Der Büchereulen-Adventskalender 2017

  • Der 21. Dezember von Batcat



    Der Weihnachtspullover

    Anfang November


    Jens und Timo lagen zusammengekuschelt auf der Couch. Kerzen brannten und auf dem Couchtisch standen halbgefüllte Weingläser. Auf dem Bildschirm lief gerade der Abspann von „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, ihrem gemeinsam Lieblingsfilm.


    Jens drehte sich zu Timo. „So eine Hochzeit ist schon was Schönes. Tiefes. Einzigartiges. Und sie verbindet ein Paar noch mehr als alles andere. Ich liebe Dich so unendlich und ich möchte bis an mein Lebensende mit Dir zusammenbleiben. Möchtest Du mich nicht heiraten... jetzt, wo wir es jetzt endlich dürfen?“ Timo blieben die Worte weg… er bekam nur noch ein heiseres „JA!“ hinaus und das war für längere Zeit auch das einzige, was zu sagen war.


    Vier Wochen später


    „Timo, alles was ich mir von Dir zu Weihnachten wünsche ist, daß Du Deinen Eltern endlich sagst, daß Du schwul bist. Willst Du sie etwa unwissend zu unserer Hochzeit kommen lassen? Oder willst Du sie etwa gar nicht einladen? Ich möchte Deine Familie doch auch endlich kennen lernen. Versprich mir bitte, daß Du es ihnen an den Feiertagen sagst, wenn Du sie zu Hause besuchst.“ Timo schluckte.


    Weihnachten


    Timo fuhr wie alle Jahre wieder in sein Heimatdorf, um seine Eltern zu besuchen. Diesmal hatte er ein wenig Angst davor. Das Versprechen, das er Jens gegeben hatte, lastete schwer auf seinem Herzen.


    Wie sollte er das seinen alten Eltern nur beibringen? Sie lebten ihr ganzes Leben auf dem Dorf, legten Wert auf die Meinung der Nachbarn und gingen jeden Sonntag zur Kirche. Ein homosexueller Sohn passte da sicher nicht in ihr Weltbild.


    Die Begrüßung erfolgte daher eher verhalten, obwohl Timo sich sehr auf seine Eltern gefreut hatte. Die nächsten Tage versuchte er immer wieder, das Thema anzusprechen.


    „Mama, ich muß Dir etwas sagen, …“ Timo stockte. Seine Mutter, die gerade noch seine Lieblingskekse buk, sah vom Plätzchen ausstechen auf und sah ihn aufmerksam an. „Ja, Timo?“ „Ich wollte Dir nur Danke sagen, daß Du jedes Jahr nur für mich extra diese tollen Kekse machst!“ Mist. Verkackt. Wieder zu feige gewesen.


    Später ging er mit seinem Vater und dem Schäferhund Fritz spazieren. „Papa, weißt Du eigentlich…“ Sein Vater hielt inne und blickte ihm direkt in die Augen „… daß heute besonders viele Sternschnuppen zu sehen sein sollen?“ Innerlich schlug er sich selbst links und rechts ins Gesicht. Trottel!!! So wurde das nie was. Er verfluchte sich selbst.


    Heiligabend


    Wie immer saß die Familie nach der Christmette noch bei einem Glas Wein beisammen. Eigentlich schenkten sie sich schon lange nichts mehr, aber diesmal lag ein einzelnes Geschenk unter dem Baum. Es trug Timos Namen. Verwundert blickte Timo darauf, aber seine Eltern lächelten ihn an und nickten auffordernd.


    Vorsichtig packte Timo es aus und zog aus dem Paket … einen furchtbar hässlichen Weihnachtspullover. Er war in Regenbogenfarben gestreift und hatte als Frontmotiv zwei sich küssende Elche. Das war definitiv der hässlichste Weihnachtspullover. Ever.


    Timo versuchte, so gut es ging, sein Entsetzen zu verbergen. Vorsichtig hielt er das scheußliche Teil vor sich. Sah auch noch so aus, als hätte es die richtige Größe. Mist. Da fiel ein kleines Kuvert hinunter, das vorher im zusammengelegten Pullover gesteckt hatte.

    Verwundert nahm Timo den Umschlag und zog einen Brief heraus.


    Lieber Timo,


    wir wissen schon lange, daß Du schwul bist. Wir sind Deine Eltern! Wir haben das schon sehr lange gefühlt, wollten aber Dir den Zeitpunkt überlassen, an dem Du uns das sagst.

    Da wir aber inzwischen das Gefühl haben, Du führst ein Doppelleben, das Dich belastet, wollten wir die Initiative ergreifen und Dir sagen: es ist völlig OK, schwul zu sein.

    Wir lieben Dich und wir wollen, daß Du glücklich bist. Und wenn Du einen Freund hast, dann würden wir ihn sehr gerne kennenlernen.


    In Liebe


    Deine Eltern


    Timo spürte, wie ihm die Tränen kamen. Er umarmte seine Eltern. Allen dreien liefen Tränen übers Gesicht. Und plötzlich verstand er auch das Geschenk. Regenbogenfarben. Küssende Elche. Alles klar! Das war definitiv der coolste Weihnachtspullover. Ever.

  • Der 22. Dezember von Heike



    Weihnachten bei den Mörlitz


    Fünf Monate vor Weihnachten

    Pünktlich zur Ferienmitte werden in den Supermärkten Standflächen freigemacht, um die jüngst eingetroffene Weihnachtsware ansprechend zu präsentieren. Interessierte Touristen in Bermudashorts und Flipflops erstehen neben Sonnencreme und gekühltem Dosenhugo eine Packung Dominosteine. Der Rest schmilzt vor sich hin. Der Filialleiter denkt über eine Verlegung in den Kühlbereich nach.


    Vier Monate vor Weihnachten

    Mutter Mörlitz mahnt ihre Familie zum Verfassen von Wunschzetteln. Sonst werde der Weihnachtsmann dieses Jahr nichts bringen. Sohn Mark (11 Jahre) durchblickt den Erpressungsversuch und klärt seine Geschwister über die Nichtexistenz des Weihnachtsmanns auf. Es kommt zu einer Revolution, die Vater Mörlitz mit den Worten „November reicht auch noch“ erfolgreich beendet. Mutter Mörlitz verkauft das familieneigene Weihnachtsmannkostüm in einer Facebook-Gruppe an einen freundlichen Herrn unklarer Motivation. Auf Mutter Mörlitz‘ Wunsch, er möge viel Spaß damit haben, folgt ein unbestimmtes „Das werde ich sicher“. Mutter Mörlitz beschließt, keine Fragen zu stellen.


