Ingrid Zellner: Der Weg aus der Finsternis. Band II der Kashmir-Saga, Hamburg 2017, Tredition GmbH, ISBN 978-3-7439-6471-9, Softcover, 373 Seiten, Format: 17 x 2 x 24,4 cm, Buch: EUR 14,99, Kindle Edition: EUR 3,99.
„Jeder Heilige hat eine Vergangenheit, und jeder Sünder hat eine Zukunft.“ (Seite 360)
Im zweiten Teil der Kashmir-Saga des Autorinnenduos Simone Dorra und Ingrid Zellner spielt nur die Rahmenhandlung in Kashmir: Ein Unbekannter hilft dem Helden aus Band 1, dem Waisenhausleiter Vikram Sandeep, bei einer Reifenpanne. Weil der Fremde einen ehrlichen und sympathischen Eindruck macht und kein Quartier hat, nimmt Vikram ihn mit nach Hause und bietet ihm sein Gästezimmer an. Der Fremde, der sich als Raja Sharma aus Pune im Bundesstaat Maharashtra vorstellt, erzählt nach und nach seine Lebensgeschichte. Und er ist ein mindestens so harter Brocken wie der Ex-Geheimdienstler Vikram.
Der freundliche Helfer erzählt seine Geschichte
Fast könnte man meinen, man habe hier einen indischen Hiob vor sich. Kaum läuft’s mal einigermaßen passabel für Raja Sharma, schon gibt’s vom Schicksal wieder voll eine auf die Zwölf. Rajas Kindheit mit dem gewalttätigen Vater ist derart besch…eiden, dass es tatsächlich eine Verbesserung darstellt, dass er mit 18 zur Vollwaise wird und für sich und seinen um zwei Jahre jüngeren Bruder Anil sorgen muss. Jeder der Brüder findet eine nette Freundin, und alles könnte wunderbar sein – doch dann erwischt man Raja, wie er bei einem Fest im Drogenrausch Reena Malhotra, die Freundin seines Bruders, ersticht. Es gibt Augenzeugen. Raja selbst hat keine Erinnerung an den Vorfall. Filmriss. Aber wenn alle sagen, dass es so war, dann wird es wohl so gewesen sein.
25 Jahre lang sitzt er für die Tat im Yerawada Central Jail ein. Sein Bruder Anil will verständlicherweise nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Raja versucht, im Gefängnis seinem Leben einen Sinn zu geben, in dem er für viele Gefangene zu einer Art Ersatzvater wird. Er steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite und sorgt dafür, dass sie wenigstens ein Mindestmaß an Bildung bekommen. Manch einen führt er so auf den Pfad der Tugend zurück. Bei Taxifahrer und Ex-Drogendealer Vishal Nath funktioniert das zum Beispiel recht nachhaltig.
Neustart nach 25 Jahren Knast
Als Raja nach Verbüßung seiner Haft entlassen wird, ist sein Bruder Anil weggezogen. Er ist mit Rajas damaliger Freundin Sita verheiratet und hat zwei mittlerweile erwachsene Kinder mit ihr. Dass ihr Ex im Gefängnis war/ist, weiß Sita nicht. Sie hat von dem Mordfall nichts mitbekommen, weil sie zu der Zeit bei Verwandten auf dem Land gelebt hat. Anil hat ihr erfolgreich weisgemacht, dass sein Bruder ihre Rückkehr nach Pune nicht abwarten wollte und sie verlassen hat. Dass alles ganz anders war, erfährt Sita erst, als Raja seine Angehörigen ausfindig macht und eines Abends plötzlich vor der Tür steht.
Anil wirft seinen Bruder hinaus. Dass zwischen Raja und Sita auch nach all den Jahren noch eine starke Anziehung besteht, ist nicht zu leugnen.
Raja kommt bei seinem Knastkumpel Vishal Nath unter und wird Taxifahrer. Vishal weiß mehr über den Mord an Reena Malhotra als er je zu erkennen gegeben hat. Irgendwann rückt er mit der Sprache heraus. Nicht Raja hat die junge Frau vergewaltigt und erstochen, sondern zwei Unterweltgrößen. Davon ist Vishal fest überzeugt. Den Mord haben die wahren Täter dann dem völlig zugedröhnten Raja in die Schuhe geschoben, der einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Raja ist wie elektrisiert. Ist das möglich? Hat er die Tat, die er zweieinhalb Jahrzehnte bitter bereut hat, überhaupt nicht begangen? Er versucht, mit Hilfe eines Anwalts ein Wiederaufnahmeverfahren in die Wege zu leiten und nähert sich auch seiner Familie wieder ein wenig an. Doch natürlich haben die Herren, die nun des Mordes an Reena bezichtigt werden, kein Interesse daran, nach all den Jahren noch zur Verantwortung gezogen zu werden. Ausgerechnet bei einem Urlaub in Goa läuft die Familie Sharma in eine Falle – und hat nochmal Glück im Unglück. Doch ihr Triumph über die Ganoven ist nur von kurzer Dauer. So schnell geben diese Leute nicht auf.
