Der Büchereulen-Adventskalender 2017

  • Der 1. Dezember von Voltaire



    Der Schluck aus der Flasche


    Ein wenig nervös war Jasmin schon. Denn heute sollte sie die Eltern ihres zukünftigen Verlobten kennenlernen.

    Heute am Heiligen Abend.

    Für sie immer ein besonderer Tag – auch wenn er heute wohl ganz besonders sein würde.


    Kritisch überprüfte sie ihr Outfit.

    Es war okay – nicht aufdringlich, nicht zu konservativ; ganz einfach aufgeschlossen fraulich.


    Jasmin nahm sich ein Taxi. Diese Großzügigkeit sich selbst gegenüber, gönnte sie sich heute einfach mal. Es war schließlich nicht jeder Tag ein Heiliger Abend mit angehefteter Verlobung.


    Franks Eltern wohnten in einer großen Villa (etwas protzig fand Jasmin). Das Haus war weihnachtlich geschmückt (weniger wäre hier wohl mehr gewesen). Aber egal – sie wollte sich ja nicht mit den Eltern verloben.


    Sie läutete.

    Ein junge Frau – offenbar eine Hausangestellte – öffnete.

    „Darf ich Ihren Mantel haben?“

    Jasmin entledigte sich des Kleidungsstücks und war doch ein wenig eingeschüchtert. Wo war sie denn hier gelandet?


    „Folgen Sie mir bitte.“

    Jasmin wurde in ein großes Wohnzimmer geführt. Dort warteten bereits Frank und seine Eltern auf sie. Alles wirkte hier ein wenig steril und der Blick von Franks Vater war mehr als eisig.


    Jasmin grüßte aber als Antwort kam von Franks Vater nur:

    „Sie sind also die junge Dame die sich hier ins gemachte Nest setzen will.“ Jasmin erstarrte innerlich. Was sollte das denn bitteschön?

    Aber in dieser Art ging es weiter.

    „Sollte mein Sohn wirklich nicht mehr zur Besinnung kommen, dann werden wir einen knallharten Ehevertrag aufsetzen.“

    „Ich habe einige Erkundigungen über Sie eingeholt. Ihre Eltern haben Ihnen hoffentlich nicht deren Gene mitgegeben. Ihr Vater ist im Gefängnis gestorben und Ihre Mutter scheint ja in einer staatlichen Pflegeeinrichtung untergebracht zu sein. Hat sie erst einen oder waren schon mehrere Suizidversuche.“


    Frank machte keinerlei Anstalten ihr beizustehen. Auch seine Mutter schaut zu Boden; sie wusste wohl, dass ihre Meinung hier absolut nicht gefragt war.


    Und Franks Vater machte munter weiter.

    „Ihr Vater hat doch einen riesigen Geldbetrag unterschlagen.“


    „Das hat man ihm die Schuhe geschoben.“ Jasmin wurde langsam wütend.

    „Ja, das sagt man dann so. Eine typisches kriminelles Verhalten – erst zum Verbrecher werden und dann auf unschuldig machen.“


    Jasmin schaute auf Frank. Und dieses Weichei sollte ihr Verlobter werden? Nein – und nochmals nein.


    „Ich denke es ist jetzt besser wenn ich gehe. Ich wünsche Ihnen noch ein gesegnetes Weihnachtsfest. Ich finde allein raus!“


    Jasmin verließ das Zimmer, riss ihren Mantel von der Garderobe und knallte die Haustür mit einem Schwung hinter sich zu.


    Wo war sie da nur hineingeraten?


    Glücklicherweise befand sich nur wenige Meter vom Eingangstor eine Bushaltestelle. Jasmin setzte sich im Wartehäuschen auf die Bank. Der Bus würde erst in 40 Minuten kommen.

    In Gedanken ging sie diesen Abend noch einmal durch. Und langsam kamen ihr die Tränen. Sie merkte kaum, das sich jemand neben hockte.


    „Guten Abend.“ Jasmin schaute die Gestalt an. Es war ein Mann, sah aus wie Penner, einer dieser bedauernswerten Obdachlosen. Jasmin wunderte sich. Der Mann wirkte sehr gepflegt auch wenn seine Kleidung schon mehrmals geflickt war, aber sie war sauer und verströmte auch keinen unangenehmen Geruch.

    Der Mann hatte lange graue Haare und einen Bart, der Billy Gibbons und Dusty Hill zur Ehre gereicht hätte. In der Hand hielt er eine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Wahrscheinlich Korn, dachte Jasmin.


    „Trink einen Schluck – der wird dir guttun.“

    „Danke, aber ich mag keinen Korn.“ Jasmin bemühte sich freundlich zu bleiben. Sie wollte lieber mit sich und ihrem Kummer allein sein.

    Sie hatte keine Lust auf eine Unterhaltung in einem Wartehäuschen und sie wollte auch keinen Alkohol.


    „Das ist kein Korn. Das ist etwas ganz Besonderes, etwas, das es nur am Heiligen Abend gibt. Trink einen Schluck – du wirst es nicht bereuen.“ Er schaute sie sehr freundlich an und lächelte, ein Lächeln, das um Vertrauen warb und das einfach nur ehrlich und empathisch war.


    „Okay.“ Jasmin nahm die Flasche und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck. Und das was jetzt passierte, das würde sie niemals vergessen.


    „Bist du bereit für eine kleine Reise?“ Der bärtige Mann schaute sie fragend an.

    „Ich bin zu allem bereit.“ Irgendwie hatte dieser Schluck aus der Flasche es geschafft ihre Stimmung aufzuhellen.

    „Dann schließe deine Augen und vertrau mir einfach.“


    Jasmin hatte ein Gefühl als würde sie schweben. Aber sie hielt die Augen geschlossen.


    „Wir sind da. Du kannst deine Augen jetzt öffnen. Und das was gleich sehen wirst, wird nicht ganz einfach zu verdauen sein, aber du wirst es sicher richtig einordnen können.“


    Sie öffnete die Augen und glaubte gleichzeitig ihnen nicht trauen zu dürfen.


    Was sie sah war das Büro ihres Vaters. Er saß grübelnd an seinem Schreibtisch und schüttelte immer wieder seinen Kopf- Er wirkte ratlos.

    Dann stand er auf und ging offenbar in das Zimmer seines Chefs.

    Jasmin staunte nicht schlecht, als sie in diesem Chef den Vater von Frank erkannte. Sie hatte nicht gewusst, das ihr Vater für diesen Mann gearbeitet hatte.


    „Dein Vater hat ihm von der Unterschlagung erzählt und ihm gesagt, er werde herausfinden, wer dafür verantwortlich sei. Darauf kam dieser Herr Brinckmann in Panik, der er selbst hatte die Unterschlagung vorgenommen. Geld an der Steuer vorbei. Und so kam es, dass er zusammen mit seinem Kompagnon alles so manipulierte, dass dein Vater der Schuldige war. Aber er war auch so dumm und hat die belastenden Unterlagen in seinem Tresor im Schlafzimmer verwahrt. Was du jetzt mit diesem Wissen machst, mein Kind – das überlasse ich dir.“


    Jasmin schreckt hoch. Sie war tatsächlich in dem Wartehäuschen eingeschlafen. Welch ein Traum.


    Doch dann fiel ihr Blick auf die Flasche, die ihr der bärtige Mann hingehalten hatte. Und sie besah sich das Etikett genauer.

    Da stand:

    „Liebe Jasmin – ein Schluck aus der Flasche der Erkenntnis ist nur am Heiligen Abend möglich. Ich wünsche dir ein gesegnetes Weihnachtsfest. Dein bärtiger ZZ Top Mensch.“


    Es war also doch kein Traum gewesen.


    Ja, was soll ich jetzt noch groß erzählen?

    Jasmin verabredete sich mit einem jungen Staatsanwalt – der sie nicht, nachdem sie begonnen hatte zu erzählen, wie eine Irre ansah. Er schien sie vielmehr ernst zu nehmen.


    „Glauben Sie mir?“ Sie schaute ihn unsicher an.

    Nach einer Weile sagte er:

    „Ja, ich glaube Ihnen. Denn ich hatte heute Nacht einen merkwürdigen Traum. Ein bärtiger Mann sagte zu mir, ich sollte mich auf eine ungewöhnliche Besucherin einstellen und ich sollte verdammt noch mal glauben, was sie mir erzählen würde und man müsse Dinge auch mal nicht als Jurist beurteilen. Und das mache ich gerade:“


    Das Ende ist schnell erzählt.

    Jasmins Vater wurde voll rehabilitiert, Franks Vater wurde mit den Beweisen konfrontiert und war voll geständig.


    Ja, und der junge Staatsanwalt und Jasmin sind schon seit einiger Zeit ein Paar.


    „Und das ist schließlich das Wichtigste!“ Der Mann mit dem grauen Bart lachte in sich hinein. Mal wieder ganze Arbeit geleistet.


    Übrigens: Die Geschichte ist wahr, das schwöre ich bei meinen Pommes-Frites-Bäumen und bei meinen Pizza-Feldern.

  • Der 2. Dezember von Jeanette



    Meine Schwiegermutter und der Engel-Skandal


    Freitag, 1. Dezember


    Peter hat angekündigt, dass seine Mutter uns dieses Jahr zu Weihnachten besucht. Das musste ja mal über uns hereinbrechen! Er hat sich irgendwie komisch benommen. Ich glaube, er verschweigt mir etwas.


    Samstag, 2. Dezember


    Ich habe hartnäckig nachgebohrt. Zögernd hat Peter zugegeben, dass seine Mutter schon am Dienstag kommt und bis Weihnachten bleibt. Fast drei Wochen mit der alten Rassistin unter einem Dach. Um Himmels willen!


    Sonntag, 3. Dezember


    Ich habe das ganze Haus geputzt und ein Zimmer für Schwiegermutter hergerichtet. Mich plagen böse Vorahnungen. Nur noch zwei Tage!


    Montag, 4. Dezember


    Luca hat in der Schule einen Engel gebastelt. Er ist dunkelhäutig. „Wie mein Freund Mojo“, hat Luca gesagt.


    Dienstag, 5. Dezember


    Das Unheil ist über uns hereingebrochen. Schwiegermutter hat genau fünf Minuten gebraucht, um den dunkelhäutigen Engel zu entdecken. Sie hat sich den ganzen Abend um Lucas psychische Gesundheit gesorgt. Dazu hat sie abwechselnd über die Lehrerin und mich geschimpft. Miese Pädagogen und Rabeneltern, das arme Kind! Ein Skandal!


    Mittwoch, 6. Dezember


    Auch Mira hat im Kindergarten einen Engel gebastelt. Er ist weiß wie frisch gefallener Schnee. Gott sei Dank. Schwiegermutter hat sich gefreut.


    Donnerstag, 7. Dezember


    Mira hat ihrem Engel das Gesicht braun angemalt. „Jetzt sieht er aus wie meine Freundin Malou“, hat sie gesagt. Schwiegermutter hat ausgesehen, als würde sie gleich zusammenbrechen. Ist sie leider nicht. Stattdessen hält sie jetzt meine beiden Kinder für verrückt.


    Freitag, 8. Dezember


    Schwiegermutter war mit den Kindern Eislaufen. Dabei ist sie gestürzt. Leider hat dies in ihrem Hirn nichts zurechtgeschüttelt. Ausgerechnet ein dunkelhäutiger Mann hat ihr aufgeholfen. Seitdem zetert sie über diesen frechen Angriff auf ihr Weltbild.


    Samstag, 9. Dezember


    Wir waren alle zusammen auf dem Weihnachtsmarkt. Am Glühweinstand hat Schwiegermutter zwei Farbige entdeckt. „Die müssen auch alles verderben“, hat sie geschimpft. Deshalb hat sie uns den Tag verdorben. Rassismus statt Glühwein und noch zwei Wochen bis Weihnachten.


    Sonntag, 10. Dezember


    Schwiegermutter hat die beiden schlimmsten Dorftratschen kennengelernt und ungefragt zum Kaffeeklatsch eingeladen. Leider sind die beiden schwerhörig und ich kann trotz geschlossener Tür und „O Tannenbaum“ in voller Lautstärke jede einzelne rassistische Äußerung verstehen. Die Dorftratschen finden den Engel-Skandal auch ganz und gar skandalös. Bald erfährt das ganze Dorf, dass meine Familie sie nicht mehr alle hat.


    Montag, 11. Dezember


    Schwiegermutter hat in der Zeitung ein Los für eine Weihnachtslotterie zugunsten von hilfsbedürftigen Menschen entdeckt. „Man muss doch den Armen helfen!“, hat sie gesagt und gleich angefangen, das Formular auszufüllen. Auf der Liste habe ich Aktionen in Afrika entdeckt. „Auch wenn sie schwarz sind?“, habe ich süffisant gefragt. Da hat Schwiegermutter aber blöd geschaut!


    Dienstag, 12. Dezember


    Ich habe das Los im Müll gefunden.


    Mittwoch, 13. Dezember


    Schwiegermutter hat Luca von der Schule abgeholt und dabei seine dunkelhäutigen Klassenkameraden gesehen. Seitdem wiederholt sie in einem fort: „Unerhört! Das arme Kind!“


    Donnerstag, 14. Dezember


    Schwiegermutter hat nach reiflicher Überlegung beschlossen, Luca eine teure Privatschule zu zahlen. „Ich kann doch nicht zulassen, dass ihr das Kind so verkommen lasst!“ Ich habe dankend abgelehnt. Ihren vorwurfsvollen Blick habe ich jetzt noch vor Augen.


    Freitag, 15. Dezember


    Schwiegermutter hat angekündigt, dass sie morgen schon abreist. Weil sie es „in diesem Irrenhaus keine Sekunde länger“ aushält und den Anblick „dieser skandalösen Engel nicht mehr ertragen kann.“ Ein dickes Dankeschön an die skandalösen Engel!


    Samstag, 16. Dezember


    Leider hat sich Schwiegermutter anders entschieden. Noch eine ganze Woche bis Weihnachten!


    Sonntag, 17. Dezember


    Unser Dorfpriester ist ein naiver Idiot, laut Schwiegermutter. Er hat es gewagt, in seiner Predigt Respekt und Nächstenliebe für alle Menschen zu fordern. „Dann tritt doch zu einer afrikanischen Buschreligion über“, hat Peter sich zu erwidern getraut. Immerhin haben wir jetzt einen ruhigen Abend. Schwiegermutter hockt auf ihrem Zimmer und schmollt. Da kann sie gerne ein paar Tage bleiben!


    Montag, 18. Dezember


    Leider ist Schwiegermutter heute Morgen wieder aufgetaucht. Später ist sie in die Stadt gefahren. Weihnachtsgeschenke kaufen. Nach nicht mal zwei Stunden ist zurückgekommen – mit leeren Händen. „Diese ganzen schwarzen Bettler in der Fußgängerzone sind eine Zumutung. Da kann ich doch nichts kaufen!“ Ich überlege noch, wie ich den Kindern erklären soll, warum ihre Oma keine Geschenke für sie hat.


    Dienstag, 19. Dezember


    Luca hat seinen Freund Mojo mit nach Hause gebracht. Schwiegermutter wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Mojo hat ihr artig die Hand geschüttelt. Darauf ist Schwiegermutter mit angeekeltem Blick ins Bad geflitzt, zum Hände waschen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gesehen. Zum Glück für den armen Mojo!


    Mittwoch, 20. Dezember


    Schwiegermutter hat den Kindern die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Dabei hat Luca sie auf Melchiors Hautfarbe aufmerksam gemacht. „Wie mein Freund Mojo, den du nicht magst.“ Danach hatte Schwiegermutter keine Lust mehr zum Vorlesen. Stichwort: Afrikanische Buschreligion.


    Donnerstag, 21. Dezember


    Heute haben wir den ganzen Nachmittag Plätzchen gebacken. Schwiegermutter hat sich geweigert, Engel aus Schokoteig auszustechen. Dabei passt der farblich so gut zu ihrer Gesinnung. Ich glaube, sie dreht jetzt komplett durch. Und ich auch! Immer noch drei Tage bis Weihnachten.


    Freitag, 22. Dezember


    Heute hat Lucas Klasse das Krippenspiel aufgeführt. Mojo hat einen Engel gespielt und seine Mutter hat sich ausgerechnet neben Schwiegermutter gesetzt. Die hat sich deswegen in der Pause vom Acker gemacht. Luca hat geheult, weil Oma seinen großen Auftritt als Josef verpasst hat.


    Samstag, 23. Dezember


    Beim Frühstück hat Peter aus der Zeitung vorgelesen, dass das Jesuskind aufgrund seiner Herkunft vermutlich dunkelhäutig war. „Lügenpresse!“, hat Schwiegermutter geschimpft. Ich habe kurzentschlossen einen Weihnachtsmann bei einer Agentur gebucht. Ich hoffe, der kann verhindern, dass Weihnachten eine komplette Katastrophe wird.


    Sonntag, 24. Dezember


    Ich fasse es nicht! Der Weihnachtsmann ist pünktlich gekommen, er hatte das richtige Kostüm an und einen Sack mit Geschenken dabei. Aber Schwiegermutter hat ihn sofort hinausgeworfen, weil …


  • Der 3. Dezember von Tante Li



    Stallwache mit Knopf


    Da sitzt er nun und traut sich nicht heim. In dem Gemeinschaftsraum stehen vier runde Tische mit je sechs bis acht Stühlen und zwei ausgelatschte Sofas an den beiden gegenüberliegenden Innen­wänden. Vor den drei, in je acht kleine Quadrate geteilten, doppelten Fenstern, fliegen die ersten weißen Flocken vorbei. Bei diesen Plusgraden wird der Schnee keine feste Schicht bilden. Charlie schaudert bei dem Gedanken an Matsch, der in seine Socken quillt.


    Heute sind nur fünf andere da. Herbert und Karl sitzen am vorderen Tisch über einer langsame Partie Schach. Billy und Alex kuscheln sich auf einem Sofa. Jeweils in ein eigenes Buch vertieft. Thomas lehnt an dem kleinen Tresen am Eingang und wartet auf weitere Gäste. Er hat Charlie sei­nen Lieblingstee gemacht und von dem selbst gebackenen Apfelschmandkuchen ein Stück abge­schnitten. Mit einem ordentlichen Haufen Sahne und einem mitleidigen Lächeln serviert: „Hier, Knopf, Eiweiß für die Seele.“ Die Anzüglichkeit verpufft in der kühlen Atmosphäre.


    Knopf! Nach drei Jahren immer noch dieser Spitzname. Nur, weil er beim ersten Auftauchen in der Scene einen Knopf zu wenig an seinem Hemdkragen offen gehabt hatte. Thomas war der Erste, der ihm beim Tanzen in der Disco gegenüber getreten war und seine Finger nicht davon lassen konnte. Charlie war so erschrocken über den Zugriff gewesen, dass er Thomas‘ Arm heftig wegge­schlagen hatte und der Knopf in hohem Bogen in die tanzende Menge geflogen war. Um der Pein­lichkeit zu entgehen, sich für seine übertriebene Reaktion zu entschuldigen, hatte er sich erst recht lächerlich gemacht, als er versuchte seinen Knopf zwischen den bewegten Beinen der anderen Männer auf dem von unten beleuchteten Tanzboden zu finden. Seinen Spitznamen hatte er sich aber erst richtig verdient, als er am nächsten Tag am frühen Abend bei der Diskothek auftauchte und die Putzleute fragte, ob sie nicht einen Knopf gefunden hätten. Das machte dann mit mal mehr, mal weniger freundlichem Gelächter die Runde durch die Scene.


    Thomas kann er inzwischen aber gar nicht mehr böse sein. Jeder noch so kleine Scherz sei ihm gegönnt. Hatte er doch erst vor fünf Wochen seinen langjährigen Lebenspartner an Aids verloren. Deshalb hatte er sich für den Dienst am Heiligen Abend als „Stallwache“ einteilen lassen. Charlie überlegte, was er ihm Aufmunterndes sagen könnte. Aber entweder war es zu platt oder zu per­sönlich. Die Beerdigung war schon schlimm genug gewesen. Diese leeren Phrasen von den meis­ten Leuten. Aber vielleicht besser geheuchelte Anteilnahme als das heimliche „selber schuld“, das manche Mienen verrieten.


    Wenn wenigstens Stefan kommen würde. Charlie fand sein tuntiges Gehabe übertrieben, aber zu­mindest würde Stefan-“Teekanne“ ein wenig Leben in die Bude bringen. So wie letzten Samstag, als er mit Einkaufstüten bepackt hereinstürmte, sich mit überschlagender Stimme über den Ad­ventswahnsinn in den Geschäften ausließ und jeden im Raum mit Küsschen versah. Da bekam Charlie wenigstens eine kleine Zärtlichkeit ab.