    Drei Monate vor Weihnachten

    Tochter Ina (9 Jahre) verkündet nach dem Konsum einer Fernsehreportage über Schlachthöfe, ab sofort vegan zu leben. Mark und die beiden jüngeren Brüder Tom und Finn schließen sich an. Die diesjährige Weihnachtsgans droht zu einem moralischen Desaster zu werden. Mutter Mörlitz beugt sich dem Druck ihrer Brut und verkündet, dass es dieses Jahr Tofuwürstchen mit Gemüsestampf geben werde. Vater Mörlitz und Oma Else beschließen, Weihnachten alleine zu feiern. Nachdem die durch einen umherfliegenden Bräter verursachte Platzwunde von einem freundlichen Rettungssanitäter versorgt werden konnte, erklärt er, dass alles nur ein Scherz gewesen sei und er sich natürlich auf festliche Tofuwürstchen freue.


    Zwei Monate und neunundzwanzig Tage vor Weihnachten

    Finns Veganerdasein endet, als er erfährt, dass Fleischwurst nicht als veganes Lebensmittel zählt. Mutter Mörlitz hegt Hoffnung.


    Zwei Monate vor Weihnachten

    Weihnachtsbeleuchtung wird auf den Straßen installiert. Mutter und Vater Mörlitz versprechen sich, einander nichts zu schenken. Mutter Mörlitz erinnert an die Wunschzettel, Mark erinnert an die Novembervereinbarung. Tochter Ina soll beim Krippenspiel der Grundschule den Esel spielen. Mark findet das witzig. Nachdem der freundliche Rettungssanitärer Marks Platzwunde versorgt hat, verkündet Vater Mörlitz, dass es dieses Jahr keine Geschenke gebe, wenn Mark sich nicht entschuldige. Mark beschließt, Weihnachten bei Oma Elsa zu feiern. Ina bezeichnet ihn ob der dort zu erwartenden Weihnachtsgans als „Aasfresser“ und „Verräter“.


    Ein Monat und zehn Tage vor Weihnachten

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    Ein Monat vor Weihnachten

    Nachdem Vater Mörlitz einen entscheidenden Hinweis auf dem Einkaufszettel übersehen hat, klappert Mutter Mörlitz auf der Suche nach Adventskalendern spätabends verschiedene Tankstellen ab. Da sich das Sortiment auf „24 Feiglinge“, „Weihnachten für Ihr Auto“ und „Heiße Überraschungen für kalte Nächte“ beschränkt, ersteht sie schließlich einen Großteil des Süßwarensortiments. Finn kommentiert die „Bifi Roll“ in seinem Adventskalender mit „Echt cool!“, während Ina sich über „Fisherman’s Friend Lakritz“ weniger begeistert zeigt.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    20 Tage vor Weihnachten

    Die Temperaturen erreichen vorweihnachtliche zwanzig Grad, die Rosen im Garten treiben aus. Züge fallen hitzebedingt aus. Auf den Weihnachtsmärkten denkt man darüber nach, anstelle von Glühwein Sangria auszuschenken. In den Nachrichten beschwört man den Klimawandelsupergau, der pünktlich zu Weihnachten eintreffe. Oma Else verschickt sehr förmlich gehaltene Weihnachtskarten. Mutter Mörlitz denkt darüber nach, ins südliche Australien auszuwandern.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    18 Tage vor Weihnachten

    Lange Gesichter bei der Inspektion der Nikolausstiefel, als sich darin ausschließlich vegane, fairgehandelte Süßigkeiten befinden. Toms Begeisterung für moralisch korrektes Handeln erreicht den Nullpunkt, als er in einen Quinoa-Dattel-Chia-Süßkartoffel-Riegel beißt. Finn feixt schadensfroh und freut sich über seinen Milkaweihnachtsmann. Ina tritt Tom gegen das Schienbein und erinnert ihn an das Tierelend und die Rettung der Welt. Tom beschließt, letzteres lieber Superman zu überlassen. Mutter Mörlitz frohlockt.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    16 Tage vor Weihnachten

    Vater Mörlitz erinnert an die Wunschzettel. Mark hält dagegen, dass Amazon auch Heiligabend noch liefere. Der Versuch, Oma Elses Wünsche zu erfragen, scheitert an der renitenten Haushälterin, von der sie sich verleugnen lässt. Mutter Mörlitz beschließt wütend, dann eben ohne Oma Else zu feiern. Ina bemerkt, dass sie doch eh nicht kommen wollte, was die Stimmung nicht merklich hebt. Ein Versuch, bezüglich des Weihnachtsessens doch zu einem Kompromiss zu kommen, scheitert an Ina, die ihre Eltern und Brüder als „schlimme Aasfresser“ bezeichnet. Der freundliche Sanitäter kommt vorbei und versorgt Inas Kopfwunde, während Vater und Mutter Mörlitz Tom erklären, dass Veganismus kein angemessener Grund sei, jemandem den Vizebowlingmeisterpokal vom letzten Kindergeburtstag über den Kopf zu hauen. Tom erklärt, dass er ab sofort bei Oma Else wohnt. Allerdings wird er von der Haushälterin abgewimmelt. Ina ist schadensfroh und zeigt das deutlich. Der freundliche Sanitäter hat an diesem Abend zum Glück noch nichts anderes vor.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    14 Tage vor Weihnachten

    Die Lokalzeitung berichtet von einem Exhibitionisten, der im Weihnachtsmannkostüm den Stadtpark unsicher mache. Mutter Mörlitz‘ Versuch, einen veganen Weihnachtsbraten zu zaubern, wird von Vater Mörlitz mit „Schmeckt wie Tapetenkleister“ kommentiert. Mutter Mörlitz verbringt den Rest des Tages heulend im Schlafzimmer, Mark versucht die Reste des Bratens erfolglos an den Nachbarhund zu verfüttern. Vater Mörlitz erinnert noch einmal an die Wunschzettel. Finn wünscht sich eine Drohne.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    12 Tage vor Weihnachten

    Der erste Schnee des Jahres fällt. Autofahrer geraten massenweise in Panik, Straßen sind blockiert, die Medien prophezeien einen Jahrhundertwinter. Züge fallen schneebedingt aus. Auf den Weihnachtsmärkten frohlocken die Glühweinstandbetreiber. Die verbliebene Sangria wird mit Glühwein vermischt und warm gemacht.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    10 Tage vor Weihnachten

    Vater Mörlitz verbringt den Abend auf dem Polizeirevier, wo ihn zwei freundliche Beamte befragen, warum sein Name in dem Exhibitionisten-Weihnachtsmannkostüm stehe. Mark, Finn und Tom informieren sich im Internet über die Einsatzmöglichkeiten einer Drohne, was vor allem Mark dazu anregt, Erpressungsphantasien gegenüber seiner Lehrerin zu entwickeln. Mutter Mörlitz backt Plätzchen für den Adventsbasar der Grundschule.


