Ich bin ein Zebra. Eine jüdische Odyssee - Erwin Javor

  • Erwin Javor: Ich bin ein Zebra. Eine jüdische Odyssee, Wien 2017, Amalthea Signum Verlag, ISBN 978-3-99050-092-7, Hardcover mit Schutzumschlag, 248 Seiten, Format: 15,4 x 3,2 x 22,1 cm, Buch: EUR 25,00, Kindle Edition: EUR 17,99.


    „Es ist mir bewusst, dass ich eigentlich immer nur über zwei Themen schreibe: Erstens darüber, was gewisse Nichtjuden den Juden antun. Zweitens darüber, was gewisse Juden den Juden antun. (...) Es muss doch noch irgendwas geben, das nichts mit Juden zu tun hat. Ja, genau. Weihnachten. Da wird zwar die Geburt eines Juden gefeiert, aber wir wollen ja nicht kleinlich sein, (...) Also gut, ich gebe auf: Es gibt kein drittes Thema.“ (Seite 9/10)


    Vom Schtetl in die Stadt ...

    „Eine berührende und humorvolle Reise vom Schtetl in die Stadt“ verspricht uns der Klappentext. „Eine bewegte Familiengeschichte, erzählt mit Witz, Selbstironie und tragikomischen Pointen“. So recht konnte ich mir nicht vorstellen, wie sich diese Elemente miteinander vereinbaren lassen, aber da kannte ich Erwin Javor noch nicht.


    ... am Beispiel einer Familie

    Der Autor erzählt also die Geschichte seiner Familie. Und weil er’s nicht romanhaft macht, sondern uns das berichtet, was er von seinen Angehörigen gehört oder bei seinen Recherchen in Erfahrung gebracht hat, sind selbst die schrecklichsten Ereignisse schon mal „emotional vorgefiltert“. Wie viele andere traumatisierte Menschen, reden auch Javors Eltern nur recht zögerlich über ihre Vergangenheit. Und wenn, dann erzählen sie eher harmlose Anekdoten. Von wirklich schlimmen Ereignissen oder von ihren Gefühlen sprechen sie allenfalls verklausuliert. Und aus dieser Distanz heraus kann Javor ihre Geschichte zu einem Musterbeispiel für die „Reise“ vom dörflichen osteuropäischen Schtetl ins moderne städtische Leben von Budapest oder Wien machen.


    Für die Folgegeneration(en) geht diese Reise unter Umständen noch weiter: bis in die USA oder nach Israel. Der Autor selbst lebt in Wien und Tel Aviv. Ist er an einem Ort, kann er sich von dem anderen erholen. An beiden Wohnsitzen fühlt er sich wohl, aber eine wirkliche Heimat hat er nicht. Kann man etwas vermissen, das man nie kennengelernt hat?


    Schon die Frage, woher Javors Familie stammt, ist nicht so leicht zu beantworten. Sein Vater, Markus Engelstein, wird 1911 als Sohn von Dvora und Eli Engelstein, Forstwirt und Holzhändler, in Jablonica/Ostgalizien geboren. Damals gehörte das zu Österreich-Ungarn, später zu Polen, dann zu Russland. Es wurde Teil des Deutschen Reichs und schließlich der Sowjetunion. Heute gehört das Gebiet zur Ukraine.


    Auch die Kisters, die Vorfahren des Autors mütterlicherseits, stammen aus Ostgalizien. Sie sind allerdings schon Ende des 19. Jahrhundert nach Budapest gegangen. Rose „Roschi“ Schwarzthal, eine der Kister-Enkelinnen, heiratet 1934 Joseph Javor, den Prokuristen einer Maschinenfabrik und eröffnet ein Kurzwarengeschäft. Die gemeinsame Tochter Eva „läuft so mit“, wie das in vielen Geschäftshaushalten der Fall ist.


    Spagat zwischen Tradition und Moderne

    Rose Javor gehört zur Budapester Bildungsschicht und hat mit Religion nicht mehr viel am Hut. Die Traditionen hält sie hoch, weil sie sich als Teil der Budapester jüdischen Gesellschaft begreift. Ihre Eltern und Großeltern mochten, bildlich gesprochen, noch mit einem Fuß im Schtetl stehen, Roses Generation hat das schon weitgehend hinter sich gelassen. Wie schwierig dieser Spagat zwischen Tradition und Moderne ist, verdeutlicht uns der Autor anhand von zahlreichen amüsanten Geschichten, Witzen und Anekdoten.