    Er rührt die Kandisbröckchen in seinem Tee. Das leise Klingeln erinnerte an das Christkindglöck­chen, mit dem seine Eltern ihn und seine große Schwester früher in das ungewohnt umgestaltete Wohnzimmer mit festlich geschmücktem Weihnachtsbaum gerufen hatten. Die hübsch verpackten Geschenke, die darunter lockend angeordnet waren, durften nicht angerührt werden, bis die alten, deutschen Weihnachtslieder mit heiligem Ernst gesungen waren.

    Wie das wohl heute ablaufen wird? Vielleicht bringt Claudia ihren Freund und nun offiziell Verlob­ten Christopher mit. Quasi als Ersatz für ihren verlorenen Bruder.

    Charlie wirft einen Blick auf die Plastiktüte, in der er die Geschenke für seine Familie mit sich her­umschleppt. Sogar für Christopher hat er eine Kleinigkeit eingepackt. Viel konnten sie ja nicht von ihm erwarten. Mit seinem Hilfsjob kommt er nur knapp so über die Runden.

    Was sie wohl am meisten schmerzt? Dass er sein Jurastudium nicht fortführen konnte – oder dass er nicht mehr mit in die Kirche gehen wollte – oder seine „sündhaft-unnatürliche“ Lebensweise, für die sie kein Verständnis aufbringen konnten? ‚Was mach‘ ich denn schon Schlimmes? So selten, wie ich mit anderen Männern zum Zuge komme!‘ Nur einen festen Freund hatte er bisher gehabt. Mit Armin war alles leicht. Da konnte er sogar seiner Familie sagen, wie er schon lange empfand. Doch war diese „Liebe“ schon letztes Jahr weitergeflattert. Nun sitzt er hier allein und schaut in das Schneegestöber draußen.


    Plötzlich stellt Thomas zwei dampfende Tassen Glühwein auf den Tisch und nimmt bei ihm Platz. „Fällt dem Weihnachtsmann nicht mehr ein, wo er seinen Schlitten geparkt hat?“ Dabei deutet er auf die Tüte mit den Geschenken. Charlie überlegt krampfhaft eine witzige Replik. Doch er ist im Nachteil. Er hatte keine halbe Stunde Zeit, sich einen Spruch zu überlegen. Ein Blick in Thomas‘ Gesicht zeigt ihm aber, dass dieser nicht nur zum Scherzen hergekommen ist. Also kann ihm Charlie auch gleich sein Leid klagen: „Ich will meinen Leuten nicht das Fest verderben.“ „Indem du gar nicht erst erscheinst?“ „Genau!“ „Solange es noch Deine Leute sind, wirst du dich wohl oder übel mit ihnen herumärgern müssen.“ „Vielleicht sind sie es ja schon längst nicht mehr.“ „Vielleicht redest du dir das nur ein, weil du den Konflikten ausweichen willst?“ „Zu Weihnachten will ich kei­nen Streit.“ „Wozu Streiten, wenn schon alles gesagt ist. Manchmal ist es wichtiger, einfach nur da zu sein.“


    Thomas schiebt Charlie eine der warmen Tassen zu. Charlie probiert vorsichtig die süße, fruchtige Gewürzbrühe. Zu viel Geschmack!

    „Nun, dann bin ich eben jetzt hier bei euch. Ist doch auch nicht verkehrt, oder?“ Thomas schenkt ihm ein echtes Lächeln: „Ich freue mich, dass ich nicht umsonst hier Dienst schiebe. Ist jedenfalls besser als letztes Jahr der Heilige Abend auf der Intensivstation. Die lange Festplanung, der schö­ne Braten und die ganze Weihnachtsdeko - alles für die Katz‘.“

    „Wie geht es dir denn jetzt?“ traut sich Charlie zu fragen. Thomas antwortet wehmütig: „Ach ja, es tut mal mehr, mal weniger weh. Toni hat mir ja verboten zu jammern. Aber manchmal ist es schon schwer. Und im Grunde kann er mich nicht mehr schimpfen.“ Er seufzt. „Was gäbe ich d‘rum, mich noch ‘mal richtig mit ihm zu fetzen. Unsere Auseinandersetzungen waren immer voll mit den unter­schiedlichsten Gefühlen. Das vermisse ich am meisten.“ Jetzt hat er Tränen in den Augen. Panik erfasst Charlie. Was sollte er tun, wenn Thomas hier losheult. Nervös nimmt er einen großen Schluck vom Glühwein, verschluckt sich prompt und hustet los. Thomas springt auf und klopft ihm kräftig den Rücken. „Langsam Knöpfchen, nur nicht hektisch werden.“


    „Schachmatt!“ tönt es vom vorderen Tisch. Karl erhebt sich, streckt sich lang und verbeugt sich mit großer Geste tief vor Herbert. Dieser greift sich den geneigten Kopf und gibt Karl einen lauten Schmatz auf den Mund. „Gratuliere Männe! Ein raffiniertes Spiel.“

    Thomas ruft durch den Raum: „Na wunderbar! Dann können wir ja jetzt alle etwas miteinander spielen.“

    Alex und Billy tauchen aus ihren Büchern auf und rekeln ihre verkrampften Glieder.

    „Hexentanz!“ ruft Alex. „Flusspiraten!“ schlägt Charlie vor. Karl ist für „Risiko!“ und Herbert für „Mensch ärgere mich!“ Billy sagt auch „Flusspiraten!“ Also holt Thomas aus dem Spieleregal das Brettspiel, bei dem man sich auf einem gemalten Fluss streckenweise mit einem willigen Beifahrer ein Boot teilt, um schneller fahren zu können und bessere Chancen bei Angriffen von anderen zu haben, aber bei der besten Gelegenheit, den Partner ins Wasser schmeißt, um mit den unterwegs erbeuteten Schätzen alleine ins Ziel zu kommen und mehr Punkte zu ergattern.


    Das Spiel wird mit hochfliegenden Emotionen belebt und alle haben ihren Spaß an den aufgesetz­ten Gehässigkeiten und Schmeicheleien, die von Runde zu Runde und Partner zu Partner wech­seln. Die Zeit vergeht wie im Flug. Nach einem besonders lebhaften Spiel macht Thomas in der Küche die Würstchen heiß; Alex und Billy decken den Tisch. Karl holt den bunten Kartoffelsalat aus dem Kühlschrank und Herbert bringt von dort vier verschiedene Sorten Senf und die Meerret­tichsahne mit. Charlie zündet alle Kerzen an, die er findet und verteilt sie im Raum.


    Thomas öffnet mit geübter Hand den Champagner, gießt allen mit Schwung ein und erhebt sein Glas: „Lasst uns froh und munter sein!“ Herbert und Karl genügt ein Blick und sie setzen gleichzei­tig in das bekannte Adventslied ein. Nur aus der Zeile „Bald ist Nik'lausabend da“ wird „Bald ist Dick Klaus abends da“. Die anderen singen mehr oder weniger gekonnt mit - Hauptsache fröhlich. Während der Mahlzeit erklingen dezent Gospel-Chöre vom CD-Player. Zum Nachtisch gibt es das leckere Tiramisu von Alex und Plätzchenvariationen von Karl und Herbert. Die Gespräche kreisen um die verschiedenen Rezepte und Erinnerungen an Köstlichkeiten der Kindheit.


    Die Glöckchen an der Eingangstür bimmeln plötzlich wild und ein kalter Luftzug wallt durch den Flur in die gemütliche Stube. Thomas springt auf. Da erscheint Fred am Tresen und ruft: „Frühliche Weihnachten! Geliebte im Herrn! Hallelolliah!“ Seine Alkoholfahne ist deutlich. Die Sitzenden seuf­zen ergeben: „Frohe Weihnachten, Fred/chen!“

    Thomas fragt: „Willst du ‘was essen, Freddy? Es sind noch Würstchen und ...“ Der zieht ihn in eine feuchte Umarmung. „Nein, Tom mein Gutster, nur ein ganz kleines Glas Rotwein, wenn ich bitten darf.“ Thomas streift ihm den Schnee von den Schultern. „Es ist noch Glühwein da“, schlägt er vor.

    „Umso besser, etwas Warmes braucht der Mensch!“


    Thomas schiebt ihn vorsichtig auf seinen freien Stuhl. Fred schaut in die Runde: „Na, ihr Trauerklö­ße, feiert ihr auch schön?“ Karl antwortet pikiert: „Bis eben hatten wir es richtig nett.“ Fred hebt do­zierend seinen Zeigefinger: „Die Nettigkeit der Welt, Karlmann, die Nettigkeit der Welt ...“ - aber mehr kommt dazu nicht. Er sieht Thomas‘ angefangenen Teller Tiramisu vor sich stehen. Ohne weiteres fängt er an, die Süßspeise zu löffeln. Herbert fragt: „Wo hast du dich denn ‘rumgetrie­ben?“ Fred lallt zwischen den Happen: „Bahnhof, Schpruuz - Philosoff – Kirche – ja, echt ey, Heilig Kreuz - Geliebte im Herrn! Was für ein Spaß!“ Charlie stellt sich mit Schaudern eine Szene in der Kirche vor, die wohl nur der Besoffene lustig fand.


    Thomas bringt ihm den Keramikbecher Glühwein, überblickt die Lage und holt sich noch ein Ge­deck und einen Stuhl. Die anderen rücken zusammen, damit noch ein Platz für ihn am Tisch frei wird. Fred gießt sich den Glühwein gierig hinunter. Dann erhebt er sich unsicher mit: „Die Firma dankt!“ und schwankt zu einem Sofa, auf das er sich schwer fallen lässt und zusammenrollt. „Müde bin ich, geh zur Ruh, deck mich bitte auch brav zu.“ Thomas holt eine dicke Wolldecke aus dem Wäscheschrank im Flur und breitet sie über ihm aus. Er zieht ihm die nassen Turnschuhe aus und wickelt Freds Füße sorgsam in die Decke. Dann holt er einen Eimer aus der Abstellkammer und platziert ihn am Sofarand an der Stelle unter Freds Kopf.


    Charlie bewundert seine Gutmütigkeit. Als Thomas wieder am Tisch sitzt fragt er ihn leise: „Kann ich heute bei dir schlafen?“ Thomas nickt ihm mit Wärme zu: „Kein Problem, Knopf, das Gäste­zimmer ist frei.“

  • Der 4. Dezember von Sonne79



    Weihnachten 2017


    Wie jedes Jahr treffen sich auch in diesem Jahr Elch und Weihnachtsmann um Mittnacht vom 23. auf den 24. Dezember und führen, wie ebenfalls jedes Jahr folgende Unterhaltung.


    "Du lieber guter Weihnachtsmann

    Fängt Weihnachten schon wieder an?"

    "Ja, wie jedes Jahr ist es zu früh dran.

    Kaum zu glauben aber wahr,

    doch so ist es jedes Jahr.


    Lieber Elch,

    Gehst du mit mir auf die Reise?"

    "Ja, wir machen es auf übliche Weise.

    Die Kinder halten sich schon lange bereit,

    am Weihnachtsmorgen ist es endlich soweit."


    "Wir fahren in den kalten Wald hinaus,

    bringen die Geschenke von Haus zu Haus.

    Bewundern die leuchtenden Kerzen,

    die erwärmen Eure Herzen.

    Nun lasst die Glocken hell erschallen,

    frohe Weihnachten Euch allen!"


    © Yvonne Sartoris

  • Der 5. Dezember von arter



    Das Eingreifen des Nikolaus


    Da bin ich wieder, Nikolaos von Myra, genannt Nikolaus oder Nikolai. Der Popstar unter den Heiligen. Verehrt von Katholiken, Protestanten, Orthodoxen gleichermaßen - selbst Atheisten erkennen mich an und alle Kinder lieben mich. Sogar in der muslimisch geprägten Heimat wird mein Andenken geehrt, ich konnte ja schließlich nichts dafür, dass ich lange vor dem Propheten Mohammed gelebt hatte.


    Woher all diese übertriebene Beweihräucherung kommt? Nun, ich bin der Wundervollbringer. Menschen sehnen sich nach Wundern. Ich habe jede Menge davon in meinem Portfolio. Selbst heute noch, da nur noch mein scheinbar unsterblicher Geist über den Planeten wandelt, bin ich in den Augen vieler Menschen für ein großes Wunder zuständig: Weihnachten.


    Ich habe mich längst damit abgefunden und heute ist wieder der Tag, wo ich eine Nachtschicht einlegen muss, weil morgen früh die Kinder ihre Schuhe und Socken überprüfen, ob dort nicht eine von meiner Person stammende Überraschung zu finden ist. Es soll verschleiert werden, dass meist die Eltern dafür verantwortlich sind und deshalb wird mein Segen bemüht, den ich heute Nacht millionenfach austeilen muss.


    Aber wie üblich, bevor ich mich auf die Reise mache, sitze ich bei einem Glas Tee noch hier auf meinem Schaukelstuhl neben einem prasselnden Kamin in einer kleinen Hütte irgendwo in Lappland und erzähle euch, den Büchereulen, von der Zeit, als meine Wunder noch nichts mit Weihnachten zu tun hatten.


    Es war kurz nach der Zeit des Konzils von Nicäa - aufmerksame Leser meiner Geschichten werden sich erinnern - als Kaiser Konstantin mit allerlei Problemen zu tun hatte, die die Entscheidungen des Konzils ausgelöst hatten. Überall im Lande kam es zu Unruhen und Aufständen. Doch das kümmerte mich nicht, es ging nun vorrangig darum, in meiner Gemeinde Myra Gottes Wort zu verkünden und seinen heiligen Geist lebendig werden zu lassen.


    Nebenbei berichtete man mir, dass Konstantin mich neuerdings verleugnen würde: “Nikolaos? Wer ist dieser Nikolaus?” soll er gesagt habe, wie mir zugetragen wurde. Nun, Byzanz - das im Volksmund neuerdings spöttisch “Konstantinopel” genannt wurde - war weit weg und ich glaubte zu jener Zeit, der Kaiser würde mit seinen Problemen sicher alleine fertig werden. Doch weit gefehlt.


    Eines nachts klopfte es lautstark an meiner Kirche und drei junge Männer begehrten Einlass. Sie kamen aus einem Wirtshaus und hatten wohl das nötige Kleingeld nicht parat gehabt, um dem Wirt seine Auslagen zu erstatten. Dieser habe darauf völlig unverhältmäßig reagiert und gedroht - so, dass alle es hören konnten - wenn sie ihre Zeche nicht bezahlten, würde er sie zu Pökelfleisch verarbeiten, im Hof stünde bereits ein leeres Fass, das nur darauf wartete mit Zechprellerfleisch gefüllt zu werden.


    Angsterfüllt seien sie geflohen und erböten nun den Schutz der heiligen Kirche Christi. Obwohl ich Mitleid mit den dreien hatte, zögerte ich, denn wenn herauskäme, dass ich säumige Zecher aufnehmen würde, hätte ich zwar jede Menge Zulauf in der Kirche aber noch viel mehr Ärger mit den Gläubigern. Kurze Zeit später tauchte der widerliche Wirt auf, in seiner Hand eine Schlachtbeil. Wollte er seine Drohung etwa tatsächlich in die Tat umsetzen? Es gelang mir mit Gottes Hilfe - ich weiß nicht mehr genau wie - ihn zu besänftigen und fortzuschicken. Unter wüsten Verwünschungen und Flüchen zog er von dannen.


    Ich war der Meinung, dass man ihm eine Lehre erteilen solle und schickte einen meiner zuverlässigsten Helfer aus, er möge dafür sorgen, dass das Fass, das sich auf dem Hof des Wirtshauses befand am nächsten morgen gut gefüllt sein möge und es solle den Anschein erwecken, als seien dort drei unschuldige Burschen verarbeitet worden. Ich nahm ihm das Versprechen ab, dass bei der Täuschung kein lebender Mensch zu Schaden kommen solle. Diese Aufgabe erfüllte er vorbildhaft, ich möchte gar nicht wissen, woher die Teile in dem Fass stammten, jedenfalls war es eine überaus unappetitliche Angelegenheit.


    Nachdem ich die drei Tunichtgute in Novizengewänder gekleidet und ihnen zur Buße Arbeiten auf dem Kirchhofgarten zugewiesen hatte, stattete ich dem Präfekten Eustachius einen Besuch ab. Er möge ein paar Männer ins Wirtshaus schicken und die Vorgänge untersuchen lassen, die mir zu Ohren gekommen seien. Der unflätige Wirt sollte die unangenehmen Konsequenzen spüren, welche von seiner gottlosen Drohung und der Verfolgung harmloser Jungen hervorgerufen worden waren. Ganz nebenbei gehörte er auch zu den wenigen widerspenstigen Gewerbetreibenden, die ihr Etablissement dem Schutze der heiligen Kirche noch entziehen wollten und den Obulus verweigerten, der allenthalben fällig war.


    Leider platzte mitten in meine Unterredung mit dem Präfekten Eustachius ein Bote herein, der schlimme Neuigkeiten brachte. In Andriake, das nicht weit von Myra lag, würden Soldaten in den umliegenden Dörfern plündern und rauben. Dem Berichte nach handele es sich um die Kaiserliche Armee, die durch ungünstige Winde hierher nach Lykien verschlagen worden war. Eigentlich hatten sie in der Nachbarprovinz Phrygien eine Erhebung niederschlagen sollen. Nun vergriffen sie sich in Ermangelung wehrhafter Feinde an meinen Bauern.


    Dies erforderte ein dringendes Eingreifen und so brach ich unversehens mit einer bewaffneten Begleitung von zehn Männern auf. Ein wenig mulmig war mir doch zumute, weil ich die Geschichte mit dem als Kannibalen bezichtigten Wirt so ungeklärt zurücklassen musste.


    In Andriake traf ich auf die drei Stratelaten - so nannten wir damals die die kaiserlichen Heerführer - die für die kaiserliche Expedition verantwortlich waren. Nepotionos, Ursus und Eupelio waren ihre Namen. Sie beteuerten ihre Unschuld, denn sie hätten nach der unglücklichen Seereise komplett die Kontrolle über die Mannschaft verloren. Die Männer seien vor Hunger und Durst einfach durchgedreht und hätten auf einige Rädelsführer gehört, welche die Situation ausnutzten, um sich zu bereichern und Verrat am Kaiser zu üben.


    Glücklicherweise lagen die Anführer der Meuterei in diesem Moment gerade sturzbetrunken in irgendeiner Ecke, um ihren Rausch auszuschlafen. So konnte meine kleine Eskorte sie ohne großes Aufheben sehr schnell dingfest machen. Dann trat ich vor die Truppe und versprach den Leuten Gottes Barmherzigkeit, sofern sie ihr Diebesgut unversehens zurückgäben und den Stratelaten bedingungslos folgen würden, damit das eigentliche Ziel der Mission doch noch erreicht würde. Auf nach Phrygien. Schließlich gab es auch dort jede Menge zu plündern. Das sagte ich natürlich nicht so direkt. Das wussten sie selbst.


    Verdutzt mussten die drei Hauptmänner konstatieren, wie simpel es sein konnte, eine Meuterei niederzuschlagen. Doch sie erbaten meinen Schutz und meine Begleitung, denn sie fürchteten von den Halunken über Bord geworfen zu werden, sobald ich sie aus den Augen ließe. Schweren Herzens stimmte ich zu, doch ich hatte kein gutes Gefühl, weil ich Myra für Wochen den Rücken kehren musste.


    Wir segelten mit der kaiserlichen Flotte nach Phrygien und da ich ganz nebenbei auch der Schutzheilige der Seemänner bin, standen die Winde gut. Gut genug, um die Aufständischen zu überraschen. Diese hatten offenbar nicht damit gerechnet, dass die Kaiserlichen, von deren Unglück sie erfahren hatten, so schnell wieder handlungsfähig sein würden. Und so konnten wir ohne Blutvergießen schnell die Kontrolle übernehmen. Bei den Verhandlungen mit den gemäßigten Aufständischen ermahnte ich die drei Heerführer, den Einheimischen zuzuhören und ihnen Zugeständnisse zu machen, sofern sie daran interessiert seien, längerfristig eine stabile Situation herbeizuführen.


    Nun war also alles geregelt und ich konnte wieder nach Myra zurückkehren. Die drei Stratelaten lud ich zu einem Abstecher in meine Heimatstadt ein, sie waren ganz versessen darauf, sich mal so richtig in den berühmt berüchtigten Badehäusern meiner Stadt verwöhnen zu lassen. Also übertrugen sie das Kommando für den Rückmarsch der Kompanie vertrauenswürdigen Offizieren und stachen mit mir in See.