    8 Tage vor Weihnachten

    Der Adventsbasar gerät zum Debakel, als die Abnahme von Mutter Mörlitz‘ Plätzchen an der dreiseitigen Checkliste der Hygienevorschriften für Heimbackwerk scheitert und moniert wird, dass diese weder gluten- noch laktosefrei seien. Von Nüssen ganz zu schweigen. Unter den vorwurfsvollen Blicken anderer Backmütter verlässt Mutter Mörlitz den Adventsbasar und entsorgt die Plätzchen in der nächstgelegenen Mülltonne. Den Rest des Tages verbringt sie heulend im Schlafzimmer.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    6 Tage vor Weihnachten

    Vater Mörlitz findet heraus, dass Drohnen für Kinder verboten sind. Finn wünscht sich nun einen Flamingo. Mark will eine Kamera und ein Nachtsichtgerät. Vater Mörlitz ist ob der zuvor in allen Einzelheiten ausgearbeiteten Erpressungspläne misstrauisch und beschließt, lieber ein tausendteiliges Saharadünenpuzzle zu besorgen. Die Anfrage beim Zoo wegen des Ankaufs eines Flamingos stellt sich als wenig hilfreich heraus. Glücklicherweise hat der örtliche Spielwarenladen einen Plüschflamingo im Angebot. Tochter Ina wünscht sich Weltfrieden.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    5 Tage vor Weihnachten

    Ein starker Fönsturm bringt den Schnee zum Schmelzen. Die Temperaturen klettern auf zwanzig Grad. Züge fallen hitzebedingt aus. Die Medien beschwören einen Klimawandelsupergau. In Jerusalem kommt es zu einem verheerenden Selbstmordattentat. Die restliche Welt zeigt zumindest für einen kleinen Moment Betroffenheit. 43.375.208 Facebook-Profilbilder werden geändert.


    4 Tage vor Weihnachten

    Nachbar Gorkemüller schließt seine neue Adventsbeleuchtung „PlasmaChristmas 3000“ mit echten Laserschwertern und bunter Flagfeuerbestrahlung ans Stromnetz an. Das Viertel versinkt für 24 Stunden in absoluter Dunkelheit. Während Nachbar Gorkemüller, sein Versicherungsvertreter und der Hersteller von „PlasmaChristmas 3000“ noch über Verantwortlichkeiten streiten, bricht zwischen den Mörlitz-Kindern langeweilebedingter Streit aus. Der freundliche Rettungssanitäter kann zum Glück auch im Kerzenschein Kopfwunden versorgen. Vater Mörlitz denkt über die Anschaffung eines Notstromaggregats zur Versorgung hauseigener Spielekonsolen nach.


    3 Tage vor Weihnachten

    Oma Else schickt Bilder der jüngst erstandenen Weihnachtsgans. Mutter Mörlitz bekommt einen Nervenzusammenbruch und beschließt anschließend, dieses Weihnachtsfest so traditionell wie möglich zu feiern. Ina wittert einen Versuch ihrer Mutter, sich nicht mit Fragen einer moralisch korrekten Ernährung auseinandersetzen zu müssen. Der Streit eskaliert, als Nachbar Gorkemüller mit einer Plätzchentüte erscheint, um sich für „PlasmaChristmas 3000“ zu entschuldigen. Der freundliche Rettungssanitäter versorgt Nachbar Gorkemüllers Kopfwunde, während sich Vater Mörlitz wortreich für das befremdliche Verhalten von Frau und Tochter entschuldigt. 43.375.203 Facebook-Profilbilder werden in den alten Zustand zurückgesetzt.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    2 Tage vor Weihnachten

    Mutter Mörlitz ersetzt alle künstlichen Lichter durch Bienenwachskerzen. Vater Mörlitz‘ Hinweis auf die Brandgefahr wird mit einem Wassereimer neben der Terrassentür gekontert. Besinnliche Weihnachtsmusik beschallt die Stube. Mark hat bei Amazon eine kindertaugliche Drohne entdeckt. Vater Mörlitz lehnt unter Verweis auf die Novembervereinbarung eine Änderung des mündlich geäußerten Wunschs ab. Ina veranstaltet mit zwei Freundinnen und selbstgeschriebenen Pappschildern einen Protestmarsch gegen Tiermord an Weihnachten. Die Polizei löst die Demonstration bereits nach wenigen Metern auf und verweist auf die Anmeldepflicht solcher Veranstaltungen. Ina sieht in den Polizisten Tiermordsympathisanten und äußert dies auch. Mutter Mörlitz wird nahegelegt, mit ihrer Tochter über die Aussage „Polizisten sind Mörder“ zu sprechen.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    1 Tag vor Weihnachten

    Sibirische Kälte schiebt sich nach Mitteleuropa. Der Glühweinumsatz ist so hoch wie nie zuvor, Züge fallen kältebedingt aus. Die Medien prophezeien einen Jahrhundertwinter. Es kommt vereinzelt zu Schneefall und auf den Autobahnen zu kilometerlangen Staus. Tom wünscht sich einen Roboter und verweist auf mehrere Internetangebote, die dank vorweihnachtlicher Rabattschlachten unerwartet günstig scheinen. Als sich herausstellt, dass eine Lieferung zum Folgetag nicht mehr möglich ist, beschuldigt Tom seinen Bruder Mark, ihn angelogen zu haben. Der nach dem Handgemenge hinzugerufene freundliche Sanitäter versorgt die Kopfwunden routiniert. Bei einer Probezündung der Kerzenillumination fängt ein Vorhang Feuer, kann aber dank des bereitstehenden Eimers rasch gelöscht werden. Mutter Mörlitz kichert hysterisch.

    „Last Christmas“ läuft im Radio.