    Aber nichts im Leben bleibt wie es ist, schon gar nicht das Gute. Im Zweiten Weltkrieg verliert Rose ihren Mann sowie den Großteil ihrer Familie an die Mörder des Naziregimes. Sie selbst landet mit ihrer neunjährigen Tochter im Budapester Ghetto und kann von Glück sagen, nicht nach Auschwitz verschleppt worden zu sein. Auch Markus Engelstein verliert seine Frau und fast seine gesamte Familie. Nur sein Bruder Karol und er werden rechtzeitig gewarnt und können fliehen.


    Roschi und der Polischi

    Auf abenteuerlichen Wegen gelangt Markus Engelstein nach Budapest und trifft dort auf Rose Javor, die sich wieder nach oben gewurstelt und erneut ein Kurzwarengeschäft eröffnet hat. Zwischen den beiden funkt’s. 1946 heiraten sie, obwohl ihre Freunde die Nase rümpfen, weil ihre Wahl ausgerechnet auf einen aus ihrer Sicht primitiven, unkultivierten, religiösen „Polischi“ gefallen ist, der noch nicht in der Moderne angekommen ist.


    Wie „Roschis“ Freunde zu dem harschen Urteil kommen, ist nachvollziehbar: Markus wurde im osteuropäischen Schtetl sozialisiert. Er spricht zwar fünf Sprachen, ist ein heller Kopf und versteht was von Holz und Handel, aber eine westliche Bildung kann er nicht vorweisen. Sein Status ist ihm bewusst. Er sieht sich auch gar nicht als Retter der jungen Witwe und ihrer Tochter, sondern begreift, dass diese Ehe für ihn die Rettung ist und dass er von Rose noch viel lernen kann.


    Traumziele in der Ferne

    Die Engelsteins bauen sich in Budapest gemeinsam eine neue Existenz auf, träumen aber von Amerika. Wien soll da nur eine Zwischenstation sein. Roses Tochter Eva hat andere Ziele. Sie schließt sich einer linken zionistischen Jugendorganisation an und will so schnell wie möglich nach Israel auswandern. Als ihr klar wird, dass daraus auf absehbare Zeit nichts wird, kommt es zu einer Tragödie.


    Für den Neuanfang in Wien ändert die Familie Engelstein ihren Namen in Javor. Und sie stehen auf einmal ganz unten in der Hackordnung. Hier gehören sie zu den verachteten „zuag’rasten“ Ostjuden, denen die assimilierten Wiener Juden so kritisch gegenüberstehen wie die Nicht-Juden. Doch Wo immer es die Ostjuden aus dem Schtetl hin verschlug, so verschieden sie sich entwickelten, Gemeinsamkeiten blieben. Auch das blieb im Dorf Wien erhalten. Das bedingte schon die bloße Tatsache der beschränkten Größe der Gemeinde, die sich hier zusammenfand, genauso wie das gemeinsame Schicksal und die gemeinsame Vergangenheit.“ (Seite 75/76)


    Einleuchtend ist auch, dass in den 1950er und 1960er-Jahren die stärkste Kraft im „Wiener Dorf“ die unbändige Freude am Dasein ist. Hier sind überlebende, entwurzelte, orientierungslose Menschen voller Zukunftsängste, die geradezu einen Zwang zum ausgelassenen Feiern entwickeln. Und sie arbeiten hart, um sich etwas aufzubauen.


    Ostjüdisch geprägte Schule des Lebens

    Erwin Javor wächst in Obhut seiner ungarischen Großmutter auf und bekommt schon von klein auf die Sorgen und Nöte selbstständiger Kaufleute mit. Rose scheint hauptsächlich mit dem Geschäft befasst zu sein. Die Beziehung des Autors zu seinem Vater ist wohl enger als die zur Mutter. An einer Stelle schreibt er, dass er alles Nützliche direkt oder indirekt von den Geschichten seines Vaters gelernt habe. In dieser ostjüdisch geprägten Lebensschule hat er schon früh mitbekommen, wie man sich in der Welt bewegt und wie die Menschen ticken.


    Die Lebenserfahrung seiner Eltern ersetzt ihm ganze Management-Seminare. Es ist sehr vergnüglich zu lesen, auf welche Weise man ihm Diplomatie, Kompromisse, Investitionen, Wareneinkauf, Anstand usw. nahegebracht hat. Wie der Vater seine Projekte geplant hat, kommt mir nur zu bekannt vor: Was ich nicht am Rand der [Zeitung] kalkulieren kann, mach’ ich nicht!“ (Seite 144) Und dass ein „Äh“ an geeigneter Stelle eine komplette Bankauskunft ersetzen kann, glaubt man dem Autor aufs Wort.