    Es waren einige Wochen ins Land gegangen, und ich fragte mich, was inzwischen aus der Angelegenheit mit den drei Burschen und dem Kannibalen-Wirt geworden sein mochte. Der Zufall wollte es, dass genau in der Stunde meiner Ankunft eine öffentliche Hinrichtung anberaumt war, so munkelte man jedenfalls im Hafen. Ohne vorher mein Heim aufzusuchen, begab ich mich eilig zu dem Gerichtsplatz in meinem Schlepptau - einer dem anderen folgend - die Stratelaten. Ich hegte die Befürchtung, dass der Präfekt Eustachius womöglich etwas zu weit gegangen war und ein von ihm berufenes Gericht entschieden hatte, dem Wirte das Körperteil oberhalb des Halses zu entfernen.


    Doch was ich dann erfahren musste, übertraf meine schlimmen Befürchtungen noch. Nicht etwa der Wirt, sondern die drei Burschen knieten vor dem Schafott. Der Liktor hatte schon das Schwert erhoben um dem Jüngsten unter ihnen das Haupt abzuschlagen. Da stürmte ich auf das Podium und entriss dem überraschten Henker sein Mordwerkzeug.


    Das Publikum maulte und greinte, weil es fürchtete, um die Show gebracht zu werden. Und auch Eustachius plusterte sich auf. Diese drei seien überführt worden, einen rechtschaffenden Schankwirt nicht nur um die Zeche geprellt sondern ihm darüber hinaus auch noch einen derben Streich gespielt zu haben, alles nur mit dem Ziel, ihn in Misskredit zu bringen. Diese Tatsache habe das Gericht nach wochenlangen Verhandlungen zweifelsfrei bewiesen. Die drei Sünder hätten nicht einmal den Mut gehabt, ihre Tat zu gestehen, stattdessen hätten sie behauptet, ich, Nikolaos hätte sie durch ein göttliches Wunder aus dem Pökelfass errettet und wiederbelebt Eine solch verlogene Niedertracht könne nur mit dem Tode geahndet werden

    .

    Daraufhin bat ich den Jungen, der sich wohl schon im Himmel glaubte, seinen Kopf ein Stück zur Seite zu nehmen, damit ich mich auf das Schafott stellen konnte. Ich breitete meine Arme aus und sprach ein Gebet zu den Engeln. Ich dankte ihnen dafür, dass sie mein Flehen erhört hatten, denn im Traum sei Uriel erschienen und habe mir die blutrünstige Tat des Wirtes aufgezeigt. Auf mein inständiges Bitten habe er die jungen Männer trotz ihres schlechten Zustandes, welchen sie im gepökelten Zustand aufwiesen, wieder instandsetzen können. Gottes Wunder seien ohne Grenzen.


    Die Menschen fielen einer nach dem anderen auf die Knie, um sich meinem Gebet anzuschließen. Einige hellsichtige unter ihnen ergriffen den Wirt, der gerade dabei war, die Flucht zu ergreifen. Doch seine Reaktion kam zu spät. Das Volk wollte heute einen Kopf rollen sehen. Mit mäßigenden Worten gebot ich Einhalt. Ich erbat Gnade für den Sünder und auch Nachsehen für den Präfekten, der in seinem blinden Übereifer beinahe drei Unschuldige Burschen zum zweiten Male um ihr Leben gebracht hatte.


    Eustachius fraß mir danach aus der Hand und ich hatte eine weitere Wundertat auf meiner Habenseite. Die kaiserlichen Heerführer zeigten für mich ebenfalls die größte Wertschätzung und huldigten Gott und den Engeln in meiner Kirche, nachdem sie die Vorzüge des Bades genossen und bevor sie die Stadt in Richtung Byzanz ziehen verließen. Dabei versprachen sie, dem Kaiser umfangreichen Bericht von den bekehrenden Ereignissen zu erstatten.


    Die Geschichte hätte damit beendet sein können, aber es gab ein Nachspiel, welches noch heute als Stratelatenwunder erzählt wird. Doch mittlerweile ist die Stunde weit fortgeschritten. Eine weitere Nacht wundertätiger Aufgaben liegt vor mir. Mir bleibt also nichts weiter übrig, als euch mit der Aussicht, den Rest der Geschichte aus erster Hand zu erfahren, auf das nächste Jahr zu vertrösten.


    Bleibet bis dahin alle gesund und genießet ein segenreiches Weihnachtsfest.


    Euer Nikolaus.

  • Der 6. Dezember von breumel



    Engel auf Samtpfoten


    Kalt und nass war es. Ein typischer Dezembertag in Deutschland. Aber das passte zu ihrer Stimmung – Abschiedsstimmung. Sie war in zwei Apotheken gewesen, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Bei Schlaftabletten wurden die Apotheker hellhörig. In dem kleinen Supermarkt um die Ecke hatte sie eine Flasche Vodka gekauft, dazu Orangensaft. Den Guten hatte sie sich gegönnt, den aus dem Kühlregal mit Fruchtfleisch. Sie trank sonst nie harten Alkohol, aber damit würde sie den Schnaps schon runterkriegen. Und wozu sollte sie jetzt noch sparen?


    An der Eingangstür zu ihrem Haus sah sie sich noch einmal um. Ein letzter Blick, dann würde sie in ihre Wohnung gehen und diese trostlose Straße nie wieder sehen. Den schmutzigen Bürgersteig, die Neonreklame des Handyshops, die Plakate mit den eigentümlichen Betonfrisuren im Schaufenster des Friseurs …


    Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine Art Wimmern, leise, aber eindringlich. Suchend sah sie sich um, aber da war nichts. Ein erneutes Geräusch ließ sie nach unten sehen. Dort, zu ihren Füßen, ganz in die Ecke gedrängt, saß etwas Pelziges, das sich bei näherer Betrachtung als Katze entpuppte. Genauer gesagt als sehr kleine, sehr magere und nicht ganz saubere Katze.


    Sie wollte einfach aufschließen und die Treppe hinauf gehen. Aber die großen Augen in dem winzigen Gesicht und das klagende Miauen ließen sie innehalten. Eigentlich hatte sie keine Eile. Kurzentschlossen hob sie die Katze hoch und nahm sie mit.


    Die Katze war wirklich sehr leicht, ein Bündel aus Fell und Knochen. Was sollte sie ihr zu fressen geben? Sie hatte nicht eingekauft, und Vodka-Orange konnte sie der Katze schlecht vorsetzen. Im Kühlschrank musste noch Milch sein, vielleicht würde sie das ja akzeptieren.


    Einige Minuten später sah sie der Katze dabei zu, wie diese gierig die Milch aus einem flachen Schälchen schlabberte. Dann sah sie sie fragend an, tapste ins Wohnzimmer, sprang auf das Sofa, trat mit den Vorderbeinen auf merkwürdige Weise auf den Kissen herum, rollte sich schließlich zusammen und schloss die Augen. Eine Weile beobachtete die Katze sie noch aus schmalen Schlitzen, dann schloss sie die Augen ganz und schlief ein.


    Und was jetzt? Da lag diese kleine Katze auf ihrem Sofa, blockierte den Platz, auf dem sie eigentlich hatte liegen wollen, und schlief. Sollte sie die Katze vor die Tür setzen? Es konnte Tage dauern, bis jemand sie fand, und die Katze wäre bis dahin in der Wohnung verhungert. Nachdenklich betrachtete sie das schwache Heben und Senken des graugetigerten Fells. Sie wollte nicht für die Katze verantwortlich sein, aber sie wollte sie auch nicht auf dem Gewissen haben. Das wäre kein guter Start ins nächste Leben …


    Vor dem zweiten Januar erwartete sie niemand. Sie hatte Urlaub, Familie gab es keine mehr und Freunde hatte sie auch keine. Sie hatte Zeit genug, sich zu überlegen, was sie jetzt machen sollte. Falls sie allerdings deutlich länger als geplant hierbleiben würde, müsste sie noch einkaufen, und das bald. An Heiligabend schlossen die Geschäfte spätestens um 14 Uhr. Sie warf noch einen Blick auf die Katze, dann hatte sie sich entschieden: Einkaufen. Jetzt. Die Katze durfte vorerst hierbleiben.


    Mit zwei Einkaufstaschen machte sie sich auf den Weg. Zum Glück war der Supermarkt nicht weit entfernt. Was brauchte sie? Vorsichtshalber sollte sie für die nächsten drei Tage einkaufen. Also Käse, Wurst, Brot. Dazu noch Fertiggerichte – zum Kochen fehlte ihr die Energie – und einen Pudding zum Nachtisch. Schließlich stand sie vor dem Regal mit Katzenfutter. Was fraß die Katze? So wie sie aussah, vermutlich alles. Aber wieviel? Suchend las sie die Beschreibung auf der Dosenrückseite durch. Wieviel mochte das Kätzchen wohl wiegen? Jedenfalls weniger als es sollte. Schließlich griff sie einige Dosen und eine Tüte mit Trockenfutter. Dabei fiel ihr Blick auf das Katzenstreu. Hoffentlich war in ihrer Abwesenheit in der Wohnung kein Unglück passiert!


    Beladen mit Lebensmitteln, Katzenfutter und einem Paket Katzenstreu mit Lavendelduft machte sie sich auf den Weg zur Kasse. Den Blick wie immer auf ihr Portemonnaie gerichtet, wartete sie, dass die Kassiererin die Summe verkündete. Stattdessen hörte sie plötzlich, wie die Frau sie ansprach: „Haben sie jetzt eine Katze? Wie schön, ich hab auch zwei!“ Irritiert sah sie hoch. Die Kassiererin lächelte sie doch tatsächlich an, trotz des ganzen Weihnachtsstresses! Sie fühlte, wie sich ihre Wangenmuskeln zu einem scheuen Antwortlächeln verzogen. Dann zahlte sie schnell und ging.


    Wieder zurück warf sie zunächst einen Blick ins Wohnzimmer. Die Katze lag unverändert auf ihrem Platz, spitzte jedoch die Ohren und öffnete die Augen einen Spalt breit. Was sie sah schien sie zu motivieren – sie stand auf, sprang auf den Fußboden und begann, um ihre Beine herumzustreichen. Also ging sie mit den Einkäufen in die Küche und suchte drei Schüsseln heraus. Eine füllte sie mit Wasser, die zweite mit Trockenfutter und in die dritte schließlich kippte sie den Inhalt einer Dose. Dieser wurde zunächst beschnuppert, dann setzte die Katze sich hin und machte sich gierig darüber her.


    Als nächstes verräumte sie die Lebensmittel und machte sich selbst etwas zu Essen warm. Der Katze dabei zuzusehen, wie sie sich den Bauch vollschlug, hatte auch bei ihr den leeren Magen ins Gedächtnis gerufen. Doch vor dem Essen sollte sie noch eine Katzentoilette herrichten. Nur aus was? Kurzentschlossen kippte sie den Inhalt einer schubladengroßen Plastikbox aus, verteilte das Streu darin und stellte es ins Bad. Mit einem Handtuch, welches sie innen und außen um die Türklinke wand, sicherte sie die Türe gegen versehentliches Zufallen. Als Gitterschaufel musste ein alter Pfannenwender herhalten, durch dessen Löcher das Streu problemlos rieselte.


    Das fertige Hühnercurry mit Reis schmeckte ausgesprochen gut – vermutlich, weil sie seit langem einmal wieder wirklich Hunger hatte. Danach machte sie sich noch eine Tasse Tee, schaltete den Fernseher ein und legte sich auf’s Sofa. „Erster!“, dachte sie dabei, und plazierte ihre Füße dort wo die Katze geschlafen hatte. Kaum hatte sie es sich gemütlich gemacht, kam auch schon ihr Hausgast angeschlichen. Das erneute Futter schien sie zur vertrauenswürdigen Person ernannt zu haben – die Katze sprang ohne Scheu auf ihre Beine, suchte sich einen bequemen Platz und begann sich hingebungsvoll abzuschlecken. Dabei wurde offensichtlich, dass „Katze“ ein Kater war.


    Der warme Tee, die Wärme der Katze auf ihren Beinen und „Drei Haselnüsse für Aschenputtel“ taten ihre Wirkung: Sie schlief ein. Als sie schließlich erwachte, war es draußen bereits dunkel geworden. Kurz irritierte sie das Gewicht auf ihren Beinen, dann fiel es ihr wieder ein: Sie hatte jetzt eine Katze. Jedenfalls bis die Katze wieder fort wollte, oder sie einen Platz für sie gefunden hatte. So, wie das Kätzchen aussah, hatte es auf der Straße gelebt. Ins Tierheim wollte sie es nicht bringen, aber zurück auf die Straße war auch keine Option.


    Vorsichtig näherte sie ihre Hand dem getigerten Fell. Als keine Reaktion erfolgte, begann sie, die Katze zu streicheln. Das Fall war unglaublich weich unter ihren Fingern. Mutiger geworden, fing sie an, die Katze im Nacken zu kraueln, und wurde mit einem wohligen Strecken und leisem Schnurren belohnt.


    Es war, als würde die Wärme von ihren Fingerspitzen und ihren Beinen ihren ganzen Körper erfüllen. So warm und entspannt hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Das Gespenst der langen, einsamen Weihnachtstage verlor ein wenig seinen Schrecken. Sie war nicht mehr alleine, jedenfalls nicht bis zum Ende der Feiertage.


    Nach dem Abendbrot und einer Dose Stückchen mit Lachs in Gelee für den Kater machte sie es sich wieder auf dem Sofa gemütlich, aber ihr Zimmergenosse schien unruhig und stubste sie immer wieder mit Kopf und Pfote an. Schließlich band sie eine alte Socke an ein Stück Schnur und zog dieses durchs Zimmer, woraufhin ihr Fellknäuel mit Begeisterung zum Raubtier wurde. Als die Beute oft genug „erlegt“ worden war, schlich es zum improvisierten Katzenklo, wo man alsbald das Prasseln der Körnchen gegen das Plastik hören konnte. Schließlich begaben sich beide wieder auf das Sofa, auf dem sich Frau und Katze arrangierten.


    Es wurde Nacht. Zähne putzen, umziehen, ein paar Seiten lesen– sie folgte ihrer üblichen Routine. Der Kater lag friedlich auf dem Sofa als sie einschlief. Irgendwann, der Morgen war noch weit entfernt, spürte sie tapsende Schritte das Bett überqueren. Dann rollte sich etwas in ihrer Kniekehle zusammen und gab leise Schnarchlaute von sich. Mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht schlief sie wieder ein.


    Etwas hatte sich verändert. Die Feiertage, sonst lang, dunkel und kalt, vergingen wie im Flug. Sie las, sah fern, aß und spielte mit der Katze. Ihre Pläne hatten es nicht eilig, und die Kälte in ihrem Inneren war angetaut und schmerzte nicht mehr so sehr. Sie begann, neue Pläne zu schmieden. Was musste erledigt werden? Zunächst sollte sie mit der Katze zum Tierarzt gehen. Vielleicht war sie ja gechipt und hatte irgendwo einen Besitzer. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass der Gedanke sie mit Unbehagen erfüllte. Aber was sein musste, musste sein.


    In Ermangelung einer Transportbox legte sie eine alte Sporttasche mit festem Boden mit Handtüchern aus und gab etwas Trockenfutter darauf. Neugierig sprang der Kater in die Tasche und schnell schloss sie den Reißverschluss, bis nur noch eine kleine Öffnung offen blieb. Sie hatte sich schon online erkundigt, wann der nächstgelegene Tierarzt Sprechstunde hatte, und machte sich auf den Weg.


    An der Anmeldung frage die Sprechstundenhilfe nach dem Namen des Katers.

    „Ich habe keine Ahnung. Er ist mir zugelaufen.“

    „Dann trage ich erst mal nichts ein und wenn sie dran sind, schauen wir nach, ob sich ein Chip findet und das Tier registriert ist.“


    Das Wartezimmer war – wie zu erwarten nach den Weihnachtstagen – voll. Mit ihrer Reisetasche inmitten der Käfige und Transportboxen erntete sie mehr als einen befremdlichen Blick, aber das war ihr egal. Was, wenn es einen Besitzer gab? Und was wenn nicht?


    Schließlich wurde sie aufgerufen.

    „Wen haben wir denn da? Ein Findelkind?“, begrüßte die Tierärztin sie freundlich.

    „Ich habe ihn vor meiner Haustür gefunden. Er hatte Hunger und wollte partout nicht heimgehen, also habe ich ihn mit hoch genommen und gefüttert. Er tat mir einfach leid. Und dann ist er über die Feiertage bei mir geblieben. Bei der Kälte wollte ich ihn nicht einfach raussetzen.“

    „Dann schauen wir doch mal, ob er gechipt ist. Bitte die Tasche hier draufstellen.“


    Vorsichtig, aber mit festem Griff hob die Arzthelferin den Kater auf den Untersuchungstisch. Dann fuhr die Ärztin vorsichtig mit einer Art Scanner über das kurze Fell, aber nichts piepste. Lächelnd dreht die Ärztin sich zu ihr um.

    „Nicht gechipt und nicht tätowiert. So wie es aussieht, haben sie die Wahl: Sie können den Kater im Tierheim abgeben oder ihn behalten.“


    Eine Welle der Erleichterung durchfuhr sie, als die Anspannung von ihr abfiel. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie auf dieses Ergebnis gehofft hatte. Seit der kleine Kater in ihr Leben gepurzelt war hatten sich so viele Dinge verändert. Ihre Wohnung war wieder ein Zuhause geworden. Sie kam mit wildfremden Menschen ins Gespräch und man lächelte sie an. Sie selbst konnte wieder Lächeln! Der kleine Kater hatte ihr das Leben gerettet, welches sie bereits wegwerfen wollte. Sie war nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich. Es gab jemanden, der sie brauchte. Dieses Gefühl wärmte sie von innen und gab ihr neue Energie.


    „Er bleibt bei mir.“

    „Dann braucht er nur noch einen Namen.“

    Da musste sie nicht lange überlegen.

    „Angelus! Er heißt Angelus!“

  • Der 7. Dezember von beisswenger



    Weihnachtslust, feuchtfröhliches Musiktheater in 4 Akten



    Vorhang auf zum 1. Akt, Musik: J.S. Bach WO "Jauchzet frohlocket"


    Heiligabend, 14 Uhr im Aufenthaltsraum eines drittklassigen Seniorenwohlfühlheims: Alfred, 94, dementer Akademiker und Horst, 79, nimmermüder Kleinkrimineller sowie Hannelore, 81, abgeschobene Mutter von fünf Kindern, hocken an einem Resopaltisch, auf dem sich die Reste des Mittagessens türmen. Es riecht nach ranzigem Fett.


    „Habt ihr Lust auf das Weihnachtsfest?“, fragt Horst in die Runde. Alfred starrt die Wand an, während Hannelore den Kopf schüttelt: „Verbranntes Fraß und zum Nachtisch einen Nikolaus, der mal ein Osterhase war? Ohne mir!“


    „Isses schon wieder Ostern?“, krächzt Alfred, hebt den Finger und fügt hinzu: „Ohne mich, heißt das!“ Horst knallt die Faust auf den Tisch und schmettert: „Lasst uns ausbüxen!“ Hannelore runzelt die Stirn und fragt: „Wohin denn?“


    „Auf den Weihnachtsmarkt!“ Hannelore mustert Horst ungläubig.


    Währenddessen hat Pfleger Kai den Raum betreten und stolziert zwischen den Senioren herum. Horst nickt in Richtung des eitlen Gecken und malt mit den Händen ein Auto in die Luft. Hannelore weitet die Augen und öffnet den Mund.


    Horst lächelt verschmitzt und schnippt mit den Fingern in Alfreds Richtung. Der zuckt zusammen und quengelt: „Wo bin ich, wer seid ihr?“ Horst klopft ihm auf den Rücken und raunt: „Alles in Ordnung, Alter!“


    Kai baut sich vor den dreien auf: „So, Mädels und Jungs, Kai macht mal Pipi, ist aber gleich zurück. Seid lieb und bleibt sauber. Nicht über Hanne Schnuckiputz herfallen, hörst du, Alfred?“ Sagt es, grinst, schiebt sich an Horst vorbei, der blitzschnell seine Hand in der Kitteltasche des Pflegers verschwinden lässt, anschließend ebenso schnell wieder hervorzieht und etwas unter seinem Po bunkert. Kai zögert einen Moment, guckt wie ein Fragezeichen, besinnt sich, zwinkert Hannelore zu und geht ab.