    Der Weihnachtstag

    Eisregen sorgt für Unwetterwarnungen. Die Medien zeichnen ein Katastrophenszenario, Züge fahren wider aller Erwartungen planmäßig. Der zweite Versuch, die weihnachtliche Kerzenillumination zu entzünden, scheitert, als der Weihnachtsbaum Feuer fängt. Die eilends herbeigerufene Feuerwehr kann die Flammen löschen, sieht sich aber gezwungen, neben dem Wohn- auch das Esszimmer und die Küche unter Wasser zu setzen, nachdem es durch die auf dem Herd vergessenen Tofuwürstchen zu starker Rauchentwicklung in beiden Räumen kommt. Vater Mörlitz witzelt, dass er das aus Polyester bestehende Weihnachtsmannkostüm zum Glück ja nicht getragen habe. Mutter Mörlitz wirft ihm vor, den Löscheimer nicht nachgefüllt zu haben, worauf Vater Mörlitz erwidert, die Kerzen seien ihr Einfall gewesen, sodass der Eimer auch in ihrer Verantwortlichkeit liege. Während der freundliche Rettungssanitäter sein Weihnachtsessen unterbricht, um Vater Mörlitz‘ Kopfwunde zu versorgen, versucht Mark Oma Else zu erreichen. Ina protestiert, zum Unwillen ihrer Brüder. Der freundliche Rettungssanitäter versorgt auch ihre Kopfwunde, ehe sich Familie Mörlitz auf den Weg zu Oma Else macht.


    Der Weihnachtstag, 22.36 Uhr

    Familie Mörlitz erreicht Oma Elses Haus, das mit Baumarktlichterketten beschaulich-weihnachtlich geschmückt ist. Es gibt Gans, gluten-, nuss- und laktosehaltige Plätzchen und eine Honigwachskerze, die Vater Mörlitz in einem Anflug von Unwohlsein löscht. Für Ina gibt es vegane Linsensuppe aus der Tiefkühltruhe, ihr Protest wird von Oma Else im Keim erstickt. In den Nachrichten reden die Leute von Frieden auf Erden und Besinnlichkeit, Vater Mörlitz überreicht das Puzzle, die Versandbestätigung für den Roboter und den angekokelten Flamingo, die er aus dem brennenden Wohnzimmer retten konnte. Danach gibt es Eierpunsch, heißen Traubensaft und Supermarktspekulatius, und als Nachbar Gorkemüller pünktlich um Mitternacht mit dem erneuten Anschluss des „PlasmaChristmas 3000“ die gesamte Stadt ins Dunkel stürzt, lächelt Mutter Mörlitz selig-trunken.

  • Der 23. Dezember von Tom



    TM5 (Deus ex machina)


    Da fuhr er, keine fünfzehn Meter vor uns. Ich sah ihn jetzt zum dritten oder vierten Mal, seit ich ihn vor etwa einem halben Jahr entdeckt hatte: Einen 1972er Porsche 914/6, also die stärkere Version desjenigen Autos, das damals vom Volksmund "VW-Porsche" genannt wurde. Etwas mehr als dreitausend Exemplare gab es, und eines davon fuhr bei uns in Münster herum, in recht gutem Zustand offenbar, silbergrau lackiert und mit schwarzem Targa-Dach. Ich beugte mich vor, um bessere Sicht zu haben. Nur diese Ausgabe der 914er-Straßenversionen mit immerhin 110 PS hatte über 200 km/h Endgeschwindigkeit erreicht. Meine Haut vibrierte vor Aufregung. Wenn ich mir etwas wirklich wünschte, vom Offensichtlichen, aber Unerfüllbaren abgesehen, dann dieses Auto.

    "Ich will auch einen", sagte Margot, die neben mir im Fond des Taxis saß.

    "Was?", fragte ich reflexartig zurück und sah überrascht zu ihr.

    "Ich will auch einen", wiederholte sie, blickte aber aus dem Seitenfenster.

    "Einen 1972er 914/6 in silbergrau?", flüsterte ich, denn wenn es so wäre, hätte unsere Ehe ein spätes Wunder ereilt. Nach den vielen Jahren, in denen es ausschließlich darum gegangen war, ihre egoistischen Wünsche zu erfüllen, wäre endlich ich an der Reihe. Ich sah zum Schiebedach des muffigen Daimlers, der wie sein Fahrer nach billigem Aftershave roch, was die Wunderbäume-Phalanx am Rückspiegel nur teilweise ausglich, aber immerhin Margots teures, schweres Parfum zurückdrängte. Der Himmel war grau, mit einem leichten Orangeton. Für später waren wunderbarerweise Schneefälle angekündigt. Ich faltete die Hände zwischen die Oberschenkel, wie ich das als Kind getan hatte, und redete stumm mit dem Weihnachtsmann. Wenn es Dich wider jede Vernunft tatsächlich gibt, dann erfüll mir bitte diesen Wunsch. Nur diesen einen. Ich höre dann auch damit auf, mir ihren vorzeitigen Tod zu wünschen. Versprochen, Kumpel.

    Aber der Traum währte nur kurz.

    "Bist du bescheuert?", schnarrte sie und drehte sich zu mir. "Nein, natürlich keinen dämlichen Porsche, du Blödbacke. Sondern einen TM5. So einen wie der, den Sabine hat."

    Ich konnte im Rückspiegel beobachten, wie der Taxifahrer beide Augenbrauen hochzog.

    "Einen TM5?" Ich rätselte, welcher Hersteller ein Auto dieses Namens baute. Mazda? Wir kamen gerade von Margots Freundin Sabine, aber sie hatte uns kein neues Auto gezeigt, nicht einmal ein japanisches.

    "Thermomix, du Depp."

    "Diese Küchenmaschine?"

    Der VW-Porsche fuhr rechts ran, hielt neben einer Buchhandlung, vor der sich die Menschen stauten, die in letzter Minute noch ein Geschenk brauchten. Im Fahrerfenster des Autos hing ein neongelber A4-Bogen. Ich konnte den Preis nicht ablesen, aber der Wagen stand zweifelsfrei zum Verkauf. Wir passierten die Stelle, und ich beanspruchte meinen verspannten Hals bis zum Maximum, um mir weiter das Auto anschauen zu können. Den Fahrer konnte ich nicht erkennen.

    "Das ist nicht nur eine Küchenmaschine, du Dämlack", blaffte meine Frau, ohne meinen Verrenkungen Beachtung zu schenken. "Das ist die Küchenmaschine. Es gibt nichts Besseres."

    "Wir haben eine Küchenmaschine", sagte ich so beherrscht wie möglich. "Von Krupps. Die war ziemlich teuer."

