Rattenfänger - Karlijn Stoffels (ab ca. 13 J.)

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  • Wenn ich eine Menschenmenge sehe, setze ich sofort keinen Fuß mehr vor den anderen. Menschen sind wie Schlangen. Wenn man einer in den Weg kommt, schießt sie sofort weg, aber du darfst ja nicht in ein Nest von Nattern treten.


    Das sind einige der ersten Sätze, die die 14-jährige Lori in diesem Roman sagt und sie sagen uns gleich Wesentliches über Lori. Das Natternnest kann man zudem wörtlich nehmen, denn auf den folgenden Seiten erfahren wir, daß Lori beträchtliche Schwierigkeiten zu meistern hat. Ihre Eltern sind geschieden, den Vater trifft sie eigentlich nur am Flughafen, wenn er von einer Geschäfstreise kommt, die Mutter, mit der sie zusammenlebt, ist psychisch krank. Solange sie ihre Medikamente nimmt, 'funktioniert' sie, ist aber fast apathisch. Nimmt sie sie nicht, streicht sie die Wohnung von oben bis unten in kunterbunten Farben und zerschlägt den Fernseher, weil sie überzeugt ist, daß sich darin Abhörgeräte befinden. Der Kühlschrank bleibt in beiden Fällen eher leer und die Wäsche ungewaschen. Freundschaften mit Gleichaltrigen sind für Lori unter diesen Umständen kaum möglich. Ihre Angst vor Menschen wie auch ihre Sehnsucht nach echter Zuneigung verbirgt sie hinter Schnoddrigkeit und Trotz. Ausleben kann sie sich eigentlich nur beim Klavierspielen, auch wenn die Klavierlehrerin alles, was von den vorgeschriebenen Tonleitern und Fingerübungen abweicht, als 'Klimperei' bezeichnet.


    Mitten in dieser unbehaglichen Situation ereignet sich Neues: in der Schule soll ein Musical aufgeführt werden und in die Wohnung der Klavierlehrerin, die für längere Zeit verreist, zieht der Student Mark. Lori freundet sich mit Mark an, denn er ist immer da und mehr noch, er hört ihr zu. Doch aus den traulichen Teestunden wird ein weiteres Natternnest, als Mark sehr deutlich macht, daß er sich keine platonische Freundschaft wünscht. Lori dagegen will nicht, was Mark will.


    Das Schulmusical ist die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln. Auch hier muß sich Lori in ihrer leitenden Funktion am Klavier mit dem Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, Freunden, Ratten, Erwachsenen auseinandersetzen. Und vorsichtig die Weichen für die Zukunft stellen.


    Niemand kann dir beibringen, wie du leben sollst. sagt sie zum Schluß. Wie du es in Gottes Namen anfängst. Ich habe keine Ahnung. Ich kann nur eines tun. Nicht dass ich sehr gut darin bin, aber ich habe es wenigstens geübt. Und viel anders bleibt mir nicht übrig. Ich werde improvisieren müssen.


    Es ist eine bedrückende und zugleich hoffnungsvolle Geschichte. Stoffels, 1947 geboren, schreibt auch Theaterstücke und Hörspiele, und das merkt man, denn die Stimmen aller Personen klingen 'echt'. Die Dramaturgie stimmt, die Spannung setzt auf der ersten Seite ein und hält an bis zum Schluß. Geradezu unauffällig werden Themen wie Verantwortung von Eltern und Erwachsenen gegenüber Kindern, die Bedeutung von Freundschaft, das Recht auf die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper diskutiert. Auch sprachlich-stilistisch ist es anspruchsvoll und die Übersetzung aus den bewährten Händen von Mirjam Pressler ist wirklich gelungen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Rattenfänger ist das dritte Buch von Karlijn Stoffels, das ich gelesen habe.
    Ich kann magalis' Rezension in jeder Hinsicht voll zustimmen und werde darum versuchen, von dem bereits Geschriebenen möglichst wenig zu wiederholen und stattdessen meine Eindrücke zu beschreiben.

    In diesem Roman zeigt die Autorin wieder einmal ihr ganzes Können. Auf weniger als 200 Seiten ist ein Roman entstanden, der tiefgreifend, wunderbar treffend erzählt und sehr bewegend ist.
    Es gibt keine Längen, keine künstlich herausgezogenen Höhepunkte, alles stimmt, Aufbau und Dramaturgie, die Dialoge und die Charakterisierung der Protagonisten, die aufgrund der intensiven und bildhaften Sprache und szenisch geschriebener Passagen für mich sehr lebendig wurden.
    So kam es, dass ich die innere Zerissenheit und die ungeheure Anspannung der 14-jährigen Lori sehr nahe miterlebte. Sehr froh war ich darüber, dass Lori dank zweier Mitschüler dazu gebracht wird, bei einem Schulmusical mitzumachen, auf das sie eigentlich gar keine Lust hat. Trotz all dem Drunter und Drüber in ihrem privaten Leben findet sie schließlich dort einen inneren Halt, denn beim Klavierspielen tritt ihre Begabung hervor und während sie das Improvisieren lernt, entdeckt sie sich selbst neu.
    Besonders mochte ich, dass Lori nicht aufgibt, als sich eine zarte Freundschaft zu einem Mädchen aus ihrer Klasse entwickelt, obwohl es zunächst für beide sehr schwierig ist. Lori ist Freundschaften nicht gewohnt und fühlt sich unsicher und ungelenk, doch dank ihres Klavierunterrichtes weiß sie, dass Üben notwendig ist, damit etwas Schönes entstehen kann, und so übt sie sich darin, sich auf diese Freundschaft einzulassen.
    Wunderbar zu erleben, dass in diesem Roman tiefe Gefühle miterlebbar werden, ohne dass auch nur eine Spur von Sentimentalität oder Kitsch aufkommt.


    Mir ging es so, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte und ich nach dem Lesen erst einmal eine Zeit brauchte, um einigermaßen zurückzufinden in meinen Alltag. Sicher werden mich die Bilder und Gedanken, die entstanden sind, noch länger begleiten.


    Von mir 10 Eulenpunkte für dieses wunderbare Buch.