Auf jeden Glücksmoment folgt eine Katastrophe
Es scheint ein unumstößliches Gesetz zu sein: Auf jeden Glücksmoment folgt für Raja unweigerlich eine Katastrophe: Ein Angehöriger findet die große Liebe? Dann hat einer der Partner einen dunklen Punkt in der Vergangenheit, die Familie ist dagegen oder man muss sich Sorgen um das gemeinsame Kind machen. Die Sharmas kommen unerwartet zu etwas Wohlstand? Krankheit und ein tragischer Todesfall folgen auf dem Fuße. Und der Leser stellt sich die bange Frage, was der arme Kerl denn noch alles erleiden muss.
Raja Sharma scheint dazu verdammt zu sein, nie auf einen grünen Zweig zu kommen und nie die Liebe zu seiner Sita leben zu können. Für alle Bedürftigen in seinem Umfeld ist er stets der segensreiche Vaterersatz, aber eine eigene Familie scheint ihm nicht vergönnt zu sein. Dabei bleibt er, bei aller Emotionalität, die er manchmal an den Tag legt, bewundernswert gelassen. Er scheint sich an die ständigen Nackenschläge schon gewöhnt zu haben. Vielleicht hat er einfach nur so unsagbare Dinge gesehen und erlebt, dass ihn nichts, was noch des Weges kommt, wirklich umhauen kann. Was immer ihm zustößt, er wird lernen, damit zu leben. Auf die Unberechenbarkeit des Lebens und die Schlechtigkeit der Menschen ist Verlass. Auf Rajas Resilienz auch. Aber irgendwie unfair ist es ja schon …
Werden die Katastrophen denn niemals ein Ende nehmen? Wird Raja jemals seinen Frieden finden? Oder wird immer irgendwo ein alter Feind lauern und ihm und den Seinen nach dem Leben trachten?
Zwei Freunde mit bewegter Vergangenheit
Vikram Sandeep, der Waisenhausleiter aus Kashmir und Raja Sharma aus Maharashtra trennen sich als Freunde und wir können davon ausgehen, dass sie künftig gemeinsame Abenteuer erleben werden. Das kann ja spannend werden, wenn der Ex-Geheimdienstler und der Ex-Knacki immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt werden!
Es ist schon sehr heftig, was dem armen Helden hier alles widerfährt und wie viele Feinde sich gegen ihn verbünden. Er ist aber auch in Kreise geraten, in denen ein Menschenleben nicht viel wert ist. Dass selbst bei Polizei und Gericht Korruption an der Tagesordnung ist, damit rechnet man als europäischer Leser nicht unbedingt. Das hat aber seine Gründe, wie uns die Autorin plausibel erklärt.
Überrascht hat mich, wie emotional die Männer in diesem Roman oft agieren. Damit meine ich jetzt nicht die gelegentlichen Ausbrüche von Jähzorn, sondern den offenen Umgang mit Gefühlen wie Zuneigung und Verzweiflung. Ist das ein Kulturding oder sind nur die Sharma-Jungs so drauf? Wer von daheim nur Dialoge nach dem Muster „Is‘ irgendwas?“ – „Nö“, kennt, der braucht ein Weilchen, um sich daran zu gewöhnen.
Die Autorin muss eine Menge recherchiert haben oder sich von Haus aus in der Kultur Indiens sehr gut auskennen. Man erfährt ganz nebenbei eine Menge Interessantes über Land und Leute. In die Dialoge sind zahlreiche Begriffe auf Hindi, Englisch und vereinzelt auch Arabisch eingestreut. Vieles, wie zum Beispiel Anreden oder Verwandtschaftsbezeichnungen, erklären sich aus dem Zusammenhang, aber es gibt auch ein ausführliches Glossar.
Und jetzt bin ich gespannt, wie Vikram und Raja in Zukunft zusammenarbeiten werden. Sie haben beide viel durchgemacht und verschweigen mehr über ihre Vergangenheit als sie ihren Angehörigen zu erzählen wagen. Sind sehr integer aber können durchaus unangenehm werden, wenn die Lage es erfordert. Vikram scheint mir der Verschlossenere von beiden zu sein. Wir werden im dritten Band ja sehen, wie er mit Rajas Offenheit umgeht.
Die Autorin
Ingrid Zellner, geboren 1962 in Dachau. Studium der Theaterwissenschaft, der Neueren deutschen Literatur und der Geschichte in München. 1988 Magisterexamen. Dramaturgin 1990 bis 1994 am Stadttheater Hildesheim und 1996 bis 2008 an der Bayerischen Staatsoper München. Veröffentlichung von Romanen, Krimis, einem Kinderbuch, Kurzgeschichten, Theaterstücken, CD-Booklet-Texten und Artikeln. Freiberufliche Tätigkeit u.a. als Übersetzerin (Schwedisch) sowie als Schauspielerin, Regisseurin und Autorin.
http://www.facebook.com/ZellnerIngrid