    Außerdem besaßen wir jeden erdenklichen Schnickschnack, vom elektrischen Eierköpfer bis zum Sushi-Frischhaltegerät - eine Art Humidor, also ein klimatisiertes Aufbewahrungsdings mit neckischer Glaskuppel und eingravierten, japanischen Buchstaben, deren Übersetzung vermutlich lautete: Seht, was für Idioten! Wir benutzten keines dieser Technikwunder jemals, doch unsere Besucher kamen aus dem Staunen nicht heraus. Margot liebte es, ihre Küchengeräte zu zeigen.

    Aber Margots Freundin Sabine hatte einen TM5.

    "Und wenn sie von Familie Krupp persönlich hergestellt worden wäre,", blaffte meine Gattin, "ist es doch kein TM5, du Schimpanse." Sie verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich will einen."

    Ich nickte schwach. Diskussionen mit meiner Frau zu diesem Thema waren fruchtlos. Sie tat keinen einzigen Handschlag in der Küche - wenn überhaupt einer von uns beiden, dann war es ich, der kochte, aber meistens machte das Frau Nippert, unsere Haushaltshilfe.

    "Na gut", murmelte ich.

    "Zu Weihnachten", ergänzte Margot.

    Ich drehte mich wieder zu ihr, der 914 war längst nicht mehr zu sehen. Sie lächelte auf diese widerliche Art. Ich habe dich in der Hand, sagte dieses Lächeln. Und das stimmte.

    "Wie bitte?", fragte ich.

    Sie schaute ostentativ auf die Uhr.

    "Halten Sie an!", befahl sie dem Fahrer.

    "Was soll das?", fragte ich, kannte aber die Antwort.

    "Du hast noch vier Stunden", sagte sie grinsend, schob mich aus dem Auto, mit dem sie kurz darauf davonfuhr.


    "Sie wollen was kaufen?", fragte der Typ und hörte einfach nicht damit auf, mich anzugrinsen. Hinter mir warteten ungefähr zwanzig Menschen, die nutzlose Gerätschaften in den Händen hielten.

    "Einen TM5. Diese Küchenmaschine."

    "Das ist nicht einfach eine Küchenmaschine."

    "Ich weiß. Es ist die Küchenmaschine. Ich brauche eine."

    "Aber ich kann sie Ihnen nicht verkaufen. Die gibt es nur im Direktvertrieb."

    "Im Direktvertrieb?"

    Der Mann nickte lächelnd. Jemand hinter mir nuschelte etwas, in dem das Wort "lahmarschig" vorkam. Ich drehte mich um und schob gleichzeitig die rechte Hand links unter meine Jacke. Dabei sah ich den Mann an, einen schmalen Spätvierziger, dessen Stirn vom kalten Schweiß glänzte. Er roch so ähnlich wie der Taxifahrer.

    Unsere Blicke trafen sich. Er las meinen und verstand, was er da las. Mein rechter Zeigefinger berührte das Holster.

    "Schulljung", murmelte er.

    "Also", sagte ich, wieder dem Verkäufer zugewandt. "Wo gibt es die Direktvertriebsläden?"

    Er lachte. "Nein, keine Läden. Sie müssen eine private Präsentation buchen, bei sich zu Hause. Jemand kommt und zeigt Ihnen das Gerät. Dann können Sie es bestellen. Ein paar Wochen später wird es dann geliefert, soweit ich weiß."

    "Ich brauche aber heute eines. Jetzt gleich."

    Er lachte wieder und beugte sich dabei zur Seite, um dem dürren Mann hinter mir zu winken. "Viel Erfolg dabei."


    Als ich vor die Tür des Kaufhauses trat, fielen die ersten Flocken. Menschen rannten umher, als wären sie schlachtreife Weihnachtsgänse, denen man bereits die Köpfe abgehackt hatte. Ich wurde angerempelt, man trat mir auf die Füße, aber ich reagierte nicht. Natürlich hätte ich meine Glock aus dem Holster ziehen und ein paar von ihnen abknallen können, aber erstens hätte das mehr Aufmerksamkeit erzeugt, als nötig gewesen wäre, und zweitens war schließlich Weihnachten, da tat man so etwas nicht.

    Ich googelte, suchte bei Ebay, stöberte durch Kleinanzeigen. Der Schnee fiel aufs Display meines Smartphones. Dann, endlich, als meine Finger steifzufrieren begannen und ich es kaum noch erwartete, ein Treffer. Im Kleinanzeigenportal einer regionalen Zeitung: "Thermomix TM5, unbenutzt, originalverpackt, VB 2.000 €", bot jemand an. Für Selbstabholer. Das war meine einzige Chance - in Haltern am See, knapp 50 Kilometer von Münster entfernt. Ich tippte die Telefonnummer an. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine freundliche Frauenstimme mit "Fröhliche Weihnachten". Obwohl das Telefon nicht mehr klingelte, klingelte bei dieser Stimme etwas in mir, aber das konnte ich nicht sofort einordnen.

    "Ebenso", erwiderte ich. "Ist der TM5 noch zu haben?"

    "Sie kommen aber rasch zur Sache."

    "Soll ja auch ein Weihnachtsgeschenk sein."

    "Für dieses Weihnachten?"

    Ich nickte, was sie natürlich nicht sehen konnte. "Lange Geschichte." Eigentlich war es eine kurze. Die Geschichte eines einzigen, folgenschweren Fehlers. Geschehen in einem Moment des unangebrachten Vertrauens, der ungewohnten Intimität. Seither wusste Margot zu viel über mich.

    "Wann könnten Sie hier sein?", fragte die Frau. "Ich kann Ihnen das Gerät verkaufen, wenn Sie es bis zwei schaffen. Danach fahre ich zu Freunden, Weihnachten feiern."

    Ich sah auf die Uhr und hob gleichzeitig die andere Hand, um nach einem Taxi zu winken. "Das schaffe ich."


    Das Haus lag fast direkt am Wasser und hatte Blick auf den Stausee, aber ich hatte vom Moment des Eintreffens an nur noch Augen für das silbergraue Auto, das vor der Tür parkte. Ich stieg aus dem Taxi und ging auf den Wagen zu, hob schon die Hand, um unter der dünnen Schneedecke die fünfundvierzig Jahre alte Karosserie zu berühren, als jemand hinter mir "Ey!" rief.

    Ich drehte mich um und fragte ebenso unhöflich: "Was ist?"

    Ich hatte tatsächlich das Glück gehabt, denselben Taxifahrer wie vorhin zu erwischen.

    "Zahlen!", krähte der Mann.

    "Ich habe doch gesagt, es dauert nur ein paar Minuten. Ich muss ja auch wieder zurück nach Münster."