    Hannelore beugt sich vor: „Hast du den Schlüssel?“ Horst nickt, blickt sich um und sagt hastig: „Kommt, nix wie weg!“ Alfred springt auf. „Ne, nicht vorne raus, Alfred, hinten rum durch die Tür zum Raucherbereich!“ Hannelore hält Horst am Arm fest: „Kommst du da hoch mit dem Rolli?“


    „Ich geh ohne!“ ächzt er, zieht sich hoch, humpelt ein paar Meter und greift sich an die Hüfte.


    Vorhang fällt.



    Vorhang auf zum 2. Akt, Musik: „Wenn ich 64 bin“, Udo Lindenberg (Beatles Cover)


    Fünf Minuten später stehen die Ausbrecher vor Kais schrottreifem Golf.


    „Guck mal, da ist doch ein Zeichen auf dem Schlüssel, drück da mal drauf!“, befiehlt Hannelore. Es macht klick und Horst sagt: „Ich bin halt nicht von gestern.“ Alfred räuspert sich: „Früher war alles besser.“ Horst öffnet die Beifahrertür und säuselt: „Bitte, zuerst die Dame!“ Hannelore macht einen Knicks und steigt ein. Horst knallt die Tür zu, ergreift Alfreds Hand und bugsiert ihn auf den Rücksitz.


    „Bist du so eine Kiste schon mal gefahren?“


    „Ja, allerdings ein Vormodell, das vor dreißig Jahren auf den Markt kam. Egal, Auto bleibt Auto, da hat sich seit hundert Jahren nix geändert.“ Er steckt den Schlüssel ins Zündschloss und sie ruckeln los.


    Horst dreht das Autoradio auf und sie singen gemeinsam mit den Beatles „Drive mycar“


    „Pupst du wieder, Alfred?“ Keine Reaktion, der Angesprochene ist eingenickt. Hannelore zuckt mit den Schultern und fächert sich Luft zu: „Wo ist die Kurbel, um die Scheibe runterzudrehen?“


    „Keine Ahnung, erstunken ist noch niemand, aber erfroren“, sagt Horst und lacht laut. So laut, dass Alfred aufwacht, zusammenzuckt und flüstert: „Alle Kameraden sind erfroren, damals in Stalingrad!“


    „Da vorne ist der Weihnachtsmarkt, ja da ist noch ein Parkplatz, kommst du da rein?“, fragt Hannelore.


    „Türlich!“ Horst setzt zu einem riskanten Einparkmanöver an.


    „Ich glaube, du hast den vorne gerammt“, sagt Hannelore leise und runzelt die Stirn. „Jetzt auch den hinten“, erwidert Horst kleinlaut und fügt abwiegelnd hinzu:


    „Egal, wozu haben die Autos Stoßstangen? Um Stöße abzufangen, logisch!“


    „Hast du überhaupt einen Führerschein?“, hakt Hannelore nach.


    „Was? Fahren wir zum Führerhauptquartier?“, fragt Alfred, plötzlich wieder hellwach.


    „Nein, Alfred, bleib ganz ruhig, reg dich ab!“


    „Hast du oder hast du nicht, sag schon!“ Hannelore lässt nicht locker.


    „Hatte, habe ihn vor zehn Jahren abgegeben. Aber es ändert sich ja nix – wer es einmal gelernt hat, kann es ewig – im Prinzip isses wie Fahrradfahren.“ Nach einem Hüsteln krakeelt er: „Alles austeigen!“


    Vorhang fällt.



    Vorhang auf zum 3. Akt, Musik: “Last Chrismas”, Wham!


    Sie flanieren an leerstehenden Geschäften vorbei und steuern den ersten Glühweinstand an. Auf den Buden schmilzt der Neuschnee, aus den Lautsprechern schmalzt das unvermeidliche Weihnachtslied. Hannelore und Horst übertönen George Michaels Gejaule und schneiden Grimassen.


    „Dreimal Glühwein bitte?“


    „Mit Schuss?“, fragt die kaum weniger betagte Dame hinter dem Tresen nach. „Aber natürlich, warum fragen Sie, wir sind schon über 18.“ Die Serviererin schmunzelt und stellt ihnen drei Gläser vor die Nase.


    Nach dem zweiten Glas Glühwein.

    „Meine Dame, meine Herren, trinken Sie noch einen?“


    „Wieder einen mit Schuss?“, fragt Hannelore. Alfred nickt. „Kannst du dann noch fahren?“ Ihre Stimme klingt ängstlich.


    „Ne, besser nicht. Das würde eine Materialschlacht werden“, sagt Horst und zieht die Schultern hoch.


    „Ja, Schlacht an der Somme, 1916!“, fügt Alfred hinzu und hebt einen Finger.


    „Alfred, da warst du doch gar nicht dabei“, belehrt ihn Horst mürrisch. „Nein, aber der Führer hat immer davon gesprochen.“


    Horst zieht die Augenbrauen hoch. „Der Adolf hat geschwindelt, ein Frontschwein war er nie, nur ein feiger Meldegänger!“


    Alfred salutiert: „Obergefreiter Alfred Richter meldet sich zum Dienst!“


    „Lass gut sein, Alfred, der Krieg ist vorbei. Jetzt wir gefeiert!“


    Fünfzehn Minuten später.

    „Einer geht noch, einer geht noch rein!“, singt Alfred mit rotem Kopf. Hannelore verdreht die Augen und raunt: „Also nehmen wir ein Taxi, hast du Geld?“


    „Noch nicht. Siehst du den aufgeblasenen Typen dahinten? Du gehst jetzt unauffällig zu ihm. Sobald er trinkt, gibst du ihm einen Schubs, den Rest mache ich, klar?“


    „Abgemacht!“


    „Alfred, du bleibst hier und hältst die Stellung!“


    „Zu Befehl, Herr Feldwebel!“


    Hannelore und Horst verlassen den Stand. Die Dame hinter dem Tresen guckt ihnen verwundert nach und mustert Alfred: „Zahlst du die Zeche, Opa?“


    „Jawoll!“


    Zwanzig Schritte weiter. Der Mann, ein schnieker Weißhaariger, bekleidet mit Seidentuch, Kaschmirpullover und Pelzmantel, hebt sein Glas und doziert vor seinem Publikum, drei Damen und zwei Herren der besseren Gesellschaft: „Wir waren am letzten Loch und gerade als ich einputten wollte …“ Weiter kommt er nicht. Er wankt, fängt sich, schaut sich um und schimpft:


    „Verdammt, können Sie nicht aufpassen?“


    „Entschuldigung, das war keine Absicht, mein Herr.“ Der Weißhaarige guckt den abziehenden Senioren wütend hinterher.


    Als sie am Glühweinstand ankommen, flüstert Hannelore: „Hast du die Geldbörse?“


    „Ne!“, erwidert er und grinst.


    „Wie, ne?“


    „Viel besser. Er hatte einen Hunni in der Manteltasche. Das reicht.“


    Hannelore strahlt und stimmt an: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Zu dritt beginnen sie zu schunkeln.


    „Jetzt isses aber gut, die Leute gucken schon“, sagt Hannelore mit zittriger Stimme. Horst nickt, wischt sich eine Träne aus den Augen und bestimmt: „Lasst uns gehen. Dahinten ist ein Taxistand.“ Er reicht der Dame hinterm Tresen den Geldschein und nimmt das Wechselgeld entgegen.


    Vorhang fällt.



    Vorhang auf zum 4. Akt, Musik: „Charmaine“ (One Flew Over the Cuckoo's Nest) von Jack Nitzsche


    15 Minuten später im Aufenthaltsraum. Kai blickt theatralisch auf seine Armbanduhr.


    „Wo wart ihr?“, fragt Kai und guckt sie streng an.


    „Eine rauchen!“, erwidert Hannelore.


    „Eine? In der Zeit rauch ich zwei Schachteln!“


    „Übrigens, wir haben deinen Autoschlüssel vor dem Aschenbecher gefunden“, mischt sich Horst ein. Hannelore blickt ihn überrascht an.


    „Mach Witze!“, sagt Kai verdutzt und klappert seine Taschen ab.


    „Hier, nimm!“ Horst wirft ihm den Schlüssel zu. Kai blickt ihn verwundert an. „Tatsächlich!“ Die drei Senioren grinsen ihn an.


    „Worauf wartet ihr?“


    „Finderlohn?“, erwidert Horst.


    „Zehn Euro, reicht das?“


    Horst hält die Hand auf und Kai legt noch einen Fünfer drauf.


    „Danke und Frohe Weihnacht.“ Kai schüttelt den Kopf, macht kehrt und verlässt den Raum. Sechs Augen schauen ihm hinterher.


    „Was nutzt ihm der Schlüssel?“


    Horst zuckt mit den Schultern: „Wir wissen von nix, stimmt’s, Alfred?“


    „Alles vergessen. Ich weiß nichts.“


    „Ich auch nicht“, fügt Hannelore hinzu.


    „Und ich weiß nur, dass wir das nächstes Jahr wieder machen“, triumphiert Horst.


    „So Gott will!“, antwortet Hannelore mit leuchtenden Augen.


    „Türlich!“


    Vorhang fällt. Musik im Abspann: „Little Wing“, Akustik Version von Stevie Ray Vaughan (Jimi Hendrix-Cover).

  • Der 8. Dezember von Suzann



    Weiße Weihnachten


    Freitag, 8. Dezember


    Die ersten Schneeflocken dieses Winters taumeln aus dicken Wolken und verwandeln die Gegend in eine wie mit Puderzucker bestäubte Märchenlandschaft. Meine Frau und ich machen einen Spaziergang. Es ist so romantisch, dass wir uns wie frisch verheiratet fühlen. Wir lieben Schnee. Schon fast zu Hause rutsche ich auf der schmierigen Schneeschicht auf dem Gehsteig aus und lande wuchtig auf dem Hosenboden. Meine Frau lacht. Ich verkneife mir ein schmerzerfülltes Wimmern. Daheim wärmen wir uns mit aromatischem Glühwein die Glieder. Beim zu Bett gehen zeigt ein prüfender Blick in den Spiegel einen großen, blauschwarzen Fleck auf meiner linken Pobacke. Vor dem Einschlafen erinnert mich meine Frau daran, am Wochenende die Lichterketten rauszusuchen und am Haus anzubringen.


    Samstag, 9. Dezember


    Nach dem Aufwachen zeigt ein Blick aus dem Fenster, dass über Nacht der Schnee die Landschaft unter einer dünnen, federweich aussehenden Schicht begraben hat. Was für ein fantastischer Anblick. Gibt es einen schöneren auf dieser Welt? Hierher zu ziehen, war die beste Idee, die wir je hatten. Anscheinend vertrage ich den Glühwein nicht. Ausschlag bedeckt meinen Oberkörper. Meine Frau beginnt das Frühstück zu machen und ich ignoriere mannhaft die juckenden Pusteln und gehe Schnee schippen. Zuletzt habe ich das getan, als ich ein kleiner Junge war. Gut gelaunt schaufele ich Hofeinfahrt und Gehsteig frei und lasse mir dann das Frühstück schmecken. Danach wollen wir Einkaufen fahren. Leider habe ich nicht an Winterreifen gedacht. Ich brauchte noch nie welche. Eine Rutschpartie an den Gartenzaun des Nachbarn zeigt mir, dass Ganzjahresreifen den Anforderungen hier nicht gerecht werden. Ich klingle beim Nachbarn, um das Zaunmalheur zu beichten. Derweil geht meine Frau zu Fuß in den Supermarkt. Sie ist angepisst. Der Nachbar nimmt es mit Humor.


    Sonntag, 10. Dezember


    Die Sonne hat unseren schönen Schnee geschmolzen. Was für eine Enttäuschung. Bei der gemeinsamen Gartenzaunreparatur beruhigt mich der Nachbar. „Wir werden definitiv weiße Weihnachten haben“, verspricht er. Weihnachten ohne Schnee wäre schrecklich. Wir sind hierher gezogen, weil uns die Jahreszeiten und die weißen Weihnachten gefehlt haben. Der freundliche Nachbar meint, bis Ende des Winters werden wir so viel Schnee gehabt haben, dass wir die Nase voll davon haben werden. Ich glaube nicht, dass das möglich ist.


    Montag, 11. Dezember


    Dieser Bandit von Reifenhändler hat mir 480 Euro für Winterreifen abgeknöpft. Wieder zu Hause führt mir meine Frau stolz ihre neue Daunenjacke und die pelzgefütterten Winterstiefel vor. Bei dem kuscheligen Anblick verschlägt es mir den Atem. Was habe ich für eine schicke Ehefrau. Die Nachbarn werden mich beneiden, wenn sie sie so auf der Straße sehen. Vollkommen sprachlos bin ich, als ich den Kassenbon sehe. In der Relation waren die Winterreifen anscheinend doch nicht so teuer.


    Dienstag, 12. Dezember


    Schnee, wunderbarer Schnee. Über Nacht hat es satte 20 cm geschneit. Die Temperatur ist auf -12 Grad gefallen. Die Kälte lässt alles glitzern. Der Wind nimmt mir den Atem, als ich vor der Arbeit die Hofeinfahrt frei schaufele, damit ich mit dem Auto aus der Garage komme. Nachmittags ruft mich meine Frau in der Arbeit an. Auf unserem Gehsteig ist eine alte Dame gestürzt. Sie musste den Sohn der Dame anrufen, damit der sie abholt, weil sie nicht mehr gehen konnte. Der empörte Mann hat uns mit einer Anzeige gedroht, weil unser Gehsteig nicht sicher ist. Was für ein Quatsch. Trotzdem schippe ich den Schnee vom Gehsteig als ich von der Arbeit komme. Die Temperatur ist weiter gefallen und ich habe das Gefühl, meine Finger fallen ab. Der Gehsteig ist ohne Schnee glatt wie ein Aal. Mist, wir haben nichts zum Streuen daheim.


    Mittwoch, 13. Dezember


    Es hat wieder geschneit. Der Schneepflug muss schon durch unsere Straße gekommen sein. Unser Gehsteig liegt unter einer hohen Schicht Eis und Schnee begraben. Beim hektischen freischaufeln vor der Arbeit, bricht das Schaufelblatt, als mein Schaufelschwung an einem Hindernis jäh gestoppt wird. Ein heftiger Stich durchfährt meine Schulter. Diese Schneeschippen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Ich komme zu spät in die Arbeit.

    Meine Frau muss heute in den Baumarkt fahren, um eine stabilere Schaufel und Streusalz zu kaufen. In der Mittagspause kommt sie mit dem Bus, um das Auto zu holen. Nachmittags beginnt es wieder zu schneien. Als sie mich von der Arbeit abholt, zeigt sie mir die Delle in der Autotür, die ihr auf dem Baumarkt-Parkplatz ein unbekanntes, fahrerflüchtiges Subjekt verpasst hat. Den bring ich um. Wenigstens hat sie Schaufel und Salz bekommen. Als wir heimkommen liegt eine dicke Schicht Schnee auf den Dächern. Alles sieht rein und unschuldig aus. Was für ein herrlicher Anblick.


    Freitag, 15. Dezember


    Die Wettervorhersage von mindestens 10 cm Neuschnee war zutreffend. Meine Frau redet nicht mehr mit mir. Meine Schmerzen in der Schulter und die Verspannungen im unteren Rücken sind so schlimm, dass sie das Schippen übernehmen musste.


    Samstag, 16. Dezember


    Heute Morgen tobt ein Eissturm durch die Stadt. Damit auf meinem Gehsteig niemand mehr zu Schaden kommt, streue ich großzügig Salz auf den Asphalt. Das Streusalz tut seinen Job. Zufrieden mustere ich die freien Flächen. Das ist viel besser als der Sand und Splitt, der in der Nachbarschaft herumliegt.


    Sonntag, 17. Dezember


    Es hat wieder geschneit. Mein geliebter Sonntagsbraten fällt aus. Aus Rache dafür, dass sie in den letzten Tagen Schnee schaufeln musste, hat meine Frau keine Einkäufe gemacht. Wir haben nur noch Reis und Fischstäbchen zu Hause. Ich hasse Reis und Fischstäbchen.


    Montag, 18. Dezember


    Musste heute bei meinem Chef antreten und erklären, warum ich schon wieder zu spät in die Arbeit gekommen bin. Die widrigen Straßenverhältnisse ließ er nicht gelten, schließlich wäre es offensichtlich, dass ich nicht ins sonnige Florida gezogen bin. Da müsse man sich halt eher auf den Weg machen. Er hat Recht. Ich bin trotzdem eingeschnappt. Eine Stunde für einen Weg von 20 Minuten einzuplanen sollte eigentlich reichen. Das faule Pack vom Schneeräumdienst sollte seine Arbeit anständig erledigen, dann kämen die Pendler auch rechtzeitig an ihre Arbeitsstellen.


    Mittwoch, 20. Dezember


    Anscheinend ist zu Hause die Heizung ausgefallen. Es hat immer noch Minustemperaturen. Meine Frau hat mich in der Arbeit angerufen und mit Scheidung gedroht, wenn ich nicht unverzüglich dafür sorge, dass die Temperatur zu Hause wieder über 15 Grad steigt. Erst der Anruf beim dritten Heizungsinstallateur ist erfolgreich. Beim ersten ging wegen Urlaub nur der Anrufbeantworter ran und der zweite hätte erst in zwei Tagen kommen können. Die Telefoniererei hat so lange gedauert, dass es der Chef mitbekommen hat. Nach der Mittagspause liegt eine Abmahnung auf meinem Schreibtisch, wegen privaten Telefonierens während der Arbeitszeit und zu spät Kommens. Ein weiterer Verstoß und ich müsste mit Nichtbestehen der Probezeit rechnen. Was für ein Arsch.


    Donnerstag, 21. Dezember


    Die Heizung läuft wieder, aber es hat weitere 20 cm geschneit. Wenigstens bin ich wieder fit genug, um selbst zu schippen. Der Weihnachtsbraten ist außer Gefahr. Dieses verdammte weiße Zeug. Bin mitten in der Nacht aufgestanden und habe geschaufelt, damit ich ja rechtzeitig in die Arbeit komme.

    Musste meine Frau am Telefon abwürgen, weil der Chef in mein Büro kam. Habe aber noch mitbekommen, dass wir ein Bußgeld zahlen müssen. Wegen verbotswidrigen Streuen von Salz auf dem Gehweg. Sind die von der Stadtverwaltung verrückt geworden?


    Freitag, 22. Dezember


    Der Nachbar hatte Recht mit der weißen Weihnacht. Es hat weitere 20 cm von diesem vermaledeiten Zeug geschneit. Vom Schaufeln habe ich Blasen an den Händen. Hier liegt so viel Schnee herum, dass ich schon nicht mehr weiß, wohin damit. Diese Berge werden bis August nicht mehr abtauen. Langsam mache ich mir Sorgen um das Carportdach. Die meterhohe Schneeschicht liegt schwer auf der Dachkonstruktion.


    Samstag, 23. Dezember

    Heute hat es nur 2 cm geschneit und die Temperaturen sind fast auf 0 Grad gestiegen. Meine Frau will, dass ich das Haus mit Lichterketten dekoriere, schließlich sei morgen Weihnachten. Ist die verrückt? Warum hat sie mir das nicht vor vier Wochen gesagt. Sie meinte, das hätte sie. Ich glaube, sie lügt.


    Weihnachten, 24. Dezember

    Pünktlich zum Fest herrscht traumhaftes Wetter. Leichter Schneefall. Sonnenschein Ich habe zwar leichte Erfrierungen an den Händen, aber meine Frau ist zufrieden. Die Lichterketten hängen. Das wird heute Abend ein wunderbarer Anblick sein. Im Haus duftet es herrlich nach Plätzchen. Das bisschen Schnee ist schnell geräumt.


    Als ich in der Dämmerung die Weihnachtsbeleuchtung einschalte, ertönt ein Schlag und alle Lichter erlöschen. Mist, ein Kurzschluss. Ich taste mich im Dunklen zum Sicherungskasten vor. Ein lautes Krachen ist zu hören. Wo zum Teufel kam das her? Ich laufe aus dem Haus. Der Carport ist nur noch ein Trümmerhaufen. Darüber wirbelt eine Wolke aus Schnee. Ich sehe rot, schnappe mir die Schneeschaufel und schlage auf alles ein, was mir in den Weg kommt.

    Ich. Hasse. Schnee.

  • Der 9. Dezember von Paradise Lost



    Grau in Grau


    Ich schaue aus dem Fenster. Es ist trüb. Und grau. Und trostlos. Und bäh.

