Die Fische von Berlin - Eleonora Hummel

  • Dieses schmale dunkelrote Bändchen mit dem eindrucksvollen Titelphoto eines braven kleinen Schulmädchens mit einer gewaltigen Haarschleife enthält eine der besten Geschichten, die ich in den letzten Monaten gelesen habe. Da mir im letzten halben Jahr das Glück besonders hold war und ich fast nur gute Bücher gefunden habe, will das etwas heißen.
    Ein etwa elfjähriges Mädchen erzählt ein Stück Familiengeschichte. Alina, die Ich-Erzählerin, ist in Kasachstan geboren und Nachkommin einer jener Familien, die über 200 Jahre zuvor - die Geschichte setzt um 1980 ein - dem Ruf einer großen Herrscherin folgten, um in einem fremden Land ein neues, besseres Leben aufzubauen. Deutsch, deitsch, spricht Alina nicht und auch sonst kaum einer mehr in der Familie, dennoch steht in ihrem Paß Nemka und wenn die anderen Kinder das beliebteste Spiel 'Krieg' spielen, muß Alina 'Faschist' sein. Der Vater will um jeden Preis nach Deutschland auswandern und führt einen jahrzehntelangen zähen Kampf mit den Behörden. Die Geschwister, beide um einige Jahre älter als Alina, fühlen sich 'russisch'. Dann gibt es noch die Großeltern, besonders den Großvater, der mit einem Taschenmesser unter dem Kopfkissen schläft, den Ofen rotglühend heizt und nie von früher erzählt. Alina aber ist neugierig und hartnäckig und so erfährt sie nach und nach die Familiengeschichte. Stalinismus und Lager, Krieg und Wehrmacht und Lager, Flucht, Nachkriegsverfolgungen und Lager. Die Momente der Normalität sind selten. Sie sind es auch in Alinas Gegenwart. Der Auswanderungswunsch des Vaters wird obsessiv, der Versuch der Schwester, ein 'russisches' Glück zu finden, scheitert, über dem Bruder schwebt die Drohung, als Soldat in Afghanistan eingesetzt zu werden.
    Was sich selbst auf dem Buchumschlag und auch in den Verlagswerbungen anhört, wie eine Betroffenheitsgeschichte von Rußlanddeutschen ist allerdings keine und das ist die große Leistung dieses kleinen Buchs. Denn 'die' Rußlanddeutschen gibt es nicht. Ebensowenig wie es 'die' Russen gibt. Von Kasachstan zieht Alinas Familie um in den Nordkaukasus. So wie sich Alinas Wissen um die Familiengeschichte und damit um die Familiengeheimnisse erweitert, erweitert sich ihr Blick auf die Welt. In der neuen Schule begegnet sie Juden und Moslems, ihre Banknachbarin ist Balkarin, die Schülerin, die die Preise für Russisch abräumt, Ukrainerin.
    All diese Informationen werden nur in kurzen Sätzen überliefert, nebenbei, da ein Wort, dort ein Name, eben so, wie man aus den Augenwinkeln heraus, aus dem Tonfall einer Stimme im Vorbeigehen, geradezu flüchtig einen Hinweis erhascht, der auf einmal den Blick auf die Welt ändern kann. Stilistisch ist das ganz unaufdringlich, die Wirkung daher um so größer. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, eine beiläufige Eindringlichkeit, eine eindringliche Beiläufigkeit? Ebenso wie Personen und Situationen dringen die Naturschilderungen beim Lesen in einen ein. Der Winter in Kasachstan, der heiße Sommer und die Gärten im Kaukasus, der Matsch auf den Wegen, ob in Sibirien oder in Berlin, die Seen.
    Erzählt wird in dieser Geschichte tatsächlich von der ewigen Suche der Menschen nach dem Paradies, Sehnsucht und Anmaßung zugleich, und vom ewigen Scheitern dieser Suche. Denn die Hoffnung liegt nicht darin, den richtigen Teich zu finden, sondern in der Erkenntnis, die richtigen Fische zu sein. Menschen nämlich, jede und jeder.


    Eine echte Überraschung, dieses Buch. Empfehlenswert.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hallo, herzlichen Dank für die schöne Rezension, die mich sehr berührt hat - weil mein Buch es offenbar vermag, auch andere Leser zu berühren, so wie es mir selbst bei diesem Thema ergangen ist. Es heißt ja immer, ein Autor habe jegliche Kritik hinzunehmen und dazu die Klappe zu halten. Aber ich hoffe, in dieser intimen Runde nimmt es mir keiner übel, wenn ich ein paar Worte sage.


    Einmal wurde ich gefragt, warum denn mein Roman ein offenes Ende habe. Die Frage hat mich etwas erstaunt. Ja, er musste ein offenes Ende haben, weil ich niemandem etwas aufzwingen will, weder meinen Figuren noch dem Leser, und weil nichts im Leben nur schwarz-weiß ist.


    Vielleicht erklärt sich mein Anliegen am besten mit einigen Sätzen aus einer Kritik in der Stuttgarter Zeitung, die ich erst gestern gelesen habe und sehr schön finde:


    "[...] Schließlich kommt die Erlaubnis zur Ausreise - wenn auch nicht, wie erhofft, in die Bundesrepublik, sondern nur in die DDR. Alina, nun eine junge Frau, sucht dort vergeblich nach dem See des Großvaters. Das Glück lässt sich nicht an einem bestimmten Ort wiederfinden. Das Glück gleicht den Fischen: schwer zu fangen und an vielen Orten zu Hause.[...]"
    Quelle: Stuttgarter Zeitung Nr. 185/2005, "Die Fische von Berlin" rezensiert von Tomas Fitzel

  • Nelli,
    daß du sagst, ein/e SchriftstellerIn hat die Klappe zu halten, hat mich jetzt doch überrascht.
    Ich dachte, ihr Leutchen publiziert, eben weil ihr NICHT die Klappe halten möchtet? ;-)


    *duck und weg*

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Sobald man sein Werk in die Öffentlichkeit entlassen hat - und das tut man ja als Schriftsteller (überwiegend?) freiwillig - beginnt es ein Eigenleben zu leben, auf das man als Urheber keinen Einfluss mehr hat. Natürlich kann der Autor Erklärungsversuche abgeben - sobald er gefragt wird. Aber Rezensenten fragen meistens nicht.
    Dass zwischen Autor und Leser ein Dialog stattfinden kann und soll, steht außer Frage, aber das ist ein anderes ("Schlacht")feld.