    "Das sagen alle. Ich will mein Geld, oder ich rufe die Polizei."

    Ich schlenderte zu seinem Wagen und beugte mich zum geöffneten Fenster. Der Geruch seines stillosen Duftwassers war sogar hier draußen fast unerträglich.

    "Guter Mann", sagte ich und lächelte ihn an. "Normalerweise erschieße ich Leute nur, wenn ich Geld dafür bekomme. Aber bei Ihnen würde ich eine Ausnahme machen."

    "Wis?", zischte er verblüfft.

    "Zumal Weihnachten ist", erklärte ich fröhlich. Hinter mir öffnete sich die Haustür. Noch in der Drehung zurück zum Haus klappte ich die Jacke ein wenig auf, so dass der Mann etwas sah, das möglicherweise eine Waffe war, vielleicht aber auch nicht. Diese Geste beherrschte ich perfekt. Und ich hatte keine Sorgen deswegen - selbstverständlich besaß ich eine Waffenbesitzkarte für die Glock und natürlich auch einen Waffenschein.


    In der Haustür stand die nächste Überraschung. Wir hatten uns fast zwanzig Jahre nicht mehr gesehen, aber ich erkannte sie sofort. In diesem Moment freute mich der Anblick eines anderen Menschen zum ersten Mal seit Ewigkeiten. Julias Anblick.

    Nach meinem Eindruck war sie nicht spürbar gealtert, aber der Eindruck war vielleicht durch die Erinnerung verklärt - möglicherweise aber bleiben Menschen, die man mal sehr geliebt hat, auch einfach immer etwas jünger als ihre Altersgenossen. Die Ereignisse von damals ploppten aus meinem Gedächtnis hervor wie die Münzen aus einem Spielautomaten, der unerwartet den Jackpot ausschüttet. Drei Jahre hatte unser unfassbares Glück gewährt, dann waren Julia und ihre Familie von einem Tag zum nächsten einfach verschwunden. Die Nachbarn erzählten etwas von einem sehr tragischen, schweren Autounfall, aber keiner konnte damals etwas Genaueres sagen. Ich trauerte einige Jahre und tröstete mich dann mit Margot, deren Beweglichkeit im Bett über vieles hinwegtäuschte. Die Täuschung hielt bis zum zweiten Ehejahr an, dann zeigte sie ihr wahres Gesicht, aber da war es längst zu spät für einen Rückzug.

    Während ich hinter mir hörte, wie das Taxi mit durchdrehenden Reifen davonfuhr, sagte Julia: "Hallo."

    Und ich erwiderte: "Hallo, Julia."

    Sie zog eine Augenbraue hoch, war aber ansonsten nicht sehr überrascht.

    "Wir kennen uns?" Das klang interessanterweise mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.

    "Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so sehr verändert habe."

    "Haben Sie möglicherweise auch nicht. Wie ist Ihr Name?"

    "Malte. Malte Heinrichs."

    Sie nickte nachdenklich und zeigte dabei dieses sehr feine Lächeln, an das ich mich gut erinnerte.

    "Malte", sagte Julia. "Komm doch rein. Ich muss dir einiges erklären."

    Ich schob mir den Schnee von der Jacke, stampfte mit meinen Schuhen auf der Fußmatte herum und folgte ihr ins Haus. Ich musste lächeln, denn ich hatte gerade das erste Gespräch seit Monaten mit einer mir nahestehenden Frau geführt, ohne am Ende jedes zweiten Satzes beleidigt geworden zu sein.


    Es hatte damals tatsächlich einen sehr schweren Verkehrsunfall gegeben - Julias Eltern starben noch im Auto, Julia wurde mit schwersten Schädelverletzungen nach Berlin gebracht. Nach der erfolgreichen OP und einer mehrmonatigen Reha litt sie - und zwar bis heute - an retrograder Amnesie. Julia kam zu ihren Großeltern nach Leudenroda in Sachsen. Sie kannte mich nur aus den alten Briefen. Fotos von mir hatte es keine gegeben; ich scheute es schon seit meiner Kindheit, Aufnahmen von mir machen zu lassen, später dann gehörte es quasi zum Beruf, nicht fotografiert zu werden, schnell zu einer flüchtigen Erinnerung ohne Vergleichsmöglichkeiten zu werden. Die Julia ohne Gedächtnisverlust hatte das damals sehr geärgert. Die rehabilitierte Julia hatte sich für einen Neuanfang entschieden, in Sachsen studiert und promoviert und geheiratet - und ihren Peter, den sie eher respektiert als gemocht hatte, vor einem knappen Jahr an den Krebs verloren. Danach hatte sie sich entschieden, doch in die Nähe von Münster zurückzukehren, um behutsam nach ihren Wurzeln zu forschen. Der VW-Porsche hatte ihrem Mann gehört, und der TM5 sollte vor einem Jahr eine Weihnachtsüberraschung für sie werden. Dabei machte sie sich nichts aus Küchengeräten. Sie liebte es, Teig mit der Hand zu kneten und das Gemüse für die Suppe selbst zu schnippeln, das Essen zu spüren und zu riechen. Im Haus duftete es nach Gebäck. Mein Telefon summte unaufhörlich, Julia hatte am Anfang unseres Gesprächs hin und wieder zur Uhr geschaut, dann aber nicht mehr. Stattdessen hatte sie meine Mimik und, vor allem, meine Hände beobachtet. Meine Hände hatte sie seinerzeit besonders gemocht. Und das, was sie mit ihr gemacht hatten.

    Als es darum ging, von mir zu erzählen, entschied ich mich für Ehrlichkeit, und das fiel mir nicht schwer. Ich erzählte von meinem Tarnjob als Personenschützer und der eigentlichen Arbeit als Saubermann im Rahmen halblegaler Geheimdienstoperationen. Einer Arbeit ohne Netz und Absicherung, weshalb dieser Brief, den Margot bei einem Notar hinterlegt hatte, und der im Fall ihres unnatürlichen Ablebens an die Staatsanwaltschaft zu übermitteln war, eine echte Bedrohung darstellte.

    "Margot Heinrichs", sagte Julia.

    "Das ist meine Frau", bestätigte ich.

    Sie stand auf und setzte sich neben mich aufs Sofa, musterte mich.

    "Ich kann verstehen, warum ich damals in dich verliebt war", sagte sie sanft.

    "Ich bin es umgekehrt immer noch", gestand ich und musste erstmals seit der Nachricht von Julias Verschwinden gegen Tränen ankämpfen. Oder überhaupt Emotionen zeigen, die über geheucheltes Interesse hinausgingen.