    Meine Hand tastet nach der Packung mit den Taschentüchern, ich huste trocken, dann schnäuze ich mich geräuschvoll. Scheiß Erkältung. Ich hatte ja gehofft, ich könnte das Unheil noch abwenden, aber seit fünf Tagen bin ich endgültig zum kleinen Häuflein Elend zwischen tausenden zusammengeknüllten Taschentüchern mutiert. Meine Nahrung besteht aus Fertigsuppen, Tee und Salbeibonbons. Hauptsächlich letzteren. Und zu allem Überfluss ist mein virtuelles Zuhause, das Internet-Forum in dem ich mich mit anderen, verrückten aber liebenswerten Leuten austausche, zurzeit Offline. Wartungsmodus wegen Softwareupdate. Zum Lesen habe ich einen zu dicken Kopf, die Konzentration will einfach nicht. Lustlos zappe ich durch die Kanäle. Mittagsprogramm ist der Fluch der Menschheit, ein niveauloser Schrott reiht sich an den nächsten. Ich könnte natürlich aufstehen und eine DVD aus dem Regal holen... aber im Moment erscheint mir der Weg wie eine halbe Weltreise und ich entscheide mich aus reiner Selbsterhaltung dagegen.


    Es ist Anfang Dezember und ich bin noch kein bisschen in Weihnachtsstimmung. In meiner Wohnung findet sich keinerlei Schmuck, nicht mal einen Adventskranz konnte ich mir bisher kaufen. Ich wickle mich in meine Decke und ziehe den Schal um den Hals fester, weil es mich fröstelt. Wahrscheinlich hab ich wieder Fieber. Ich nicke vor mich hin, und tue mir richtig schön selber leid. Wer auch immer mich mit diesem abartigen Männerschnupfen infiziert hat, möge im Finsteren auf einen Legostein treten. Ich seufze. Mein Blick wandert wieder aus dem Fenster, weil das immer noch interessanter ist als der Fernseher. Grau in grau in grau in grau in grau in ...


    ... in grau. Bestimmt mehr als 50 Schattierungen. Der Schnee glitzert dazwischen. Es ist wundervoll. Ich lächle und fasse mir an die Frisur. Eine der vielen Haarnadeln die mein langes, welliges, schwarzes Haar im Zaum halten hat sich gelockert und eine Strähne ist mir ins Gesicht gefallen. Ich stelle mich vor den Spiegel und stecke sie wieder ordentlich zurecht. So kann man ja nicht aus dem Haus gehen. Was würden die Nachbarn sagen? Ich betrachte mein schönes hellgraues Kleid mit den schwarzen Stickereien. Ein Geschenk meines Mannes. Heute werde ich Weihnachtseinkäufe machen. Mein Mann ist leider sehr beschäftigt, aber seit kurzem hat er einen Sekretär, der mich statt seiner begleiten und mir mit den Päckchen helfen wird. Ein wirklich reizender Mensch. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden mit so gütigen Augen gesehen.


    Als ich vor die Haustür trete, hat er uns schon ein Taxi gerufen. Er hält mir galant die Tür auf und lässt mich zuerst einsteigen, dann nennt er dem Taxifahrer unser Ziel. Es ist wunderbar zu sehen, wie die Leute ihre Häuser geschmückt haben. Mit festlichen grau-karierten Schleifen und tief-dunkelgrauen Tannengirlanden. Dazwischen die Lichter in den Fenstern die einen heimelig-hellgrauen Schein verbreiten. „Sie strahlen ja so.“ sagt der Sekretär meines Mannes. „Warum auch nicht?“, erwidere ich, „Es ist einfach wunderschön in der Vorweihnachtszeit. Alles ist so festlich, die Leute sind viel netter als sonst und zeigen Mitgefühl. Meine Familie ist gesund. Nur die viele Arbeit meines Mannes wirft einen kleinen Schatten. Aber das werden wir gemeinsam durchstehen. Er muss nur erst ein bisschen zur Ruhe kommen...“ „Nun, dafür bin ja jetzt ich da.“ Er lächelt. Und ich glaube ihm.


    Der Einkauf ist zwar trotz seiner Unterstützung die übliche Schlacht, aber wir schlagen uns tapfer und mein Träger erduldet klaglos alles, was ich ihm in die Arme drücke. Jede Menge Päckchen und Pakete in allen Formen und Farben von weiß bis schwarz. Hin und wieder gibt es auch mal eine ruhige Minute zum Verschnaufen. In der Luft schweben Weihnachtslieder, ich höre „Silver Bells“ von Bing Crosby und Carol Richards. Und auf einmal ist es so, als könnte ich tatsächlich irgendwo ein kleines silbergraues Glöckchen hören, trotz all des Trubels um uns herum. Mein Begleiter scheint es auch zu hören. Er wendet den Kopf dem Geräusch zu und lächelt wieder dieses geheimnisvolle Lächeln, das ich jetzt schon öfter an ihm gesehen habe. Als wüsste er Dinge, die uns normalen Menschen verborgen bleiben.


    Wir nehmen zum Abschluss noch eine Kleinigkeit in meinem liebsten Restaurant zu uns und machen uns wieder auf den Heimweg. Wir fahren diesmal einen kleinen Umweg, der Taxifahrer ist recht gesprächig und begeistert vom Sekretär meines Mannes. Wir kommen an einem zugefrorenen See vorbei auf dem die Leute vergnügt schlittschuhlaufen. Es ist inzwischen vollständig dunkel und die Lichterketten spiegeln sich im Eis. Als wir weiter über eine Brücke fahren, schrecke ich auf. „Halten Sie an!“ „Was ist denn los?“ fragt der Taxifahrer und bremst, allerdings erst ein gutes Stück nach der Brücke. „Da auf der Brücke war ein Mann! Er sah so aus, als wollte er herunterspringen!“ Als ich aus dem Wagen steigen will, hält mein Mitfahrer mich sanft aber bestimmt am Ellenbogen fest. „Es ist alles in Ordnung.“ „Aber der Mann...!“ „Keine Sorge. Jemand wird kommen und sich um ihn kümmern. Vertrauen sie mir. George ist nicht unsere Aufgabe.“ „George? Ist das sein Name?“ Er nickt. „Aber woher können sie das wissen?“ „Ich weiß es.“ Wieder dieses Lächeln. Und ich spüre, dass er die Wahrheit sagt. Jemand wird kommen und diesem armen Mann helfen. Das beruhigt mich. Unser Taxi fährt weiter.


    Der Weg führt uns jetzt durch einen tiefen dunklen Wald, was ein bisschen seltsam ist, weil wir in New York leben. Die Pferde, die unseren Schlitten ziehen werden unruhig und der Taxifahrer murmelt etwas von einem Klopfen im Getriebe. Ich höre das Geräusch auch, aber für mich klingt es eher wie ein fröhliches Trommeln. Gerade als ich meinen Begleiter fragen will, ob er eine Ahnung hat, was das sein könnte, bricht ein mannshoher rosafarbener Hase aus dem Unterholz und spielt „Little Drummer Boy“ während er über den Weg hoppelt. Auf seinem Rücken sehe ich eine große Batterie. Er winkt uns kurz zu und ruft „Frohe Ostern!“


    Mit einem lauten Röcheln schrecke ich auf. Ich blicke mich irritiert um. Ich sitze noch immer auf dem Sofa. Um mich herum die erwarteten Taschentücher. Die Wohnung ist in Farbe, was mich doch etwas erleichtert. Alter Schwede, was für ein Traum. Eigentlich sehr schön, eine Mischung aus alten Weihnachtsfilmen, nur zum Schluss hin wurde es ... eigenartig. Wie das bei Träumen manchmal eben so ist. Aber der erste Teil war toll. So schön stimmungsvoll und weihnachtlich und... Ich schnaufe tief durch. Eigentlich wäre das jetzt genau das richtige für mich. Ich liebe diese kitschigen amerikanischen Weihnachtsschinken aus den 40ern und 50ern, in denen die Welt so schön einfach ist (und schwarz-weiß), alles glücklich endet und die meisten Menschen im Grunde ihres Herzens gut sind. Manchmal brauche ich das, gerade heutzutage. Das würde mich bestimmt in Vorweihnachtsstimmung versetzen. Der Traum hat ja schon ein Stück weit geholfen. Leider ist die DVD mit meinem liebsten Film bei meinem letzten Umzug irgendwie verschollen. Ich wollte sie wieder nachkaufen, hab es bis jetzt jedoch noch nicht gemacht. Ich will ihn aber anschauen. Jetzt! Ich greife nach dem Fieberthermometer und stelle kurz darauf zu meiner Überraschung fest, dass ich doch kein Fieber habe. Die Entscheidung ist gefallen.


    Ich wickle mich langsam aus meiner Decke und kleide mich in vernünftige, warme Straßenkleidung und einen dicken Anorak. In die Innenstadt ist es nur ein kleines Stück zu Fuß und der Doktor hat gesagt, dass ein bisschen Frischluftschnappen der Gesundung förderlich ist. Dann mal los. Schon auf dem Weg fühle ich mich besser als die ganzen letzten Tage, meine Beine sind kräftiger und mein Kopf ist nicht mehr wie vollständig in Watte gepackt. Die Lichter in den Schaufenstern wirken auf einmal sehr festlich auf mich. Der ganze Konsumschmonz scheint gar nicht mehr so dominant. Ich sehe ein Pärchen, das mir entgegenkommt, beide aneinandergekuschelt, selig lächelnd. Ich lächle auch. Ich kann gar nicht anders. Wie gerne hätte ich auch jemanden zum Ankuscheln. Kinder laufen vorbei mit aufgeregten roten Bäckchen und strahlenden Augen. Das ist mir schon lange nicht mehr aufgefallen. Es gibt sie, diese kleinen Momente des Glücks in unserem Alltag. Ich habe offenbar viel zu lange nicht mehr richtig hingesehen.


    Schließlich komme ich beim Film-Dealer meines Vertrauens an und begebe mich auf die Suche nach der DVD. Es dauert ganz schön lange, bis ich sie endlich gefunden habe. Sie steht ganz oben auf dem Regal, offenbar keine große Nachfrage nach den Klassikern. Im Laden ist ziemlich viel los, scheinbar sind alle Verkäufer anderweitig beschäftigt. Das ist ein kleines Problem, denn ich komme nicht an die DVD heran. Sehnsüchtig blicke ich zu der Hülle empor. Jetzt habe ich mich schon überwunden mein Krankenlager zu verlassen und sollte an einem zu hohen Regal scheitern??? Plötzlich greift ein Arm von links in mein Blickfeld, nimmt die DVD und hält sie mir hin. „Wollten sie vielleicht diesen Film haben? Ein sehr schöner Weihnachts-Klassiker.“ Ich nehme die DVD entgegen und bedanke mich überrascht. Der Mann mir gegenüber trägt einen Kamelhaarmantel, hat freundliche Augen und lächelt mich ein wenig spitzbübisch an. Und er hat so ein Grübchen im Kinn.

    Fast wie Cary Grant.

  • Der 10. Dezember von belladonna



    Grün ist eine stachelige Farbe


    Grün ist eine stachelige Farbe. Warum das so ist? Vielleicht, weil Grün mich an die Kakteen-Sammlung meiner Oma erinnert. Sie hatte bestimmt zwanzig verschiedene Kakteen auf ihrer Fensterbank stehen und jede fühlte sich anders an. Bei Oma durfte ich immer alles anfassen, sie hatte nie Angst, ich könnte etwas kaputt machen. Auch die Weihnachtsbäume meiner Kindheit waren von einem stacheligen Grün, denn meine Eltern kauften immer Fichten mit piksenden Nadeln, wegen der Katzen. Die mochten es überhaupt nicht, wenn ihnen die spitzen Nadeln in die zarten Nasen stachen, und ließen den Weihnachtsbaum dann weitestgehend in Ruhe.


    Auch heute noch mag ich am liebsten Fichten zu Weihnachten. Die haben wenigstens Charakter und wehren sich auch mal, wenn man ihnen quer kommt, ganz anders als diese seelenlosen Nordmann-Tannen mit ihren weichen Nadeln, die widerstandslos alles mit sich machen lassen. Mein Mann und ich kaufen unseren Baum immer um den vierten Advent herum. Alle Jahre wieder fahren wir zu einem Bauern in der Umgebung, der die Bäume noch in seinem eigenen Wald schlägt. Wir kennen ihn schon lange und wenn wir kommen, hat er meist schon den passenden Baum für uns reserviert: keinen Riesen, der bis unter die Decke reicht, sondern eher ein kleineres Exemplar, aber doch groß genug, um den ganzen Schmuck daran unterzubringen, ohne dass man befürchten muss, der Baum könnte unter der Last zusammenbrechen. Unter den Christbaum kommt dann immer noch meine Krippe aus Kindertagen, die mit den sprechenden Tieren. Wenn man die Tiere drückt, dann muhen oder mähen oder i-ahen sie; als Kind habe ich mir immer vorgestellt, dass das „Fröhliche Weihnachten“ auf Tiersprache heißen soll. Am liebsten von allen Krippenbewohnern mochte ich jedoch immer das Jesuskind; das lacht nämlich, wenn man ihm auf den Bauch drückt. Kein nerviges Lachsack-Gelächter, sondern ein ganz zartes Kichern, ganz so, als wäre es ein wenig kitzelig.


    Die Aufgabe, den Baum in den Ständer zu bugsieren, darf immer mein Mann übernehmen, und auch beim Befestigen der Kerzenhalter auf den Zweigen muss er mir helfen. Wir haben immer echte Kerzen an unserem Weihnachtsbaum, denn ich liebe das leise Knistern der Flammen und den Geruch von Bienenwachs.


    Der Baumschmuck selbst ist dann ganz allein meine Sache und dabei möchte ich auch nicht gestört werden, denn das Schmücken des Baumes ist mein ganz persönliches Weihnachtsritual, für das ich mir jedes Jahr viel Zeit nehme. Zuerst kommt der Engel für die Baumspitze; das Gold auf seinen Flügeln fühlt sich unter meinen Fingerspitzen immer etwas rau an. Als nächstes hole ich die Kugeln aus ihren Schachteln: wir haben rote, samtige, mit einem reliefartigen Muster, und dazu noch silberne, die fühlen sich ganz glatt an. Ich mag lieber Silber an meinem Weihnachtsbaum als Gold, denn in meiner Vorstellung wirkt Gold viel zu schwer und protzig. Silber hingegen ist für mich wie frisch gefallener Schnee, der das laute Rot der anderen Kugeln ein wenig dämpft.


    Nach den Kugeln hänge ich die Strohsterne in den Baum, große und kleine, glatt an der Seite und mit spitzen Zacken. Ganz zum Schluss kommen dann noch die Holzfiguren. Davon habe ich eine ganze Sammlung, denn als Kind fand ich jedes Jahr zu Nikolaus eine neue Figur in meinem Stiefel und an Weihnachten durfte ich sie dann mit an den Baum hängen: es gibt ein Schaukelpferd, einen Wichtelmann, eine Trompete, eine kleine Wiege und noch ganz viele andere Figuren. Am liebsten mag ich aber einen kleinen Engel mit einem Glöckchen; das Glöckchen ist echt und klingelt sogar. So habe ich mir immer das Christkind vorgestellt und auch heute noch denke ich mir an Weihnachten oft, wie schön, dass das Christkind gerade in meinem Weihnachtsbaum sitzt!

    Sind schließlich alle Figuren untergebracht, ist mein Baum fertig geschmückt. Ich gehe noch einmal um ihn herum und betaste vorsichtig die Zweige um sicherzugehen, dass auch alles gut verteilt ist und jedes Stück am richtigen Platz hängt. Erst wenn sich alles gut und richtig anfühlt, bin ich mit meinem Werk wirklich zufrieden und dann darf auch mein Mann wieder ins Wohnzimmer und unseren Weihnachtsbaum in all seiner Pracht bewundern.


    Wenn dann der Heilige Abend kommt, mein Schatz und ich gemütlich bei Kerzenduft und Plätzchen auf unserer Couch sitzen und dem Läuten der Kirchenglocken in der Stadt lauschen, wenn ein Luftzug das Christkind im Baum mit seinem Glöckchen klingeln lässt und das Jesus-Baby in seiner Krippe leise dazu kichert, dann ist richtig Weihnachten für mich und in meiner Vorstellung werden die Farben lebendig und lassen mich ein wenig das Licht erahnen, dessen Anblick mir das restliche Jahr über verwehrt bleibt.

  • Der 11. Dezember von Sinela



    Eine Schneeflocke geht auf Reisen


    Die kleine Schneeflocke lag zusammen mit vielen ihrer Kumpels in einem dunklen Raum und langweilte sich. Schon viele Wochen warteten sie auf den Tag, an dem sie endlich hinaus in die weite Welt geschickt werden würden. Seit Frau Holle in Rente gegangen war und sie und ihresgleichen in der Schneeflockenfabrik hergestellt wurden, war es einfach nicht mehr wie es einmal war. Hatte sie sich zumindest sagen lassen. Aber gut, auch ihre Zeit würde kommen und sie freute sich schon sehr darauf. Endlich hinauszukommen in die frische Luft, etwas erleben, ach, was wäre das schön.


    Knarrend öffnete sich die Tür und ein heller Lichtstrahl fiel auf die weiße Pracht. Mit schweren Schritten kam ein Mitarbeiter der Fabrik herein, nahm eine Schaufel und fing an, die Schneeflocken nach draußen zu werfen. Diese wussten gar nicht, wie ihnen geschah, immer schneller begannen sie zu fallen, um dann von einem plötzlichen Aufwind wieder nach oben getragen zu werden. Rauf und runter, immer schneller, das machte vielleicht Spaß! Die kleine Schneeflocke genoss das Spiel des Windes, aber als es dann nur noch in Richtung Erde trieb, wurde ihr schon ein wenig mulmig. Was würde sie dort wohl erwarten?


    Der Mond schien auf die verschneite Landschaft, die Sterne funkelten am nächtlichen Himmel und es war bitterkalt. Der kleinen Schneeflocke indes machte das nichts aus; sie lag auf dem Ast einer Eiche und genoss die Ruhe um sich herum. Doch plötzlich schreckte sie auf, kam da nicht jemand?

    „Pass doch auf wo du hintrittst!“

    „Verdammt, schrei doch nicht so rum oder willst du, dass wir verhaftet werden?“

    „Tut mir leid,“ flüsterte die Frau und schaute sich furchtsam um. Aber außer ihrem Mann und ihr war kein menschliches Wesen im Wald.

    „Sollen wir nicht lieber wieder nach Hause gehen?“

    „Und wie willst du den Kindern erklären, dass es in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum gibt? Es ist schon frustrierend genug, dass die Geschenke so klein ausfallen.“

    „Aber du kannst doch nichts dafür, dass deine Firma pleite gegangen ist und du noch keine neue Arbeit gefunden hast. Die Kinder würden es doch verstehen, dass es deshalb ...“

    „Schluss, aus, Ende der Diskussion. Weihnachten ohne Baum wird es bei mir nicht geben. Und jetzt lass uns endlich weitergehen und nach einer kleinen Tanne suchen.“

    Die kleine Schneeflocke schaute den Menschen nach bis sie zwischen den Bäumen verschwunden waren. Sie hatte nicht gewusst, dass es nicht selbstverständlich war, dass alle Kinder am Heiligen Abend ihre Geschenke unter einem Weihnachtsbaum aufmachen konnten. Ja, es schien sogar Kinder zu geben, die bekamen gar keine Geschenke! Das machte sie so traurig, dass sie sich in den Schlaf weinte.


    Am nächsten Morgen schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und tauchte die Landschaft in gleißendes Licht. Die kleine Schneeflocke schaute andächtig von ihrem Ast hinunter und war glücklich, dass sie Teil dieses Winterwunderlandes war. Doch plötzlich war es mit ihrer Ruhe vorbei, denn der Wind frischte auf, rüttelte an dem Ast, auf dem sie lag, und nahm sie dann mit sich mit. Aber nicht lange, denn schon ging ihm die Kraft aus und sie schwebte langsam zu Boden. Neugierig schaute sie sich um. Sie war am Rand eines zugefrorenen Sees gelandet, auf dem Kinder Schlittschuh liefen. Hin und her, Drehungen, rasante Stopps, es war eine Freude den kleinen Gestalten zuzuschauen. Aber wieso blieb der kleine Junge denn am Rand des Sees stehen? Traute er sich etwa nicht?

    „Hey, du Memme, komm schon!“, rief eines der Kinder da auch schon und fuhr an den Rand des Gewässers, um dort mit einem eleganten Stopp vor dem Knaben stehen zu bleiben.

    „Ich kann das nicht mit meinem Bein“, sagte der Junge leise.

