Francis Spufford: Neu-York

  • Großartig


    Im Spätherbst des Jahres 1746 betritt ein soeben aus Großbritannien mit dem Schiff eingetroffener Reisender das Eiland namens "Manahatta" und eilt umgehend zu den Büros der Lovells, der angesehenen und einflussreichen New Yorker Händlerfamilie. Richard Smith, so der Name des 24 Jahre jungen Neuankömmlings, legt einen in London ausgestellten Wechsel vor, nach dem ihm Lovell eintausend Pfund auszahlen müsste, eine unfassbar große Summe zu jener Zeit, in der es im kleinen New York ohnehin so gut wie kein Bargeld gab - und wenn, dann zerfleddertes Papiergeld zweifelhafter Herkunft (etwa Rhode Island). Doch Smith wird für einen Betrüger gehalten, man glaubt nicht an die Echtheit des Wechsels, dessen Einlösung die Lovells außerdem an den Rand des Ruins führen könnte. Bis die bestätigenden Dokumente vorliegen, die auf zwei anderen Schiffen unterwegs sind, wird die Auszahlung zurückgehalten. Smith allerdings hat etwas Gold dabei, um die Wartezeit zu überbrücken. Was er mit dem vielen Geld vorhat, wo er herkommt, was das alles bedeuten soll, das erfährt auch der Leser des Romans vorerst nicht.

    Zu jener Zeit lebten sage und schreibe 7.000 Menschen in der Stadt, die heute zu den größten und quirligsten des amerikanischen Kontinents gehört. Britische Royalisten und vor allem holländischstämmige Freunde der amerikanischen Unabhängigkeit bekämpften sich subtil und überwiegend auf der politischen Ebene, als Feinde galten für beide Gruppen jedoch vor allem die Franzosen, deren Skalps, von befreundeten Indianern akquiriert, gut sichtbar neben dem Rathaus aufgehängt wurden. Der Sezessionskrieg und damit die Sklavenbefreiung lagen noch hundert Jahre in der Zukunft. Durch die Straßen flossen Kot und Urin der Einwohner, es gab keine Theater, dafür aber mehrere Gefängnisse - und selbst Mordprozesse galten als zu lang, wenn sie mehr als zehn Minuten in Anspruch nahmen.


    Smith ist redegewandt und geschickt im Umgang mit anderen Menschen. Er gilt schnell als der märchenhaft reiche, mysteriöse Fremde, aber er findet auch Freunde, etwa Septimus, den Assistenten des Gouverneurs, der ihm sogar das Leben rettet. Smith erfährt kurz darauf zufällig von der Homosexualität des Freundes, was seinerzeit noch als "Sodomie" bezeichnet wurde (und auch heute noch in nicht wenigen Ländern so genannt wird). Die Freundschaft steht allerdings ohnehin unter keinem guten Stern. Als Smith überfallen und seines Bargelds beraut wird, droht seine Situation, immer schwieriger zu werden - er landet sogar vorübergehend im Kerker. Und auch emotional läuft es nicht eben gut: Die hübsche, aber halsstarrige, zynische und eigenbrötlerische Lovell-Tochter Tabitha, in die sich Smith verguckt hat, begegnet seinen Avancen eher ablehnend. Bleibt noch das Laientheater, für das ihn Septimus verpflichtet hat, eine angenehme Abwechslung eigentlich, doch ausgerechnet von dort droht schließlich das größte Ungemach.


    Bei diesem etwas unglücklich betitelten Buch (der Originaltitel "Golden Hill" ist allerdings auch nicht viel besser) weiß man als Leser lange nicht, was man zu erwarten hat, worum es im Kern bei der Geschichte geht. Tatsächlich wird das entscheidende, schlüssige, aber dennoch sehr überraschende Geheimnis erst ganz am Ende gelüftet, aber der Weg dorthin macht verblüffend großen Spaß, trotz der auf Antiquität getrimmten und manchmal etwas manirierten Sprache: Francis Spufford muss vom vielen Augenzwinkern beim Schreiben noch monatelang nach Abgabe des Manuskripts einen Stirnmuskelkater gehabt haben. "Neu-York" steckt voller Witz, hinreißenden Vergleichen und ironischen Anspielungen. Es ist zwar ein historischer Roman, aber ein überaus gelungener, vor allem jedoch ist es eine großartige und großartig erzählte Geschichte um Erwartungen und Täuschungen, um Ränkespiele und den Unterschied zwischen Schein und Sein, um Freiheit und das Gegenteil davon. Tragikomisch, lehrreich und bis auf einen kleinen Durchhänger im Mittelteil spannend und faszinierend. Leseempfehlung!


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