    Sie nahm meine Hand.

    "Ich bin Rechtsanwältin, weißt du", sagte sie.

    "Ich hoffe, dass ich auch zukünftig auf die Unterstützung deiner Zunft verzichten kann", antwortete ich freundlich. "Ich bin gut in dem, was ich tue. Und ich hinterlasse keine Spuren."

    "Davon gehe ich aus", sagte Julia und drückte meine Hand.

    "Also?"

    "Ich bin Rechtsanwältin und Notarin."

    "Glückwunsch", erklärte ich.

    "Ich habe in Münster eine Kanzlei übernommen. Von Dr. Richard Gerber."

    "Das sagt mir nichts."

    "Deiner Frau vermutlich umso mehr. Sie war nämlich Mandantin des in den Ruhestand gewechselten Dr. Gerber."

    "Nicht zu fassen", erklärte ich, ehrlich verblüfft, während mir die Implikationen dieses Zusammenhangs deutlich wurden. Ich konnte nicht anders, ich musste grinsen.

    "Es gibt noch etwas, das ziemlich unglaublich ist", sagte Julia, wobei es in ihren Augen glitzerte. "Ich fange nämlich an, mich an dich zu erinnern."

    "Und ich glaube wieder an den Weihnachtsmann", antwortete ich, bevor wir uns küssten.


    "Hallo, Schatz!", rief ich, trat mir die Schuhe ab und stellte das schwere Paket auf den Flurfußboden. Während ich auf eine Antwort von Margot wartete, spielte ich mit mir selbst Beleidigungslotto. Ich tippte auf "Arschloch" oder "Versager".

    "Kannst du mir mal sagen, wo du gesteckt hast, du dämliches Rindvieh?", brüllte sie aus dem Wohnzimmer. "Es ist kurz vor halb sechs."

    "Ich habe ihn", rief ich fröhlich zurück.

    Sie antwortete nicht. Dafür stand sie keine drei Sekunden später vor mir.

    "Nein!", behauptete sie und sah mich mit einer Mischung aus ehrlicher Ehrfurcht und skeptischer Ablehnung an.

    "Fröhliche Weihnachten, Margot."

    Sie antwortete nichts, sondern riss das Geschenkpapier, das mir Julia freundlicherweise überlassen hatte, von der Verpackung. Kurz darauf stand ein neuer, unbenutzter, funkelnder Thermomix auf dem Flurfußboden.

    "Im Wohnzimmer ist auch was für dich", sagte sie noch, hob das Gerät auf und trug es in die Küche. Ich nickte stumm, ging fröhlicher Dinge ins Wohnzimmer, packte die alljährlichen Wollsocken aus - es spielte keine Rolle mehr, dass ich Wolle auf nackter Haut hasste -, legte die Füße auf den Couchtisch und sah mir die letzten Minuten von "Ist das Leben nicht schön?" an.


    Der TM5 musste noch ein weiteres Jahr auf seine Entjungferung warten. Natürlich hatte ihn Margot aufgestellt, und zwar so, dass er selbst zufälligen Besuchern ins Auge fallen musste, aber die Bedienungsanleitung hatte sie nach nur zwei Seiten entnervt in die Ecke gefeuert. Darum ging es ihr ja auch nicht, um den Einsatz der Geräte, sondern - wie bei allem - ausschließlich darum, zu besitzen und nie wieder wegzugeben. Frau Nippert, unsere Haushälterin, die nach den Feiertagen kam, musterte das Gerät skeptisch, um gleich anschließend ihre herrlichen, selbstgeschabten Butterspätzle ganz von Hand herzustellen. Nachdem Margot nur ein paar Tage später bei einem dramatischen Einbruchsversuch ums Leben gekommen war, dahingemetzelt, weil sie offenbar die Diebe auf frischer Tat ertappte, während ich nachweisbar hundert Kilometer entfernt einen bekannten Politiker schützte, kam Frau Nippert sowieso nicht mehr, aber auch ich hatte kein Interesse daran, das teure Ding automatisch mein Essen kochen zu lassen. Viel lieber ging ich mit Julia in ein gutes Restaurant oder sah ihr dabei zu, wie sie die tollsten Speisen in ihrer nahezu elektrofreien Küche zubereitete.


    Nach einer angemessenen Frist zogen wir zusammen, aber der Thermomix geriet schnell in Vergessenheit. Als ich meinen silbergrauen Liebling am Nachmittag des nächsten dreiundzwanzigsten Dezembers in der Garage polierte und dabei aus dem alten Original-Autoradio Weihnachtsliedern lauschte, musste ich an Margot denken, an das Weihnachten ein Jahr zuvor und die vielen glücklichen Ereignisse, die es mit sich gebracht hatte. Ich ging in den Keller, holte das Gerät aus dem Regal, stellte es wieder in die Küche und betrachtete es dann eine Weile. Julia kam, lehnte sich an mich und schaute das Ding ebenfalls an.

    "Schon ein bisschen hässlich, oder?", meinte ich.

    Sie nickte. "Und überflüssig."

    Ich nahm das Gerät wieder von der Arbeitsplatte, packte es ein, zog mir eine Jacke über und ging nach draußen. Ich war unschlüssig, ob ich es einfach auf den Gehsteig stellen oder in der Tonne überantworten sollte, als vor dem Nachbargrundstück ein Taxi hielt.

    Und so kam auch noch diese Teilgeschichte zu einem versöhnlichen Ende.


    Fröhliche Weihnachten!

  • Der 24. Dezemer von churchill



    Fürchtet euch nicht


    Die letzte Adventswoche ist angebrochen. In diesem Jahr ist die Zeit der Erwartung deutlich verkürzt. Die Zahl der Adventskränze, an denen die vierte Kerze gar nicht mehr angezündet wird, weil das Lichtermeer des Weihnachtsbaums am 24. Dezember bereits die Vorherrschaft übernommen hat, dürfte beträchtlich sein. In den Zeitungen wird unter anderem darüber diskutiert, ob die Bezeichnung „Weihnachtsbaum“ überhaupt richtig oder ob „Christbaum“ nicht passender sei.


    Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen zum Weihnachtsfest keinen Gottesdienst besuchen will. Andere Umfragen heben hervor, dass einer Mehrheit der Deutschen der Gottesdienstbesuch wichtig ist. In den sozialen Netzwerken bekennen sich jeweils 20% der Kommentierenden zu den genannten Positionen. 60% beschimpfen diesbezüglich die (Amts-) Kirchen oder Angela Merkel. Alice Weidel stellt fest, dass die christlichen Kirchen „durch und durch politisiert“ seien und aktuell eine „politische Rolle wie im Dritten Reich“ spielten. So bleibt wohl nur noch ihre Partei als Verteidigerin jener christlich-abendländischen Kultur übrig, von der niemand wirklich sagen kann, woraus sie besteht.


