Diskussion zu führen, und ich glaube nicht, dass es der Kunst schadet, im Gegenteil. Wenn ich es richtig verstanden habe, soll das Bild auch nicht dauerhaft entfernt werden.



    Zitat

    Mal abgesehen von der in diesem Beispiel vollkommen absurden Annahme der „Bewunderer“ hätte irgendwelche sexuellen Hintergedanken beim Bewundern – eine Interpretation, die ich persönlich äußerst fragwürdig finde und die in meinen Augen mehr über die Betrachter aussagt als das Gedicht über irgendeinen Typen, der rumsteht und bewundert –


    Hierzu möchte ich noch etwas sagen, weil ich diese Annahme inzwischen ganz und gar nicht mehr absurd finde.


    Als ich zum ersten Mal über diesen Fall gelesen habe, schon länger her, dachte ich zuerst auch, dass da viel Lärm um Nichts gemacht wird. Ich habe die ganze Aufregung nicht verstanden und fand das Gedicht auch eher nichtssagend. Es wirkt harmlos, arglos, und wahrscheinlich ist es das auch. Ich glaube dem Autor und der Uni, dass sie mit dem Gedicht nichts Böses im Sinn hatten und niemanden verletzen oder diskriminieren wollten. Aber je öfter ich die Worte lese und je mehr ich mich mit dem Hintergrund des Streits und der Kritik an dem Gedicht befasse, desto mehr kann ich nachvollziehen, dass einige sich dadurch tatsächlich getroffen fühlen. Nicht wegen dem Inhalt allein, sondern wegen dem Ort, an dem er zu lesen ist.


    "Avenidas y flores y mujeres y un admirador" heißt es da. Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer. Vor meinem geistigen Auge entsteht da das Bild einer südländischen Prachtstraße, auf einem Bänkchen in der Abendsonne sitzt ein Mann, der wohlwollend die vorbeiflanierenden Damen begutachtet. Vielleicht das eine oder andere Kompliment macht. Oder auch mal einem kurzen Rock hinterher pfeift. Ein Bewunderer eben. So könnte das aussehen. Harmlos. An dem Ort, an dem die Fassadenmalerei prangt, sieht es aber offenbar anders aus.


    Die Hausfassade, auf der dieses Gedicht zu sehen ist, gehört zu einem Gebäude der Hochschule mitten in Berlin und man kommt wohl daran vorbei, wenn man vom Schulgebäude zur U-Bahn muss. Das habe ich im Zuge dieser Berichterstattung gelesen, ich selbst kenne die Örtlichkeiten dort aber nicht und kann jetzt nur von diesen Infos ausgehen, die zu lesen waren. Es hieß da jedenfalls, dass es vor allem abends und nachts für Frauen nicht ungefährlich ist, da langzulaufen. Offenbar wird an dieser U-Bahn-Station gerne mal herumgelungert und es kommt dort auch häufig zu Belästigungen und sexuellen Übergriffen. Also kein Ort, wo sich eine Frau gern aufhalten würde.


    Also, bisschen Kopfkino: man stelle sich vor, eine junge Frau muss da abends nach der Uni zur U-Bahn laufen, und ein paar dort abhängende "Bewunderer" sitzen in der Abendsonne auf ihren Bänkchen. Oder auf Mäuerchen. Und vielleicht ist es auch schon dunkel. Und vielleicht ist das auch mehr als einer. Sie bringen also ihre Bewunderung zum Ausdruck. Reißen die typischen Sprüche, es wird nachgepfiffen, ein bisschen "Hey, Babe, was geht?". Und manchmal wird dann eben auch eine Grenze überschritten und die Frau wird vielleicht direkt körperlich angegangen, und dann ein bisschen begrapscht und es läuft auf dem Ruder und sie wird in eine düstere Ecke gezerrt oder gar Schlimmeres, je nach Alkoholisierungs- , Zusammenrottungs- und Aggressionsgrad.


    Wenn ich in so einer Situation das Gedicht über diesen "Bewunderer" an einer Hausfassade direkt über meiner Nase lesen müsste, mir würde es tatsächlich wie der blanke Hohn vorkommen. So als wolle mir jemand sagen: He, hab dich nicht so, das bisschen Grapschen, die kleine Vergewaltigung da, alles nicht so schlimm, nicht der Rede wert, ist ja nur harmlose Bewunderung. So würde ich das wohl sehen. Ich kann mir schon vorstellen, dass Frauen, die an der Stelle dort tatsächlich in Bedrängnis geraten sind oder Angst vor den Männern haben, die dort herumhängen, sich dadurch verspottet fühlen und das Gedicht als Verhöhnung oder als Provokation empfinden.