    Mit diesen Voraussetzungen hat sich der 22jährige Erwin auch die Leitung einer Fabrik zugetraut. Seinem Vater wäre es zwar lieber gewesen, er hätte ein Studium abgeschlossen, aber nun ist er halt ein erfolgreicher Unternehmer geworden, und dann war’s auch recht. Auch wenn Markus Javor nicht alle Entscheidungen seines Sohnes verstehen konnte: In seinen Augen konnte der Junge nie wirklich was falsch machen.


    Erst nach dem Tod des Vaters hat Erwin sich getraut, in dessen alte Heimat zu fahren, seinen Spuren zu folgen und zu überprüfen, ob Markus’ Geschichten überhaupt stimmen ...


    Familiengeschichte, Infos, Witze und Anekdoten

    Javor weiß, dass er auch für ein nicht-jüdisches Publikum schreibt und flicht deshalb in seine Familiengeschichte Informationen über Religion und Traditionen ein. Wir finden Texte jiddischer Lieder (mit Übersetzung) genauso wie jüdische Witze. Wer sich mit dem Thema auskennt, wird hier vertraute Geschichten wiederfinden, die Menschliches, Typisches und so manches Klischee aufs Korn nehmen. Und da sitzt man dann da, liest über furchtbare menschliche Schicksale und muss plötzlich laut lachen. Warum das funktioniert? „Weil hinter jeder guten Pointe wie bei jeder guten Komödie eine Tragödie steht.“ (Seite 12)


    ICH BIN EIN ZEBRA ist eine Liebeserklärung an Erwin Javors verstorbene Eltern. Vor allem an seinen Vater, weil der Autor dank ihm noch Zeuge der Reste einer heute verlorenen Welt ist: der des Ostjudentums.


    Wer kein Jiddisch versteht, kann Begriffe, die sich nicht aus dem Zusammenhang erschließen, hinten im Glossar nachschlagen. Wer auch nur eine rudimentäre Ahnung von der Sprache hat, fängt, wie der Autor richtig vermutet, sofort an zu chochmetzen (besserwissen). Alle außer mir, natürlich! ;-) Nie würde ich so etwas tun! Nur an der Übersetzung der Textstelle „wej is mir un wind“ in dem Volkslied von Itzig Manger auf Seite 44 hätt’ ich so ein bisserl meine Zweifel ...





    https://www.amazon.de/Ich-bin-ein-Zebra-jüdische/dp/3990500929/ref

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Und weil das Programm meinte, mein Text sei zu lang, kommt die Info über den Autor hier hinterhergedieselt:


    Der Autor

    Erwin Javor war lange Jahre Kolumnist und Herausgeber der jüdischen Zeitschrift über Politik und Kultur »NU« und ist Gastautor verschiedener Zeitschriften. Er ist Herausgeber der »Brauer Haggada« (Amalthea 2014), für die der Maler Arik Brauer eigens Gemälde geschaffen hat. Erwin Javor engagiert sich zudem seit Jahren als Gründer und Herausgeber von »MENA Watch«, dem unabhängigen Nahost-Thinktank. Erwin Javor ist der Gründer von »Frankstahl«, einem Unternehmen, das er in jungen Jahren als kleine Firma gekauft und vierzig Jahre lang zu einem in neun west- und osteuropäischen Ländern tätigen Konzern aufgebaut hat. Er lebt in Wien und Tel Aviv, hat drei Kinder und ist in zweiter Ehe mit der Sängerin und Schauspielerin Anita Ammersfeld, der Mutter seines jüngeren Sohnes, verheiratet.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Das ist wieder ein Buch das mein Interesse weckt, wie die meisten der von Dir vorgestellten Vandam. ;) Nun weiß ich aber nicht, liegt das an den Bücher oder an Deinen Rezensionen :gruebel


    Sehe gerade, dass ich warten muss, bis es das mal gebraucht gibt

  • ich bin da nicht so festgelegt, bei dem was ich lese. Inzwischen. Und ich kann es mir zum Glück auch selbst aussuchen ;) Und es ist schön, dass man immer mal Anregungen und Informationen bekommt, was sich wieder lohnt sich anzuschaffen auch wenn es dauert. Es häuft sich halt gerade bei einen Vorstellungen.