Karan Mahajan: In Gesellschaft kleiner Bomben

  • Die Welt davor und die danach


    Auf einem Markt in der indischen Stadt Delhi explodiert im Jahr 1996 eine Bombe. Es handelt sich um einen terroristischen Anschlag, bei dem dreizehn Menschen sterben und einige Dutzend verletzt werden. Der Terror richtet sich gegen die Regierungspartei BJP, gegen das Sozialwesen, gegen die Unterdrückung der Muslime, gegen Dreck, Misswirtschaft und Ungerechtigkeit, gegen die politischen Verhältnisse eben, aber das Warum spielt letztlich nur eine untergeordnete Rolle. Es ist ein Anschlag von vielen, die es bereits vorher gab, und einigen weiteren, die noch folgen werden: Attentate mit überschaubarer Opferzahl, verhältnismäßig unspektakulär im Vergleich, und arm an politischer Wirkung, dazu kaum wahrgenommen außerhalb Indiens. Die meisten Menschen gehen schnell wieder zum Alltag über. In Delhi, der Mammutstadt, von der Neu-Delhi, die Hauptstadt Indiens, nur ein Teil ist, leben zu dieser Zeit über acht Millionen Menschen, heute sind es weit mehr als dreizehn Millionen, fast zwanzig Millionen im gesamten Ballungsraum.


    Doch es gibt natürlich viele Menschen, für die nach einem solchen Anschlag nichts mehr wie vorher ist. Das hinduistische Ehepaar Khurana verliert beide Söhne, zwölf und dreizehn Jahre alte Jungs, die zusammen mit ihrem muslimischen Freund Mansoor auf dem Markt waren. Die Ehe der Khuranas erodiert anschließend, die Trauer um den Verlust und die vermeintlich eigene Mitschuld am Tod der Kinder treibt den Dokumentarfilmer Vikas an den Rand der Selbstzersetzung, und auch Deepa, die Frau und Mutter, leidet unaufhörlich, sucht Orientierung, Schutz und Trost außerhalb der Beziehung. Es wird nicht besser, als sie erneut ein Kind bekommen, doch als sie sich der Opferarbeit zuwenden, wird ein schmaler Lichtstreif am Horizont erkennbar - möglicherweise jedoch ein trügerischer. Mansoor, der Freund der Söhne, überlebt das Attentat leicht verletzt. Auch seine Welt ist ab sofort eine andere. Während er zunächst eine etwas absurde, aber schnell vorübergehende Prominenz genießt, muss er bald erleben, wie er selbst zum immerfort Verdächtigen wird, einfach dadurch, dass er Muslim ist, vor allem in Amerika, wo er rund um 9/11 für ein paar Monate zu studieren versucht, während seine Verletzungssymptome zurückkehren. Er kehrt schmerzgeplagt nach Indien zurück und vertieft seinen bis dahin eher flachen Glauben, aber was er nicht ahnt, ist die Tatsache, dass er dem Terror unfreiwillig immer näher kommt.


    Denn es geht in diesem äußerst bemerkenswerten Roman um alle Perspektiven, so verstörend das auch klingt und zunächst anmutet. Karan Mahajan stellt zwar die Opfer und ihre vor dem Hintergrund des Weltgeschehens rasch verblassenden Schicksale ins Zentrum seiner Geschichte, aber er erzählt auch von den Tätern - und von dem Prozess, der heutzutage fast verniedlichend "Radikalisierung" genannt wird, obwohl es eigentlich "nur" um den Punkt geht, um die Schwelle: Die Bereitschaft, zur Durchsetzung der eigenen Ziele anderen gegenüber Gewalt anzuwenden, ganz gleich, ob sie nun verantwortlich sind oder nicht, ob es sich um Gegner handelt oder nur mittelbar Betroffene, also Kollateralschäden. Man ist bereit, für die eigene Überzeugung zu morden. Wenn diese Entscheidung getroffen ist, wird sie zum Teil der eigenen Persönlichkeit und muss nicht mehr fortwährend gerechtfertigt werden.


    Eine schwierige Aufgabe, das ohne Pathos und unter Verzicht auf Klischees zu zeigen, die der Autor aber auf faszinierende Weise löst. Ob es nun um den legendären Bombenbauer Shockie geht, der über den Roman hinweg altert, oder um den jungen, energischen Ayub, der sich mit Mansoor anfreundet und diesen schließlich ausnutzt, zum Dreh- und Angelpunkt für weitere Attentate zu machen versucht. Sie sind alle dennoch irgendwie normal, auf ihre Art, also keine getriebenen Tiere, die instinktiv nicht anders können, sondern Leute, die sich für einen Weg entschieden haben und diesen nun gehen, aus ganz unterschiedlichen Motiven, und nicht nur extrem egoistischen. Es wird zwar nicht unbedingt emotional oder intellektuell nachvollziehbar, aber sehr anschaulich, wie Mahajan das zeigt, wie er diesen durch die "kleinen" Bomben verbundenen Mikrokosmos skizziert, das Wechselspiel innerhalb einer Teilgesellschaft, deren unfreiwillige Verbundenheit auch irgendwie für Probleme der Globalisierung steht, ohne diese dafür verantwortlich zu machen; das wäre auch zu simpel. Aber "In Gesellschaft kleiner Bomben" ist kein intellektualisierend-politischer Roman, jedenfalls nicht vordergründig, sondern erzählt eben auch und vor allem den Teil der Geschichte, der beim Opferzählen in den Nachrichtensendungen gerne unter den Tisch gekehrt wird. Er tut das vortrefflich und sehr warmherzig, findet ganz wunderbare Worte, geht äußerst behutsam mit seinen Figuren um, von denen keine einfach nur gut oder nur schlecht ist - und veranschaulicht wie nebenbei das Chaos in diesem gewaltigen Land an der Schwelle zur hochtechnisierten Industrienation, die im Inneren immer noch gegen die Reste des Kastensystems, überkommende Rollenbilder und das Erbe der Kolonialzeit, gegen religiöse Vorurteile, anachronistische Rituale und irritierende Traditionen anzukämpfen hat. Und gegen Korruption, Polizeigewalt, Umweltverschmutzung und Überbevölkerung. Ein Land, dessen Menschen auch nur den hier wie dort immer gleichen Wunsch nach einem besseren, glücklicheren Leben haben.


    Ein großartiges, gleichsam funkelndes, ungeheuer originelles und sehr, sehr gut gemachtes Buch, das viel Stoff für Gespräche liefert, auch mit sich selbst, und das eine Gesellschaft zeigt, die von unserer längst nicht so weit entfernt ist, wie viele von uns glauben. Eine spannende, ergreifende, mutige und, ja, wichtige Lektüre, toll übersetzt von Zoë Beck.


    (10/10)


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