    „Ach was, nun hab dich nicht so, zieh die Schlittschuhe an und los geht es!“

    „Na gut“, seufzte der Junge, der so gerne dazu gehören wollte. Er setzte sich in den Schnee und zog sich die Schlittschuhe an. Das aufstehen fiel ihm schwer, sein Knie tat ihm ziemlich weh. Trotzdem ging er auf das Eis und fing vorsichtig an zu laufen. Immer schneller wurde er, schneller und schneller und schneller.

    „Hilfe, ich kann nicht mehr bremsen!“

    „Jetzt schaut euch den Idioten an.“

    „Der kann aber auch nichts richtig machen.“

    „Gleich haut es ihn hin“, sagte einer aus der Gruppe, die sich inzwischen auf dem Eis versammelt hatte, und lachte.

    Der Junge fuhr mit rasender Geschwindigkeit auf das verschneite Ufer zu, kam dort abrupt zum Stillstand und fiel mit dem Gesicht voran in den Schnee.

    „Der taugt doch auch wirklich zu nichts.“

    „Ist halt ein Krüppel.“

    „Sollten wir ihm nicht helfen?“, fragte ein Mädchen vorsichtig.

    „Ne, lass mal, der kommt schon alleine zurecht.“

    „Lasst uns heimgehen, da hinten kommt es ganz schwarz.“

    Die Kinder sahen die dunklen Wolken auf sich zuziehen, fuhren an das Ufer, zogen sich die Schlittschuhe aus und gingen mit schnellen Schritten davon. Keines von ihnen drehte sich mehr nach dem Jungen um, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, sein Knie umklammerte und heulte.

    Die kleine Schneeflocke war fassungslos. Konnten Kinder wirklich so gemein sein? Wenn sie dem Jungen doch nur helfen könnte. Und während sie noch darüber nachdachte, wirbelte sie der wieder auffrischende Wind hinaus auf die Eisfläche, schob sie hierhin und schob sie dorthin, bis er sich unter sie schob, sie in die Lüfte erhob und wieder mit sich mit nahm.


    Diesmal dauerte ihre Reise länger. Sie flog über den Wald, in dem sie am Vortag gelandet war, hinweg, passierte Felder und Wiesen, in denen einzelne Häuser und mehrere Dörfer eingebettet waren, bis sie zu einer größeren Stadt kam. Der Wind wehte sie über die Dächer hinweg, immer weiter und weiter. Doch plötzlich merkte sie wie sie an Höhe verlor. Als sie hinunter schaute, sah sie viele Buden mit Tannengrün dort stehen. Auf einem dieser Zweige landete sie. Viele Menschen liefen auf dem Weg zwischen den Ständen umher.

    „Nein, wie toll ist das denn? Schau doch nur, das wäre doch das richtige Geschenk für Tante Käthe!“

    Die Frau zog ihren Mann zu dem Stand, auf dem die kleine Schneeflocke lag.

    „Sie liebt doch Mineralien! Und hier gibt es so viele davon! Halsketten, Armketten, Trommelsteine und diese süßen Miniatur-Figuren!“

    „Glaubst du nicht, dass es langsam mit den Geschenken reicht?“

    „Nein, das glaube ich nicht! Tante Käthe würde sich bestimmt über so etwas freuen.“

    „Meinst du nicht, sie würde sich mehr darüber freuen, wenn du sie öfter besuchen würdest?“

    Die Frau drehte sich zu ihrem Mann um und schaute ihn erbost an.

    „Was willst du denn damit sagen?“

    „Kannst du dir das nicht denken? Jedes Jahr zu Weihnachten kaufst du Unmengen an Geschenken für Leute, an die du das ganze Jahr keinen Gedanken verschwendest. Nur um gut da zustehen. Weihnachten ist das Fest der Liebe und das Beste, das du verschenken kannst, ist Zeit! Und nicht dieser ganze materielle Mist! Mir reicht es jetzt, ich gehe.“

    Mit offenem Mund schaute die Frau ihrem Mann hinterher. Erst als der Verkäufer des Standes sie ansprach, erwachte sie aus ihrer Erstarrung und lief ihm nach. Die kleine Schneeflocke verfolgte sie mit ihren Blicken so lange es ihr möglich war. Ob sich die beiden wohl wieder vertragen würden?


    Einige Tage waren seit der Landung der kleinen Schneeflocke auf dem Weihnachtsmarkt vergangen. Kein Tauwetter hatte ihrem Dasein ein Ende gesetzt. Ruhig und eintönig waren ihre Tage vergangen. Heute aber wurden die Buden abgebaut, es war der Morgen des 24.12., der Weihnachtsmarkt war gestern zu Ende gegangen. Trotz des starken Schneefalls stieg ein Mann auf die an dem Stand lehnende Leiter und holte die Tannenzweige vom Dach. Er schüttelte den Schnee, der darauf lag, herunter. Die kleine Schneeflocke erschrak, war das jetzt das Ende? Würde sie auf dem Boden landen und dort wie viele ihrer Kumpels vor ihr zertreten werden? Doch sie hatte Glück, denn eine starke Windbö ergriff sie abermals und wieder ging es hoch hinauf. Die Dächer der Stadt wurden kleiner und kleiner. Ganz leise hörte sie noch die Lieder, die in einer Kirche gesungen wurden, dann blieben auch diese hinter ihr zurück. Nur das brausen des Windes war um sie herum und viele viele andere Schneeflocken, denn die Mitarbeiter der Fabrik schaufelten wieder was das Zeug hielt. Wie viel Zeit seit dem Beginn ihrer erneuten Reise vergangen war, wusste sie nicht; inzwischen war es aber dunkel geworden und der Wind ließ nach. Sie sank langsam nach unten bis sie sanft auf einer Fensterbank landete. Neugierig schaute sie in das Zimmer hinein. Eine große Tanne stand in einer Ecke des Raumes. Bunte Kugeln hingen an ihren Zweigen, an denen auch Kerzen befestigt waren. Vier Menschen, zwei große und zwei kleine, standen vor dem Baum und sangen. Na gut, nicht besonders schön, aber mit Freude. Die kleine Schneeflocke seufzte tief – Weihnachten war einfach schön.

    „So, ihr könnt jetzt die Geschenke aufmachen“, sagte der Mann zu seinen Kindern. Diese ließen sich das nicht zweimal sagen, setzten sich vor den Baum und begannen das Papier aufzureißen.“

    „Och mensch, schon wieder ein Pullover von Tante Inge. Dabei habe ich mir doch eine Playstation gewünscht.“

    Enttäuscht warf der Junge das Kleidungsstück zu Boden und schnappte sich das nächste Geschenk, während seine Schwester glücklich aufschrie:

    „Der Schleich-Reiterhof, genau was ich mir gewünscht habe! Ihr seid klasse!“

    Sie sprang auf und umarmte ihre Eltern. Der Junge hatte inzwischen den Karton aufgemacht, den er in der Hand hielt.

    „Ja, super, wieder keine Playstation. Was soll ich denn mit diesem ollen Buch?“

    „Wie wäre es mit lesen?“, zwinkerte ihm der Vater zu. Voller Wut sprang der Junge auf.

    „Immer bekommt Susi die Sachen, die sie sich wünscht, und ich bekomme jedesmal einen Scheiß! Ich hasse euch!“

    Er stürmte hinaus, polterte die Treppen hinauf und schlug die Tür seines Zimmers hinter sich zu.

    „Jedes Jahr schafft es dieses Kind uns das Weihnachtsfest zu verderben! Dann bekommt er halt in Zukunft gar nichts mehr! Ich habe die Faxen echt dicke!“

    Die kleine Schneeflocke war entsetzt, wie konnte man denn ein Kind, das man liebte, so behandeln? Oder liebten sie es vielleicht gar nicht? Oder weniger als das andere? Warum konnten die Menschen nicht mal an Weihnachten liebevoll miteinander umgehen? Wieso nur waren ...


    Vom öffnen des Fensters wurde die kleine Schneeflocke geweckt. Da war sie doch tatsächlich über ihrer Grübelei eingeschlafen. Sie machte die Augen ganz weit auf und sah die Hausfrau mit einem Handbesen am Fenster stehen. Mit Schwung wurde der Schnee vom Fensterbrett gefegt. Zum Glück wehte auch heute der in diesem Winter kaum eine Pause machende Wind, der sich die kleine Schneeflocke schnappte und mit sich nahm. Diesmal entführte er sie wieder hinaus auf das Land, über mehrere Bauernhöfe hinweg, bevor sie durch das einen kleinen Spalt breit offen stehende Tor in einem Stall landete. Dort standen Kühe und Pferde in ihren Boxen. Ein Hund und eine Katze lagen zusammen gekuschelt auf einem Haufen Stroh. Erstaunt schaute sich die kleine Schneeflocke um. Hier ging es nicht um materielles, niemand fühlte sich übervorteilt, alles war harmonisch und voller Frieden – diese Tiere lebten den Geist der Weihnacht. Ihr wurde warm bei diesem Gedanken, sehr warm sogar und sie begriff, dass ihre Zeit auf dieser Erde zu Ende ging. Aber hier, in dem Gefühl der bedingungslosen Liebe, ließ sie gerne los. Sie wurde weniger und weniger und als nur noch ein paar kleine Wassertropfen von ihr übrig waren, kam eine Maus aus dem Stroh gehuscht und leckte diese auf.

  • Der 12. Dezember von harimau



    Robin Hood mit Rauschebart


    Am Tatort herrschte heilloses Chaos, wie immer, wenn man ihn Dilettanten überließ. Müller, gerade erst angekommen, lehnte an seinem Auto und verschaffte sich einen ersten Eindruck von der Lage. Hinter dem von zahllosen Gaffern gesäumten Absperrband machten sich die Kollegen von der Spurensicherung bereits am Geldtransporter zu schaffen. Das Fahrzeug stand mit geöffneten Türen und, wie es sich in Deutschland gehörte, akkurat am Kantstein geparkt vorm Eingang des Bankhauses Ex und Hopp. Obwohl keine Leichen herumlagen, nicht einmal Blutflecken zu sehen waren, musste es sich um eine große Sache handeln, wenn die Verantwortlichen ihn, obendrein verschnupft bis in den Halskragen hinein, aus seinem freien Wochenende holten. Müller the Man, wie sie ihn im LKA aufgrund seiner hundertprozentigen Aufklärungsquote hinter vorgehaltener Hand nannten.


    Er zog den Rotz in seiner Nase hoch und schlüpfte unter dem Absperrband hindurch. Dem Streifenpolizisten, der ihn daran hindern wollte, hielt Müller wortlos seinen Ausweis ins Gesicht und ließ ihn stehen, um mit dem Einsatzleiter zu sprechen. „Gut, dass Sie kommen“, sagte der Mann, ein schwer gebauter Mittfünfziger, und strahlte Müller an, als sei ihm soeben, wenn auch um einige Wochen verfrüht, das Christkind erschienen. So war es eben mit der Verantwortung: Angeblich wollte jeder sie tragen, aber wenn es denn soweit war, brachen die meisten unter ihr zusammen. Genau deshalb brauchte es Leute wie ihn, Müller the Man, eiskalt und effektiv auch im Ernstfall. Als er erfuhr, dass die Gangster um die 26 Millionen Euro erbeutet hatten, pfiff er leise durch die Zähne. Dies war der Ernstfall.


    „Sie sind also die überfallenen Wachmänner?“, fragte Müller, als er vor den beiden zusammengesunken auf der Treppe zur Bank sitzenden Uniformierten stand. Der erste, ein Riese mit dem durchtrainierten Körper eines Waldgorillas und dem Gesichtsausdruck eines minderbegabten Thunfisches gesegnet, nickte schicksalsergeben, während der andere, ein kleiner Dicker, dessen knallrote Visage einen Blutdruck von mindestens 240 zu 170 vermuten ließ, geistesabwesend an einer Kippe zog, Marke Reval, wie Müller feststellte, authentisch Old School und heutzutage kaum noch zu finden.


    „Was können Sie mir über den Tathergang sagen?“


    „Es war der Weihnachtsmann!“, brach es aus dem Thunfisch heraus.


    „Viele Weihnachtsmänner, um genau zu sein“, fügte der kommende Schlaganfallpatient hinzu, Müllers fassungslosen Blick meidend, als wäre ihm klar, welchen Unsinn er von sich gab.


    „Weihnachtsmänner?“, fragte Müller lauernd nach, obwohl er sich gewiss nicht verhört hatte. „Waren vielleicht auch ein paar Osterhasen dabei? Halloween-Skelette möglicherweise? Zwei oder drei Hexen vom Blocksberg?“


    „Glaube ich nicht“, blubberte der Fisch. „Ich habe jedenfalls keine gesehen.“


    „Wollt ihr mich verarschen, ihr Trantüten?“, brüllte Müller, dass ihm die Spucke von den Lippen flog. „Wir reden hier über einen der spektakulärsten Raubüberfälle in der Geschichte Deutschlands, und ihr Hornochsen kommt mir mit Weihnachtsmännern. Jetzt reißt euch gefälligst zusammen und erzählt mir, was passiert ist!“


    Es kostete Müller annähernd zwanzig Minuten, bis es ihm gelang, aus dem Gestammel der Blödmänner alle verfügbaren Informationen herauszufiltern und diese so fantasievoll zusammenzusetzen, dass vor seinem inneren Auge ein Bild des Überfalls entstand. Offenbar war bei Ankunft des Geldtransporters ein Demonstrationszug von Weihnachtsmännern die Straße heruntergezogen, Stille Nacht singend und dabei Schilder hochhaltend, auf denen wärmere Arbeitskleidung, zusätzliche Rentiere, bessere Wartung der Gespanne und anderer Unsinn, nicht zuletzt mehr Schnee am Heiligen Abend gefordert wurde. Die Wachmänner hatten sich nichts dabei gedacht, die seltsame, aber offensichtlich harmlose Versammlung der Weißbartträger entweder für eine Werbeveranstaltung von Karstadt gehalten oder einen weiteren, von verwirrten Jugendlichen inszenierten Flashmob vermutet, wie er in der Innenstadt mittlerweile fast täglich zu beobachten war, ohne dass jemand verstand, worum es dabei ging. Das Blatt wendete sich erst, als der Thunfisch mit den Geldkassetten beladen die Ex und Hopp Bank, letzte Station ihrer heutigen Tour, verließ und sich plötzlich von Weihnachtsmännern umringt sah.


    „Waren die Kerle bewaffnet?“, fragte Müller.


    Der Fisch nickte. „Mit Ruten.“


    „Mit großen, fies aussehenden Ruten, um genau zu sein“, fügte der Herzinfarkt hinzu und zog die nächste Reval aus der Schachtel.


    „Mit Ruten also?“, lächelte Müller engelsgleich, bevor er den Fisch anschrie, dass sich das Haargel aus dessen Frisur löste: „Du trägst doch eine Schusswaffe, du Waschlappen. Wie konntest du dich von ein paar Ruten einschüchtern lassen?“


    „Was hätte ich denn machen sollen?“, fragte dieser kleinlaut. „Abdrücken und meiner kleinen Tochter später erzählen, dass der Weihnachtsmann dieses Jahr nicht kommt, weil Papi ihn erschossen hat? Da hätte ich bei ihr doch verschissen bis zum Mond und zurück.“


    „Schon klar“, murmelte Müller und blickte deprimiert zum Himmel auf, als wäre von dort – und nur von dort – dringend benötigter Beistand zu erwarten. Er wandte sich dem rotgesichtigen Fahrer zu: „Und du? Habt ihr nicht die Anweisung, den Wagen unter keinen Umständen zu verlassen? Statt einen Notruf bei der Polizei abzusetzen, bist du ausgestiegen und hast den Räubern auch noch den Tresor hinten im Wagen geöffnet. Wie ist das zu erklären?“


    „Ich wurde bedroht.“


    „Aha. Mit einer Rute, durch panzersicheres Glas hindurch, nehme ich an.“


    „Nein, schlimmer. Der Anführer hielt ein Bild von meinem Sohn an die Scheibe. Ich erinnere mich, dass es letztes Jahr unter dem Weihnachtsbaum aufgenommen wurde. Keine Ahnung, woher er das hatte.“ Er sog an der Zigarette, dass es jedem profitorientierten Kardiologen eine Freude gewesen wäre, und stieß kurz darauf eine ungeheure Rauchwolke aus, die Müller den Atem nahm. „Dann haben die sich vor der Fahrertür aufgebaut und im Chor gerufen: Wachmann, wir wissen, wo du wohnst.“


    „Und?“


    „Wie, und? Sie gehen wohl nicht häufig zum Sport, oder? Ich bin in meiner Freizeit Hobbyschiedsrichter in der Kreisliga und weiß daher, wie ernst diese Drohungen zu nehmen sind. Ich bin doch nicht lebensmüde und lege mich mit solchen Typen an. Die haben mir sogar schon mal das Auto zerkratzt und die Reifen zerstochen“, rief die Leiche in spe empört.


    „Na, wenn es so ist“, meinte Müller resignierend. „Also gut, wohin haben sich die Räuber mit der Beute abgesetzt?“, fragte er abschließend, sein Vorrat an Hoffnung so gut wie ausgeschöpft.


    „Sie sind auseinandergelaufen und habe sich in der Menge ausgelöst“, sagte der Kleine treuherzig.


    „Sicher. Was auch sonst?“ Müller stand kurz vor einem Schreikrampf, seine vielgerühmte Gelassenheit hinweggespült wie eine Sandburg bei aufkommender Flut. „Ein Haufen rotgekleideter Weißbärte löst sich in der Menge auf. Wie soll das bitte möglich sein?“


    „Schauen Sie sich doch mal um, dann verstehen Sie, was ich meine.“


    Müller ließ den Blick die Straße hinunterschweifen und begriff, dass die beiden Simpel ausnahmsweise recht hatten. Vor fast jedem Geschäft standen als Weihnachtsmänner verkleidete Gestalten und priesen überflüssigen Mist an, von sensationell günstigen Handyverträgen über vegane Lebkuchen und Webergrills für den trendbewussten Mann bis hin zur neuen Apothekenrundschau. Nur vor dem Apple Shop schwankte statt eines Weihnachtsmanns eine aufblasbare Steve-Jobs-Gedächtnispuppe im Wind, davor ein halbes Dutzend Jünger in tiefer Verehrung lang ausgestreckt auf dem regennassen Pflaster liegend.


    Müller beschloss, sich in seinen Wagen zurückzuziehen, um die Lage zu überdenken. Irgendetwas stank hier ganz gewaltig. Die Wachmänner waren mit Blödheit geschlagen, andere Zeugen solidarisierten sich schamlos mit den Räubern, als hätten Robin Hood und seine Männer den Überfall begangen, von den Tätern bislang nicht die geringste Spur. Die Kerle mussten echte Profis sein, wenn es ihnen gelang, die Sache wie das Werk von harmlosen Amateuren aussehen zu lassen.


    Müller knirschte vor Enttäuschung mit den Zähnen. Wäre er nur zum Arzt gegangen und hätte sich einen gelben Schein abgeholt, statt sich an dieser würdelosen Farce zu beteiligen; übler noch, für ihren Ausgang verantwortlich zu sein. Er hatte immer gewusst, dass seine makellose Aufklärungsbilanz eines Tages Kratzer erhalten würde, und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es diesmal soweit sein könnte. Dabei ahnte er nicht einmal, mit welchem ausgebufften Gegenspieler er es zu tun hatte.



    Zwei Tage später und weit vom Tatort entfernt saß der Weihnachtsmann in einem verlassenen Lagerhaus im Gewerbegebiet Quakenbrück-Neustadt, trank Champagner aus der Flasche und zog zwischendurch quietschvergnügt an einer kubanischen Zigarre, ein Vergnügen, das er sich nur selten gönnte. Fast ein ganzes Jahr lang war er mit der Idee für den Coup schwanger gegangen, hatte gehadert und gezögert, bis er sich, wenn auch schlechten Gewissens, an die konkrete Planung machte. Der Weihnachtsmann war von Berufs wegen gut vernetzt, er kannte genügend Bankenvorstände, Mafiosi, Börsenspekulanten und andere Kriminelle, die ihm einen Gefallen schuldeten und den einen oder anderen hilfreichen Tipp geben konnten, wie man schnell und risikolos ans große Geld kam, sofern man bereit war, dafür ein paar Gesetze zu missachten. Die Polizei hatte ihm wenig Kopfzerbrechen bereitet. Erstens verbat allein sein untadeliger Ruf jeden Verdacht gegen ihn, und zweitens hatte er Wachmänner und Zeugen mit einem harmlosen Weihnachtszauber belegt, der Wahrnehmung und Verstand gründlich verwirrte; ein kleiner Trick aus der Mottenkiste, aber immer noch hocheffektiv.