    In jene friedliche Zeit hinein feiern auch jetzt wieder Millionen Menschen in unserem Land das Fest der Geburt eines aus bescheidenen Verhältnissen stammenden und in noch bescheideneren Verhältnissen zur Welt gekommenen Babys namens Jesus. Krippenspiele bleiben beliebt und treffen vor allem bei Omas und Kindern auf Wohlwollen.

    An der Berufsbildenden Schule, an der ich unterrichte, wird am am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien ein Gottesdienst angeboten. Es ist ein konfessionsübergreifender und auch Angehörigen anderer Religionen offen stehender Gottesdienst, der in einer Kirche stattfindet. Die Teilnahme ist freiwillig. Die Kollegen sind gehalten, die Schüler in den Gottesdienst zu begleiten. Einige nehmen das gerne wahr und beteiligen sich sogar im Lehrerchor an der Gestaltung der Feier. Andere haben eine ganz wichtige Klassenarbeit zu schreiben, die selbstverständlich nur an diesem Tag stattfinden kann. Wieder andere betonen, dass die gesamte Klasse nicht zum Gottesdienst wollte. Wobei diese Aussage einen gewissen spekulativen Anteil enthalten muss, da sich herausstellt, dass die Klasse seitens des Lehrers gar nicht über das Stattfinden des Gottesdienstes informiert worden war.


    Der Gottesdienst verläuft zur Zufriedenheit der Teilnehmer. Die von Schülerinnen und Schülern formulierten Texte finden ebenso Anklang wie die musikalischen Beiträge in deutscher, englischer, lateinischer und spanischer Sprache. Es erklingt die Botschaft vom Kind, das die Welt verändern kann. Von den Hirten, die als Außenseiter der Gesellschaft als erste das Göttliche im Kind erfahren. Von den Engeln, die uns die Augen und Ohren öffnen für die Frohe Botschaft. Und die manchmal aussehen wie Bekannte und Freunde. Die uns zu verschiedenen Augenblicken unseres Lebens zurufen: „Fürchtet euch nicht!“


    Es ist schön, wenn ein Kalenderjahr in der Schule so friedvoll und optimistisch zu Ende geht. Die Schüler machen sich nach der fünften Stunde auf den Heimweg. Die Lehrer müssen noch ein wenig bleiben, denn der Schulleiter hat eine Gesamtkonferenz angesetzt. Es geht um eine Schulordnungsmaßnahme gegen eine Schülerin, die einen Kollegen bedroht habe. Teilnehmer der Konferenz sind die Schülerin nebst Vater, Mutter und Bruder. Zwei Vertreter der Eltern und zwei der Schüler. Und ca. neunzig Lehrer. Zunächst schildert der betroffene Kollege den Fall. Die Schülerin habe anlässlich einer Notendiskussion geäußert: „Sie wollen doch bestimmt, dass Ihren Kindern nichts passiert.“. Ja, das ist eine Bedrohung, das ist heftig. So etwas darf nicht vorkommen. Der Kollege schildert ausführlich, was diese Aussage bei ihm und seiner Frau ausgelöst hat.


    Dann darf sich die Schülerin äußern. Sie besucht eine jener Klassen, in denen der Hauptschulabschluss nachgeholt werden kann. Das intellektuelle Niveau solcher Klassen und demzufolge auch der Schülerin ist überschaubar. Jene Schülerin stellt sich nun selbst und der Situation. Sie wendet sich der Versammlung zu und räumt sofort ein, dass sie einen Fehler gemacht habe. Sie sagt, es sei „ein Spaß“ gewesen, sie habe es nicht so gemeint und sich damals auch sofort entschuldigt. Auf Rückfrage aus dem Kollegium konnte der Lehrer dies nicht bestätigen oder dementieren, da er so geschockt gewesen sei. Die Schülerin betonte, dass sie niemals wirklich vorgehabt habe, die Familie des Lehrers zu bedrohen. Dann setzt sie sich wieder in die erste Reihe, ihre Familie neben sich und im Rücken die neunzigköpfige Lehrerschar. Die Aussprache beginnt. Es äußern sich diverse Kollegen. Es fallen Begriffe wie „Zeichen setzen“, „Härte zeigen“, „Exempel statuieren“. Wir Lehrer können uns schließlich nicht alles gefallen lassen. Stimmt schon.


    Ich blicke in den Saal und fühle mich bedroht. Nicht von der Schülerin. Sondern von den Blicken und dem Tonfall einiger Kollegen. Die Schülerin hat all dies im Nacken. Der betroffene Kollege steht weiterhin vorne auf dem Podium, den Blick in die Menge gerichtet, genau betrachtend, wer für und wer gegen ihn spricht. Ich denke vier Stunden zurück. Die Sache mit den Hirten und den Engeln. In der Kirche waren es noch die Verkünder des Friedens. Jetzt in der Konferenz regieren die Racheengel.


    Da erhebt sich ein älterer Kollege und bittet um Sachlichkeit und Fairness. Er ruft dazu auf, den Emotionen nicht das Feld zu überlassen. Ich höre den Engel, der den Hirten zuruft: „Fürchtet euch nicht“. Der weitestgehende Antrag, das Mädchen aus der Schule auszuschließen, findet später keine Mehrheit der nicht gerade paritätisch besetzten Versammlung. Es wird beschlossen, die Schülerin für zwei Schulwochen vom Unterricht auszuschließen. Einige Kollegen befürchten, sie könne dies als Urlaub empfinden. So können nur Leute reden, die die Schülerin in der Konferenz nicht angesehen und sie nicht angehört haben. Als der Schülerin das Urteil, ach nein, der Konferenzbeschluss mitgeteilt wird, bedankt sie sich dafür, noch eine Chance zu bekommen. Einige Kollegen gehen danach wütend und frustriert nach Hause und in die Weihnachtsferien. Mit ein paar anderen gehe ich nach der Konferenz ins Lehrerzimmer. Im Kühlschrank stehen noch einige Flaschen Bier von der Weihnachtsfeier. Wir stoßen an und freuen uns über den Friedensengel.


    Fürchtet euch nicht.


    Prost.


    Frohe Weihnachten zusammen!