Wenn ich eine Menschenmenge sehe, setze ich sofort keinen Fuß mehr vor den anderen. Menschen sind wie Schlangen. Wenn man einer in den Weg kommt, schießt sie sofort weg, aber du darfst ja nicht in ein Nest von Nattern treten.
Das sind einige der ersten Sätze, die die 14-jährige Lori in diesem Roman sagt und sie sagen uns gleich Wesentliches über Lori. Das Natternnest kann man zudem wörtlich nehmen, denn auf den folgenden Seiten erfahren wir, daß Lori beträchtliche Schwierigkeiten zu meistern hat. Ihre Eltern sind geschieden, den Vater trifft sie eigentlich nur am Flughafen, wenn er von einer Geschäfstreise kommt, die Mutter, mit der sie zusammenlebt, ist psychisch krank. Solange sie ihre Medikamente nimmt, 'funktioniert' sie, ist aber fast apathisch. Nimmt sie sie nicht, streicht sie die Wohnung von oben bis unten in kunterbunten Farben und zerschlägt den Fernseher, weil sie überzeugt ist, daß sich darin Abhörgeräte befinden. Der Kühlschrank bleibt in beiden Fällen eher leer und die Wäsche ungewaschen. Freundschaften mit Gleichaltrigen sind für Lori unter diesen Umständen kaum möglich. Ihre Angst vor Menschen wie auch ihre Sehnsucht nach echter Zuneigung verbirgt sie hinter Schnoddrigkeit und Trotz. Ausleben kann sie sich eigentlich nur beim Klavierspielen, auch wenn die Klavierlehrerin alles, was von den vorgeschriebenen Tonleitern und Fingerübungen abweicht, als 'Klimperei' bezeichnet.
Mitten in dieser unbehaglichen Situation ereignet sich Neues: in der Schule soll ein Musical aufgeführt werden und in die Wohnung der Klavierlehrerin, die für längere Zeit verreist, zieht der Student Mark. Lori freundet sich mit Mark an, denn er ist immer da und mehr noch, er hört ihr zu. Doch aus den traulichen Teestunden wird ein weiteres Natternnest, als Mark sehr deutlich macht, daß er sich keine platonische Freundschaft wünscht. Lori dagegen will nicht, was Mark will.
Das Schulmusical ist die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln. Auch hier muß sich Lori in ihrer leitenden Funktion am Klavier mit dem Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, Freunden, Ratten, Erwachsenen auseinandersetzen. Und vorsichtig die Weichen für die Zukunft stellen.
Niemand kann dir beibringen, wie du leben sollst. sagt sie zum Schluß. Wie du es in Gottes Namen anfängst. Ich habe keine Ahnung. Ich kann nur eines tun. Nicht dass ich sehr gut darin bin, aber ich habe es wenigstens geübt. Und viel anders bleibt mir nicht übrig. Ich werde improvisieren müssen.
Es ist eine bedrückende und zugleich hoffnungsvolle Geschichte. Stoffels, 1947 geboren, schreibt auch Theaterstücke und Hörspiele, und das merkt man, denn die Stimmen aller Personen klingen 'echt'. Die Dramaturgie stimmt, die Spannung setzt auf der ersten Seite ein und hält an bis zum Schluß. Geradezu unauffällig werden Themen wie Verantwortung von Eltern und Erwachsenen gegenüber Kindern, die Bedeutung von Freundschaft, das Recht auf die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper diskutiert. Auch sprachlich-stilistisch ist es anspruchsvoll und die Übersetzung aus den bewährten Händen von Mirjam Pressler ist wirklich gelungen.