    Nur die eigene Firma bereitete ihm einige Sorgen, denn wenn herauskäme, was er getan hatte, wäre es das mit dem Job gewesen, ratzfatz würden sie ihn vor die Tür setzen, ohne Sozialplan, Überstundenausgleich und Rentenansprüche. Die Chefetage stellte extrem hohe moralische Ansprüche, daran ließ sich nicht rütteln, auch wenn ihm nichts fernerlag, als sich persönlich zu bereichern.


    Ungewöhnliche Zeiten erforderten eben ungewöhnliche Maßnahmen, sagte er sich, um das in der Firma unpopuläre Sprichwort mit dem Zusammenhang von Zweck und Mittel zu vermeiden. Weltweit wurde immer mehr Geld verdient oder zumindest gemacht, doch es wurde entweder ungerecht verteilt oder verschwand gleich spurlos, nicht nur in Panama oder anderen zweifelhaften Paradiesen, an der Steuer und somit den Bedürfnissen der Allgemeinheit vorbei. Angesichts schwindender Einnahmen aus Kirchensteuer und zweckgebundenen Spenden bei gleichzeitig wieder steigenden Geburtenzahlen bedeutete dies Jahr für Jahr sinkende Budgets für die Geschenke pro Kind, gerade für die Bedürftigen. Nicht jeder hatte einen neoliberalen Selbstoptimierer zum Vater, der es sich leisten konnte, seinem Nachwuchs zum Fest ein Bobbycar mit 48 Elektro-PS starkem Hilfsmotor im Design eines Porsche Cayennes, Puppenhäuser mit Wasserhähnen aus solidem Gold oder gleich ein absurd hohe Gewinnmargen versprechendes Aktienpaket einer amerikanischen Rüstungsfirma unter den Baum zu legen. Wer sollte sich zum Fest um die zwanzig Prozent dauerhaft in Armut lebenden Kinder in Deutschland kümmern, wenn nicht er, der Weihnachtsmann?


    Als er vor Jahren auf einer internen Betriebsversammlung innovative Aktionen zur Verbesserung dieser Misere vorgeschlagen hatte, erntete er seitens der Vorstandsetage nur Kopfschütteln. Man legte traditionell großen Wert auf Gerechtigkeit und Soziales dort oben, keine Frage, aber in letzter Konsequenz dachte man doch konservativ – immerhin nicht so konservativ, dass man CSU wählte, wie ihm der Junior einmal anvertraut hatte.


    Der Weihnachtsmann nahm einen weiteren Schluck Champagner und kicherte, inzwischen leicht angetrunken, beim Gedanken daran, wie die Chefs damals zusammengezuckt waren, als herauskam, dass er sich gewerkschaftlich organisiert hatte (Postdienste, Speditionen und Logistik unter dem Dach von ver.di, wie maßgeschneidert für seine Tätigkeit). Sie mussten damit leben, schließlich war er ein verdienter, zuverlässiger und beim Volk äußerst beliebter Mitarbeiter, wie er ganz unbescheiden fand. Und was seinen kleinen Coup betraf: Hatte er damit nicht die gern von Arbeitgebern eingeforderte Eigeninitiative bewiesen, wenn auch hinter deren Rücken, indem er es selbst in die Hand nahm, unterprivilegierten Kindern eine Freude zu bereiten?


    Als ihm klar wurde, dass er den Überfall nicht allein bewerkstelligen konnte, hatte er eine Reihe von Telefonaten geführt, um eine schlagkräftige Hilfstruppe zusammenzustellen. Er konnte dabei auf eine große Anzahl von Männern – und sogar einigen Frauen; die weißen Bärte machten es möglich – aller Altersgruppen zurückgreifen, die ihm zum Teil seit Jahren am Heiligen Abend unentgeltlich assistierten. Ein paar kinderlose Arbeitslose befanden sich darunter, Pädagogen, Sozialarbeiter, Studenten, überwiegend der eher brotlosen Geisteswissenschaften wie Geschichte und Philosophie, während angehende Wirtschaftswissenschaftler oder Juristen es vorzogen, so sie überhaupt in Weihnachten investierten, ihre Dienste meistbietend im Internet zu versteigern. Seine Helfer waren sofort Feuer und Flamme für die Aktion gewesen, die letzten Idealisten, wie er sie nannte, denen er selbst die kleine Aufwandsentschädigung, wie der Champagner und die Zigarre aus seiner eigenen Tasche bezahlt, förmlich aufzwingen musste. Die Beute, 26.233.452 Euro in nicht nummerierten Scheinen, lag unangetastet und fein säuberlich gestapelt vor ihm auf dem Tisch und wartete darauf, für gute Zwecke ausgegeben zu werden. Der Weihnachtsmann bereute nichts, und falls er doch noch aufflog und es ihn die Stellung kostete, konnte er sich immer noch einen Job als Paketauslieferer bei DHL suchen. Oder eben Banken überfallen.

  • Der 13. Dezember von imandra777



    Weihnachtszeit


    Stress –

    er kommt und er geht.

    Arbeiten, Tests, Mappenüberprüfungen.

    Schüler schwitzen, drehen ab.


    Stress und Hektik –

    Konferenzen, Schwänzer, Unordnung,

    Chaos-Klassen, Korrekturen, Weihnachtsvorbereitungen zuhause.

    Verzweiflung im Dezember.


    Kleine Pausen –

    Adventsgestecke, Weihnachtssterne,

    Fenster schmücken, Wichtelgeschenke sammeln.

    Durchatmen in der stressigen Zeit.


    Kleine Schocks –

    Förderstunden werden verteilt,

    dicke Tränen kullern bis zum Willkommen;

    dann ein Strahlen samt spontaner Umarmung.


    Weihnachtsgeist –

    kleiner Michel wie sein Namengeber;

    vergisst sich selbst, will die Lehrerin für sich:

    „Drei Schüler reichen in unserer Gruppe!“


    Der erste Schnee –

    Freitagnachmittag, kleine Förderrunde:

    „Wir wollen auch Freitag vor Weihnachten kommen! – Kekse backen!“

    „Frau Lehrerin, können Sie den Boden nicht kaltstellen? Dann bleibt der Schnee liegen!“


    Stress und Herzlichkeit –

    Korrekturen, Chaos-Schüler, aber…

    … die kleinen Lichtblicke wärmen mich…

    ich liebe meine Schüler und das Zusammensein mit ihnen.


    Zukunft –

    nur Vertretung, auf der Suche nach Festanstellung;

    die Schüler verlasse ich ungern,

    aber habe ich zum Halbjahr Glück?


    Alle Jahre wieder –

    Mittwoch und Donnerstag die Gespräche –

    im neuen Lebensjahr weiß ich mehr.

    Verharre ich oder gehe ich mit einem lachenden und weinenden Auge?

  • Der 14. Dezember von Iszlá



    Achtung Kontrolle!


    Heiligabend, 18.46 Uhr.

    Wir befinden uns in einer schwach beleuchteten, nass glänzenden Nebenstraße in einer kleinen Stadt in Deutschland.

    Ein junger Polizist steigt aus seinem Dienstfahrzeug, um einen ihm merkwürdig erscheinenden Verkehrsteilnehmer, den er soeben angehalten hat, zu überprüfen.


    „Guten Abend ... Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte!“

    „Habe ich nicht.“

    „Nicht dabei oder ...?“

    „Nein, ich besitze weder Führerschein noch Fahrzeugpapiere.“

    „Dann steigen Sie bitte aus.“

    „Dafür habe ich keine Zeit, ich muss dringend –“

    „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Sie weiterfahren lasse?“

    „Fliegen.“

    „Fliegen?“

    „Ja, ich fliege.“

    „Aha ... Haben Sie getrunken?“

    „Natürlich nicht!“

    „Das werde ich gleich feststellen. Davon einmal abgesehen: Ich darf Sie so oder so nicht weiter fahren lassen. Entschuldigung – fliegen natürlich. Sie haben keine Fahrerlaubnis, können nicht belegen, dass dieses Fahrzeug Ihnen gehört, und Mängel sind in ausreichender Menge vorhanden, um es augenblicklich aus dem Verkehr zu ziehen. Sehen Sie: Unzureichende Beleuchtung, eindeutige Überladung und gesichert haben Sie das ganze Zeug auch nicht. Was ist das überhaupt? Diebesgut?“

    „Hören Sie bitte auf, in den Säcken herumzuwühlen! Diese Dinge werden dringend erwartet!“

    „Von Ihrem Hehler? Wie auch immer: Ich muss eine Anzeige schreiben. Begleiten Sie mich bitte zu meinem Auto.“

    „Ich muss heute noch einige Millionen Haushalte anfliegen, ich habe keine Zeit! Außerdem sind Sie der Erste, der mich in einigen Jahrhunderten Dienstzeit angehalten hat. Das ist mir noch nie passiert!“

    „Gerade fällt mir auf, dass Sie auch noch im absoluten Halteverbot stehen. Da kommen einige unangenehme Dinge auf Sie zu, das versichere ich Ihnen! Können Sie sich ausweisen?“

    „Gleich habe ich aber genug! Haben Sie keine Ahnung, wer ich bin?“

    „Würde ich Sie dann nach Ausweispapieren fragen? Halten Sie sich etwa illegal in Deutschland auf?“

    „Chef, wir müssen uns jetzt aber sputen! Wir hinken unserem Zeitplan hinterher!“

    „Unglaublich. Kinderarbeit auch noch?“

    „Das ist kein Kind, das ist mein Chefwichtel!“

    „Na klar, und ich bin der Weihnachtsmann!“

    „Nein, ICH bin der Weihnachtsmann! Lassen Sie mich doch bitte einfach nur – Viktor!“

    „Entschuldigen Sie, Chef, aber wir haben schon viel Zeit verloren. Der gute Mann schläft eine Weile und wir können endlich weiterfliegen. Und machen Sie sich keine Sorgen: Die Geschichte dieser Begegnung wird ihm niemand glauben.“

    „Aber ... Also gut. Auf geht’s!“


    Während der Polizist tief schlummernd wie von Zauberhand zu seinem Dienstfahrzeug schwebt, um im Innenraum bei laufender Standheizung weiterzuschlafen, gibt der Weihnachtsmann Vollgas. Innerhalb weniger Sekunden sind er, sein Chefwichtel und der völlig überladene Schlitten in der Dunkelheit verschwunden.

  • Der 15. Dezember von Nightflower



    Katerhafte Weihnachten


    Der kleine Kater zuckte mit den Ohren. Schön kuschelig warm hier. Aber langsam knurrte dann doch mal der Magen. Einstein hob langsam den breiten Kopf. Hmpf, der warme große Mensch schlief ja immer noch und die mit den langen Haaren auch. „Hm…“ Langsam rappelte er sich hoch in eine sitzende Position. Genüsslich fuhr der kleine Kater seine Krallen aus. Ausfahren, einfahren, ausfahren, einfahren, immer schön im Wechsel.


    Hach, wie beruhigend! Man, der bewegte sich ja trotzdem nicht. Was war heute nur los? Und dieses Lichtding war auch noch aus. Ob er es anmachen konnte? Vielleicht würde er sich dann bewegen? Er tappte über den linken Arm des Menschen und auf das Nachttischchen. Schnüffel, schnüffel, mal anstupsen. Nix. Langsam schaute er wieder rüber. Hach man. Das gab’s doch nicht! Auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Bettes hob seine Schwester auch mal den Kopf und dann attackierte sie wie aus dem Nichts heraus die stoffbezogene Lehne, aus der sie schon viele Fäden gezogen hatte. Da bekam er auch Lust seine Krallen zu wetzen und rannte flink über die beiden warmen eingewickelten Körper hinweg. Seine Schwester fiel vor Schreck mit einem dumpfen Laut vom Stuhl.


    Tschaaaakaaaa! Der Stuhl hatte nichts mehr zu melden, er würde ihm zu Opfer fallen hahaha! Da erwischte ihn aus dem Nichts eine Hand und eine verschlafene Stimme murmelte: „Lass das! Es ist erst 8 Uhr man, hast du mal auf die Uhr geguckt, Einstein?! Heute können wir eigentlich ausschlafen.“ Menno! Na gut, dann halt nicht. Hach, da, seine Schwester lugte mit großen Augen unter dem Bett hervor. Hatte sie sich versteckt? Schlechtes Versteck! Die hatte er ja gleich gefunden! Mit Karacho sprang er vom Stuhl. Da drehte sich die Katze geschmeidig um und verschwand zwischen den Kisten. Tz. Als ob er nicht wusste wo sie hinging! In 2 großen Sätzen war er über das Bett gesprungen, ignorierte das genervte Gejammere von dem kleinen Mensch und rannte hinter seiner Schwester her, die inzwischen auf der anderen Seite des Bettes rausgekommen war und stürzte sich auf sie. Diese kreischte und fauchte. Anschließend flüchtete sie auf den Stuhl im Esszimmer. Als er versuchte sie zu erwischen, fing sie an mit einer Pfote nach ihm zu angeln. Er knurrte und sprang mit einem Satz auf sie.


    Im Schlafzimmer stöhnte die mit den langen Haaren. Schließlich hörte Einstein polternde Schritte und einen Fluch, als der Mensch mit nackten Füßen in das im Badezimmer verteilte Katzenstreu trat. Hihi, ja, im Bad waren noch die Überbleibsel ihrer Katzenkloparty verteilt. Die Tür wurde zugedrückt. Nein, nein, nein. Er mochte keine geschlossenen Türen. Laut heulend warf er sich vor der Tür auf den Boden. „Mauuuuu!!!“ „Mauuuu!!!“ „Jaja, schon gut Einstein. Jetzt halt die Klappe!“ Der kleine Mensch tappte zurück zum Bett. Nein, nein, nein, er hatte doch Huuuuunger! „Mauuu!!“ Er sprang aufs Bett. Ha! Der große Mensch war jetzt auch wach. Sehr gut! Er sprang ihm auf die Brust und stupste ihn mit dem Köpfchen an. Schnell noch die Lefzen an dem Menschen reiben. Der Mensch streichelte ihn und versuchte ihn festzuhalten. Nix da! Jetzt war keine Kuschelzeit mehr, sondern Fresszeit! Wieso verstand der das nie? Immer das gleiche! Er entwand sich dem Griff und sprang auf den Boden. „Mau!“ Er ließ sich auf den Boden fallen und räkelte sich auf dem Rücken. Da musste der Mensch lachen. „Ja schon gut, komm, es gibt Futter!“ Juhu! Schnell huschten er und seine Schwester in die Küche. Dabei fiel der Mensch fast über die Katze, worauf dieser lautstark ein paar kurze Sätze von sich gab.


    Während seine Schwester sich zur Arbeitsfläche hochreckte, wartete der kleine Kater geduldig unter dem Küchenregal. Das Fressen kam doch immer zu ihm! Oh, da gab es noch ein paar Dreiecke. Lecker, knack knack. Und da kam auch schon das Fleisch. Hach, lecker. Er schlabberte es auf. Danach schleckte er sich genüsslich das Mäulchen und ging langsam ins Wohnzimmer. Er ließ sich auf den Teppich fallen und widmete sich seiner Fellpflege. Nachdem er sich gründlich gesäubert hatte, verschwand er im Tunnel um nochmal ne Runde zu schlafen. War das Leben nicht toll?


    Später entdeckte er, dass die Sonne auf den Tisch schien und er beschloss sich dorthin zu begeben. Die Sonne machte sein Fell so schön warm. Nach einer Weile bemerkte er, dass der Mensch die Badewanne wieder nass gemacht hatte. Das mochte er doch so gern. Also lief er hin und sprang hinein. Hihi, da wurden seine Pfoten immer so lustig nass. Er ließ sich auf den Rücken fallen. Der große Mensch lachte, rannte weg und hielt ihm ein rechteckiges Ding vor die Nase. Was dieser immer damit wollte?


    Schließlich beschloss der kleine Kater, dass es da noch mehr zu erkunden gab und er sprang aus der Badewanne und auf die Waschmaschine. Er schnupperte an etwas, nieste und ahhh, was war das!? Ein Haargummi. Sein Lieblingsspielzeug! Er schnappte es sich bevor der Mensch „Halt!“ rufen konnte und ließ es im Wohnzimmer fallen. Dann stupste er es immer wieder an, sprang wie wild im Kreis herum und brachte so den Menschen mit den langen Haaren zum Lachen. Eine Rolle vorwärts! Zack! Das Haargummi flutschte weg, er sprang hinterher und dann war es auf einmal weg. Wo war es hin? Er schnüffelte, fischte mit den Vorderpfoten, aber er konnte es nicht mehr erwischen. Mist. Schon wieder! Das passierte einfach ständig und dann war der Spaß schneller vorbei als er gucken konnte. Egal. Einstein wandte sich ab und beschloss ein wenig herumzuwandern, vielleicht entdeckte er ja noch etwas Interessantes. Als das nicht der Fall war, sprang er auf die Tonne und von dort in die kuschelige Hängematte. Er rollte sich zusammen und schloss müde die Augen. War das Leben anstrengend! Als ihm jemand über den Kopf strich, reckte er der Hand sein Ohr entgegen. Da juckte es! Ah, schon besser! Er rollte sich auf den Rücken, damit die Hand auch seinen Bauch kraulen konnte. Perfekt! Er schnurrte und genoss es.


    Eine Weile später bemerkte er, dass die Menschen wild herumrannten, Stoffe aus dem Schrank zogen und wo anders fallen ließen. Der Schrank! Hihi, er war offen und zack war er drin und bereit sich dort häuslich einzurichten. Da stöhnte der kleine Mensch auch schon und packte ihn um ihn wieder herauszuziehen. Autsch! Er zappelte mit den Beinen und als das nichts half, krallte er sich im nächstbesten Stoff fest. Ein ganzer Stapel fiel aus dem Schrank und verteilte sich überall. Toll! Ein neuer Schlafplatz für seine Schwester, die liebte Stoffe! Aber die Stoffe wurden von dem Menschen gepackt und zurück in den Schrank gestopft. Er versuchte an der Hand vorbeizuwitschen, wurde aber gepackt und zurückgezogen. Ach menno! Er mochte den Schrank. Da war es dunkel und gemütlich! Ein richtiges Katzennest! Seine Schwester bearbeitete schon wieder einen Stuhl um sich anschließend darauf zusammenzurollen. Die und ihre Stühle!


    Einstein lief zurück ins Wohnzimmer, aber er fand keine Ruhe. Die Menschen waren so hektisch! Oh, was lag da? Eine Schnur! Toll! Er hakte seine Krallen hinein und ließ sich auf den Boden fallen. Mithilfe seiner Vorderpfoten brachte er die Schnur zu seinem Maul und fing an darauf herum zu kauen. „nein, nicht doch! Das ist Papas Geschenk!“ Die Schnur wurde ihm aus dem Maul gezogen und schnell hieb er mit seinen Krallen danach. Das gehörte doch ihm! Aber der Mensch war schneller. Mist! Immer, wenn was Spaß machte! Er sprang ein paar Mal durch den Tunnel. Der raschelte so toll! Und dann gings aufs Sofa auf die Kuscheldecke. Von dort beobachtete er die Menschen. Hier war heute alles so sauber. Was war eigentlich los? Irgendwie ein komischer Tag! Als ein klingelndes Geräusch ertönte, rannten er und seine Schwester so schnell es ging ins Schlafzimmer. Dabei schlitterten sie um die Ecke. Er stieß sein linkes Hinterbein am Türrahmen. Egal, weiter. Schnell! Unters Bett! Während seine Schwester schon wieder an der Schwelle zum Schlafzimmer stand, hielt er sich lieber skeptisch im Hintergrund. Er hörte Gestampfe und Stimmen. Besuch!?!? Och nee. Er versuchte den tatschenden Händen zu entgehen und zog sich wieder auf die Hängematte zurück. Dann ignorierte er die vielen Stimmen und steckte die Nase ins Fell. Als er das Ritschratsch in der Küche hörte, sprang er eilig dorthin. Fressen! Er wurde ja auch Zeit! Sich das Mäulchen schleckend, kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Diese ganzen Menschen! Anstrengend. Aber irgendwie auch interessant. Er schlüpfte unter ein paar Händen hindurch. Was war das? Noch mehr Schnüre? Und Papierkugeln? Hach wie das knisterte und raschelte! Papier war einfach klasse.