    Das Gedicht war bestimmt nicht so gemeint, aber ich finde es durchaus verständlich, dass es an diesem Ort eine andere Wirkung entfaltet, als vom Autor vorgesehen. Und ich glaube, darum geht es den Betroffenen, die gebeten haben, den Spruch zu entfernen. Nicht darum, ein Kunstwerk zu zensieren.

  • :knuddel1 Vielen Dank, Bücherdrache, für Deine einfühlsame Darstellung. So betrachtet sieht das Thema natürlich ganz anders aus.

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  • Mich wundert nur, dass das kaum in dieser ganzen Berichterstattung aufgetaucht ist. Ich habe das in diesem ganzen unübersichtlichen Artikel-Wust auch nur zweimal gelesen. Einmal war was im Spiegel, meine ich, das suche ich gerade, finde es aber nicht. Ich weiß nicht, ob Medien solche Details vielleicht absichtlich zurückhalten, um diese ganze Debatte zu befeuern und am Köcheln zu halten? So ein Sturm der Entrüstung bringt wahrscheinlich mehr Klicks oder so :rolleyes

  • Ja, natürlich!

    Die Schlagzeile "Zensur in Deutschland!" wirkt freilich besser als "Frauen fürchten sich" :rolleyes

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  • Bücherdrache, deine Beschreibung ist eine mögliche Beschreibung und zeigt sehr deutlich, wie man das Gedicht auch verstehen kann.

    Wir können aber auch nicht in den Kopf des Bewunderers schauen. Vielleicht sieht der Fall ganz anders aus - wir wissen es eben nicht.


    Mir war klar, dass in der Art Gallery das Bild nicht einfach abgehängt worden ist, sondern dort tatsächlich der Anstoß zu einem Nachdenken über die Thematik gegeben wurde. Dieses Nachdenken halte ich für richtig und wichtig. Ich möchte aber weiterhin auch den "Stein des Anstoßes" sehen, lesen, erleben können.

    Mir ein eigenes Bild machen und selber Ideen entwickeln, auf welche Weise ich als heute lebende Frau mit Körperlichkeit umgehen möchte. Ob und wie ich Gewalt gegen Menschen in jeder Form thematisiert sehen, lesen oder hören möchte.


    Was mich aber am meisten stört ist, dass hier ein Thema auf Nebenschauplätze abgedrängt wird. Nämlich in den Kunstbereich. Da tut es ja nicht weiter weh.

    Wenn dagegen die Darstellung von Menschen (übrigens auch Männern) als Sexualobjekte, die Verherrlichung von Waffen und Gewalt in der Werbung und öffentlichen Leben allgemein konkret angegangen werden soll, ist erstmal die Betroffenheit groß und die praktische Umsetzung unendlich schwierig.


    Ganz von der Unmöglichkeit zu schweigen, etwas gegen die Ursachen dieser Entwicklung zu tun. Diese sind vielfältig und eine davon ist die ständige und vollständige Verfügbarkeit des Menschen zum Zwecke ders Geldverdienens.

  • Das ist ein interessanter Gedanke.


    Frauen wollen etwas anderes, weniger dunkle Ecken, ÖPNV, der öfter fährt, einen Pförtner an der Hochschule oder was auch immer. Wenn die ASTen das formulieren würden, könnte vermutlich jeder den Hintergrund erkennen.

  • Bücherdrache, deine Beschreibung ist eine mögliche Beschreibung und zeigt sehr deutlich, wie man das Gedicht auch verstehen kann.

    Wir können aber auch nicht in den Kopf des Bewunderers schauen. Vielleicht sieht der Fall ganz anders aus - wir wissen es eben nicht.

    Ich hatte ja geschrieben "Vor meinem geistigen Auge...", das Bild ist das, was ich selbst mir bei diesen Worten vorstellen würde. Ein anderer Leser mag da selbstverständlich etwas anderes sehen, und der Autor sieht vielleicht wieder etwas völlig anderes. Für Kunst, Lyrik, Malerei gibt es ja tausenderlei Betrachtungs- und Auslegungsweisen.


    Mir ging es auch gar nicht um eine allgemeine Interpretation des Gedichts, sondern nur darum, wie es eben an diesem einen Ort mit dem ganzen für Frauen nicht ungefährlichen Drumherum wirken kann, obwohl es an anderer Stelle womöglich völlig harmlos daherkommen würde. Diesen Unterschied in der Wirkung wollte ich deutlich machen.


    Und nachdem die öffentliche Meinung und auch die Meinungen hier im Thread sich so in eine Richtung verbissen haben, wollte ich auch einfach eine weitere Sichtweise und eine Gegenmeinung einbringen. Es liegt mir fern, irgend jemandem meine Ansichten aufzunötigen, ich möchte nur erreichen, dass man den Fall etwas differenzierter betrachtet :)