    Mit vollem Karacho sprang er in den großen Papierhaufen! Die Menschen lachten, aber das war ihm egal. Einer der Besuchsmenschen warf ihm etwas Rundes entgegen. Hin und her rollte er eine kleine Kugel. Oh, seine Schwester hatte sie abgefangen. Oh, eine Schnur! Schnell, hinterher! Die Schnur wurde quer durch den Raum gezogen. Er trippelte hinterher und sprang sie an. Ha! Schnell die Krallen reinhauen. Er ließ sich mit seiner Beute auf den Boden fallen und kugelte herum. Wie toll! Und er durfte sogar darauf herumkauen! Das war ja wie Weihnachten!! :)

  • Der 16. Dezember von Rumpelstilzchen



    Hänsle und Gretel


    Eine wahre Geschichte


    Ihr kennt sicher alle das Märchen von Hänsle und Gretel. Seit Jahrhunderten wird es immer wieder erzählt – aber heute möchte ich euch erzählen, wie sich die Geschichte wirklich abgespielt hat.


    Vor vielen Jahren lebte der Weihnachtsmann noch nicht im fernen Finnland, sondern gar nicht weit weg von hier, direkt hinter den sieben Bergen. Es war Anfang Dezember, der erste Schnee war gefallen, die Tage waren kurz und die Nächte lang und kalt. Im Haus und in der Werkstatt des Weihnachtsmanns herrschte reger Betrieb. Alle Fenster waren hell erleuchtet, man konnte Wichtel und Engel erkennen, die geschäftig hin und herliefen, an großen Tischen geheimnisvolle Dinge zusammenbauten oder wunderhübsche Geschenke packten. Aus dem Schornstein quoll dicker Rauch und ein Duft nach Lebkuchen und Plätzchen lag in der Luft.


    Die Hirsche, die an Weihnachten den schweren Schlitten ziehen sollten, tollten mit den Wichtelkindern im Schnee umher, als der Fuchs ganz aufgeregt aus dem Wald gelaufen kam. Er war ganz außer Atem, so schnell war er gerannt. „Kommt schnell, ihr müsst mir helfen. Im Wald sind zwei kleine Kinder, die den Weg nach Hause nicht finden können. Sie werden in der kalten Nacht erfrieren, wenn wir ihnen nicht helfen, “ keuchte der Fuchs.


    „Ohjeohje“ riefen die Wichtelkinder. “Los Rudi, da müssen wir sofort los und ihnen helfen“. Rudi war der größte der Hirsche, hatte ein auffallend rot leuchtendes Geweih und konnte den richtigen Weg bei jedem Wetter finden. „Wir müssen uns gut überlegen, was wir tun. Wir dürfen doch niemandem die Lage von Weihnachtsmanns Haus verraten! Was machen wir nur, wir können sie doch nicht ganz alleine im Wald lassen?“ „Lasst uns den Bäckerengel fragen, was wir da tun können“, schlug das jüngste Wichtelkind vor und genau das taten sie. Der Bäckerengel hatte die Arme voller Mehl, hatte knallrote Wangen vom Ausrollen der vielen Plätzchen und wollte schon losschimpfen über die eiskalte Luft und den vielen Schnee, der mit der ganzen Bande durch die offene Tür hereinkam. Als er aber von der Notlage der beiden Kinder hörte, war er gleich wieder besänftigt. „Hmm, da müssen wir gleich etwas tun. Auf den Weihnachtsmann können wir nicht warten.“ Der war nämlich noch unterwegs um die Wunschzettel der vielen Kinder in Empfang zu nehmen.


    „Ich hab’s. Wir haben doch den alten Schuppen, wo früher der alte Schlitten stand. Da gibt es einen kleinen Ofen, darin machen wir gleich Feuer, damit es schön warm wird. Wir bringen die Kinder dort hinein. Keiner von den Wichteln darf sich zeigen. Ich verkleide mich als alte Frau und der Fuchs soll Rudi und mich zu den Kindern führen. Ihr Wichtel kocht derweil Kakao und feuert den Ofen tüchtig an. Bringt auch eine heiße Suppe und einige Lebkuchen hin. Vergesst nicht, ein kleines Bett hineinzutragen und ein dickes Federbett. Alles andere überlegen wir später.“


    Kurze Zeit später zog der Bäckerengel mit Rudi und dem Fuchs los. Ihr hättet ihn nicht wiedererkannt. In alten Kleidern, ein Kopftuch tief ins Gesicht gezogen und schwer auf einen Stock gestützt, hinkte er hinter Rudi her. Nach einer Weile kam auch der alte Rabe Abraxas angeflogen und ließ sich auf seiner rechten Schulter nieder. Abraxas war neugierig und ließ sich niemals etwas Aufregendes entgehen.


    Die Wichtel sausten inzwischen durcheinander, rannten sich vor lauter Eifer gegenseitig um, hatten aber in kurzer Zeit aus dem alten Schuppen eine behagliche Bleibe gemacht. Jetzt warteten sie ungeduldig auf die Neuankömmlinge und spähten aus den Fenstern.


    Dank Fuchs‘ guter Nase waren die Kinder schnell gefunden. Sie lagen aneinander gekuschelt unter einer großen Tanne und waren erschöpft eingeschlafen. „Sie sind schon ganz kalt“, meinte der Bäckerengel, nahm die beiden sanft in die Arme und legte sie, warm in Felle eingemummelt, in den Schlitten, den Rudi die ganze Zeit hinter sich hergezogen hatte.


    Schnell ging es zurück und die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, wurden ins warme Bett gepackt. Der Bäckerengel bewachte ihren Schlaf. Natürlich konnten die neugierigen Wichtel nicht widerstehen, lugten durch das Fenster und wisperten aufgeregt. Besuch von Menschen bekamen sie sonst nie.


    Nach einigen Stunden wurde das Mädchen wach, rieb sich erstaunt die Augen und fuhr beim Anblick der alten Frau mit dem Raben auf der Schulter erschrocken zurück. „Wo bin ich? Bitte tut mir nichts!“


    „Du bist in meinem Haus, liebes Kind. Mein Freund der Fuchs hat euch heute Nacht im Wald gefunden und gemeinsam haben wir euch ins Warme gebracht. Wie seid ihr beiden denn nur so weit in den Wald geraten? Mitten im Winter?“


    „Ach, Frau Muhme“, der Kleinen rollten dicke Tränen über die Wangen. „Wir sind arme Kinder und unsere Mutter hat uns zum Holz sammeln geschickt. Es waren aber schon so viele Leute unterwegs und wir mussten weit gehen, bis wir überhaupt ein paar Zweige gefunden haben. Plötzlich war es dunkel und wir konnten den Weg zurück nicht finden. Wir haben uns unter eine Tanne gelegt und müssen eingeschlafen sein.“ Jetzt erwachte auch der kleine Junge, schaute sich vorsichtig um und versteckte sich gleich hinter der Schwester.


    „Kommt ihr beiden, steht auf. Hier ist warme Suppe und Kakao gibt es auch.“ Das ließen sich die beiden ausgehungerten Kinder nicht zweimal sagen, hüpften aus dem Bett und machten sich über die warme Suppe her. Der kleine Junge bekam kugelrunde Augen vor Staunen über die vielen Lebkuchen, die auf dem Tisch lagen.


    „Ich heiße Gretel und das ist mein Bruder Hans, den alle Hänsle nennen. Was habt ihr denn jetzt mit uns vor, Frau Muhme?“ „Was ich mit euch vorhabe? Natürlich bringt euch Rudi der Hirsch wieder in euer Dorf zurück, sobald es hell geworden ist“. Da begann Gretel zu weinen. „Mutter wird mit uns schimpfen. Wir haben doch alles Holz im Wald liegen lassen, “ schluchzte sie. „Nicht weinen Gretel, ich packe noch einen großen Packen Holz auf den Schlitten, das reicht für eine Weile.“


    Kaum war es hell geworden, rief der Bäckerengel nach Rudi und packte die beiden Kinder wieder in warme Felle. Er gab den beiden noch ein großes Paket mit Lebkuchen mit und belud den Schlitten mit Holz. Gretel und Hänsle wussten sich kaum zu fassen vor Freude über diese Herrlichkeiten.


    Rudi lieferte die Kinder wohlbehalten vor dem Häuschen ihrer Eltern ab.


    Bald verbreiteten sich im Dorf Gerüchte über ein wundersames Häuschen, das aus Lebkuchen und Süßigkeiten bestand. Vorsichtshalber ist der Weihnachtsmann dann weit weg nach Finnland gezogen.


    Warum in den Geschichten der Menschen aus dem verkleideten Bäckerengel eine böse alte Hexe geworden ist, das kann ich euch auch nicht verraten.

  • Der 17. Dezember von Johanna



    Weihnachten diesmal im Süden


    Wie jedes Jahr nahte Weihnachten in schnellen Schritten und auch dieses Jahr wollte sie wieder flüchten. Noch immer fühlte sie sich zur Weihnachtszeit zu Hause nicht wohl.


    Das Drama des letzten Jahres, der sie die heilige Nacht am Flughafen verbringen ließ, war im nachhinein gesehen zwar kein so großes Drama gewesen, im Gegenteil, letztlich wurde es wider erwarten ja sogar dank des freundlichen Flughafenpersonals ganz nett.

    Trotzdem, wiederholen wollte sie das nun aber auch nicht unbedingt.

    Zuhause bleiben war aber auch keine Option, so daß sie sich dazu entschloß, doch wieder in die Ferne zu schweifen.


    Dem geneigten Leser, der sich nicht an das verschneite Flughafenfest erinnert, sei dieser Link ans Herz gelegt.


    Gestrichener Flugverkehr aufgrund eines Schneesturmes dürfte sich ja nicht wiederholen. Derartige Zufälle waren einfach unwahrscheinlich.

    Zudem hatte sie entschieden, auf das Flugzeug zu verzichten und es statt dessen mit der Bahn in Richtung Süddeutschland zu versuchen. Immerhin erster Klasse, das wollte sie sich gönnen.


    Das Wetter am 24. Dezember war stabil, die Fahrkarten sicher in der Tasche verstaut, Koffer gepackt – es konnte losgehen. Sie freute sich auf ihren Aufenthalt in dem Luxushotel in den Bergen, das eine Weihnachtsfeier für seine Gäste veranstalten wollte.


    Als sie ihr Abteil des Zuges betrat und sich niederlassen wollte, sah sie sich plötzlich dem Weihnachtsmann gegenüber. Sie stutzte und er grinste sie an.“Keine Angst, ich bin nicht echt. Ich habe mich nur schon einmal kostümiert, da ich heute abend den Weihnachtsmann geben muß. Meine Tasche war derart voll, daß ich das Kostüm kurzerhand angezogen habe, um es nicht auch noch unterbringen zu müssen.“


    Sie lachte: “Steht Ihnen aber gut. Und ein Weihnachtsmann im Zug kann ja nur Glück bringen.“

    „Ich bin Felix“, stellte er sich vor.


    Sie unterhielten sich recht angeregt, der Zug ratterte vor sich hin. Die Landschaft schoß an ihnen vorbei und leise Schneeflöckchen fielen stetig vom Himmel und verbreiteten eine gemütliche Atmosphäre.

    Nach etwa zwei Stunden Fahrzeit - Wahnsinn, wie die Zeit vergeht bei netter Unterhaltung - verdichtete sich der Schneefall immer stärker.


    Dann, ein plötzlicher starker Ruck, der sie dem Weihnachtsmann in die Arme fallenließ.

    „Was ist denn jetzt los? Ob jemand die Notbremse gezogen hat?“


    Der Zug stand. Sie sahen aus dem Fenster, konnten aber nicht viel erkennen da der Schneefall einfach zu dicht war.

    Durch die Tür zum Gang konnten sie Passagiere erkennen, die ebenso ratlos aussahen, wie sie selber.


    Dann knackste es, ein Räuspern und eine männliche, sonore Stimme erklang aus den Lautsprechern: „Liebe Fahrgäste, ich muß Ihnen leider mitteilen, daß wir ein Problem haben. Aufgrund des starken Schneefalls hat sich vor uns auf den Gleisen eine sehr hohe Schneewehe gebildet, die wir momentan nicht durchfahren können. Wir müssen auf den Eisbrecher warten, der von der anderen Seite her eingesetzt wird, um uns wieder freizubekommen“ Etwas verschmitzt folgt dann noch: „Wenigstens funktionieren die Heizungen und unsere Zugbegleiter werden jetzt durch den Zug gehen und Ihnen warme Getränke anbieten. Natürlich auf Kosten der Bahn. Wir bedauern den Zwischenfall und hoffen, daß wir demnächst unsere Fahrt fortsetzen können“


    „Nein, das glaube ich jetzt nicht. Da muß doch jemand seine Hände im Spiel haben.“ Rief sie laut und leicht entsetzt.

    Och, das wird sicher bald schon wieder“ erwiderter Felix.

    „Das kann ich mir nicht vorstellen, nicht nach meinen Erfahrungen im letzten Jahr“, lachte sie.


    Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie geduldig – was blieb ihnen auch anderes übrig – in ihrem Abteil, ließen sich Kaffee bringen, unterhielten sich und lernten sich allmählich besser kennen.


    Es knackste erneut und die Stimme des Zugführers erhob sich über da Abteil:“ Meine lieben Fahrgäste. Ich bedauere, Ihnen sagen zu müssen, daß wir heute nicht weiterfahren können, da der Eisbrecher einen Defekt hat und im Laufe des Tages ausgetauscht werden muß. Wir haben uns aber bemüht, den kleinen Gasthof, der ein kleines Stück neben den Gleisen liegt zu kontaktieren und haben Glück, daß die dort geplante Weihnachtsfeier abgesagt wurde, so daß uns der gesamte Gasthof zur Verfügung steht.

    Wer also die Möglichkeit nutzen möchte, ist herzlich eingeladen, den Abend dort zu verbringen und

    für die Fahrgäste, die absolut dringend weitermüssen, haben wir einen Taxiservice organisiert, der die Passagiere zum nächsten passierbaren Bahnhof fährt von wo sie über eine andere Strecke umgeleitet werden.“


    Ein Blick genügte und die beiden waren sich einig, das Angebot anzunehmen. Mein Hotel kommt auch ohne mich klar, meinte sie. Ich komme auf keinen Fall mehr pünktlich zu meinem Fest, war Felix Argument.


    Durch den Schnee kam den Fahrgästen ein großes Schneemobil entgegen, das sie Passagiere in kleinen Gruppen zum Gasthof fuhr.

    Einige der Mitreisenden hatten das Angebot ebenfalls angenommen. In dem kleinen gemütlichen Gasthof angekommen, wurden sie herzlich empfangen und in einen weihnachtlich dekorierten Saal geführt.

    „Das war Rettung in der Not, für beide Seiten“, flüsterte ihr die Wirtin zu. „Sie brauchen nicht im Zug zu frieren und wir haben nicht umsonst die Weihnachtsfeier für die ausgefallene Gesellschaft organisiert.“


    Tatsächlich war das Essen, das ihnen serviert wurde, hervorragend und auch Die Stimmung in dem gemütlichen Gastraum war festlich, so daß die meisten Fahrgäste ihren Ärger ad acta legten und den Aufenthalt genießen konnten.


    Spät am Abend, sie saß mit Felix, jeder mit einem Glas Rotwein bewaffnet, an einem Tisch und resümierte, nicht mehr ganz nüchtern.

    „Irgendwie habe ich ein Talent dazu, nicht da anzukommen, wohin ich eigentlich wollte, vielleicht verhindert da jemand, daß ich Weihnachten verreise? „


    Felix, sich mittlerweile seines Weihnachtsmannkostüms entledigt, zwinkerte ihr zu und meinte grinsend : “Nächstes Jahr brauchst Du ja auch nicht mehr vor Weihnachten zu flüchten, dafür hast jetzt ja mich.“


  • Der 18. Dezember von polli



    Morgen kommt der Weihnachtsmann



    Eine Geschichte? Als ob ich Zeit hätte, mir etwas auszudenken. Mein Alltag besteht momentan aus zusätzlichen Proben mit den Kindern, aus Elternvorspielen und Adventskonzerten in Seniorenwohnheimen. Vom normalen Musikunterricht ganz zu schweigen.


    Im ersten Semesterhalbjahr unserer Musikschule gibt es immer kurz vor Weihnachten einen Wettbewerb für Grundschulkinder, die nach den Sommerferien begonnen haben, Gitarre zu lernen. Sie müssen im Unterricht ein vorgegebenes Weihnachtslied vorspielen, fehlerfrei, auswendig und in einem ordentlichen Tempo. Die meisten können zu diesem Zeitpunkt die ersten Liedchen nach Noten spielen. Mit etwas Mühe ist „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ ganz gut zu schaffen, auch auswendig. Natürlich sind die Kinder sehr nervös, deshalb gibt es bei unserem Wettbewerb nur wenige, die ihr Lied tatsächlich ohne Steckenbleiben und falsche Töne vortragen.

    Ach ja, drei Preise gibt es, die unsere Sponsorin jedes Jahr stiftet. In diesem Jahr hat sie kleine, glitzernde Broschen entworfen, die den Umriss einer Gitarre zeigen. Sie sind in unserer Vitrine im Erdgeschoss ausgestellt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Eltern jedes Mal vor der Glasscheibe stehen und sehnsuchtsvoll die Schmuckstücke betrachten. Und dann fordern sie ihr Kind auf, endlich mehr zu üben, um verdammtnochmaldaskanndochnichtsoschwersein zu den erfolgreichen drei Besten zu gehören. Dass alle Kinder, die sich angestrengt und mitgemacht haben, eine Urkunde bekommen, ist ihnen egal.


    Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben. Leider sind diese Gaben im Leben etwas ungleich verteilt. Diejenigen Eltern, die sich ganz besonders dringend von ihrem Kind wünschen, dass es ein Virtuose auf seinem Instrument wird, diese Eltern haben nach meiner Erfahrung Pech. Ende November war es ein kleiner, beharrlicher Zweitklässler, der für sich beschlossen hatte, dass er seiner Familie gern ein Weihnachtslied vorspielen wollte. Nicht erst zu Ostern. Sondern rechtzeitig zum ersten Advent. Er nutzte ein paar Regentage zum heimlichen Üben in seinem Zimmer und als er sich sicher war, dass er sein Lied auswendig spielen konnte, meldete er sich im Unterricht und trug das Lied vom Weihnachtsmann flott und fehlerfrei vor. Applaus und etwas Neid bei den anderen, als er als erster die glitzernde Gitarrenbrosche bekam.

    Kurz darauf schaffte es eine Drittklässlerin und dieses Mal waren es ihre Freundinnen, die die Glitzerbrosche bestaunten und ein kleines bisschen Neid unterdrückten.


    Unter den Eltern, die im Eingangsbereich unserer Musikschule auf ihre Kinder warteten, kam Geraune auf. In der Vitrine lag jetzt noch eine letzte Brosche. Welches Kind würde über die anderen triumphieren und zu den Besten gehören? Das eigene? Die Zeit drängte. Man konnte den Eindruck haben, dass in diesem Wettbewerb die Weichen für eine strahlende Zukunft gestellt wurden. Mutter und Vater eines Wunderkindes zu sein, eines, das die anderen Eltern so sehnsuchtsvoll betrachten würden wie sie selbst gerade diese verdammtnochmal allerletzte Brosche, das war ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte.


    Mit diesen nicht sehr weihnachtlichen Gedanken sammelten die Eltern ihre mehr oder weniger fleißigen Kinder ein und fuhren mit ihnen heim. Bis auf Frau G. Sie hatte ihren Sprössling längst ins Auto gesetzt und ihm eingeschärft, keinen Unfug anzustellen. Man weiß ja, wie kreativ Hochbegabte sein können, wenn sie ein paar Minuten nicht gefördert werden und sich deshalb langweilen.


    Frau G. tauchte in meinem Unterrichtsraum auf, während ich noch mit Zusammenräumen beschäftigt war. „Sie sind doch die Lehrerin meines Sohnes.“

    Der Satz klang unangenehm. „Sie meinen Anton?“

    „Ganz genau. Sie wissen sicher, dass Anton sehr, sehr gern den ersten Platz im Gitarrenwettbewerb gewonnen hätte?“

    Ich nickte höflich.

    „Allerdings haben Sie zwei andere Kinder bevorzugt und diese belegen jetzt die Plätze eins und zwei.“

    So kann man es auch sehen. Ich bemühte mich um eine diplomatische Antwort.

    „Nun, Frau G., es steht jedem Kind frei, sich bei mir zu melden, wenn es sich sicher fühlt, das Lied vom Weihnachtsmann flüssig und ohne Fehler vorzuspielen. Natürlich ist das Lerntempo nicht bei allen gleich. Erfahrungsgemäß sind diejenigen im Vorteil, die seit dem Beginn des Unterrichts regelmäßig geübt haben.“

    „Sage ich ja. Anton ist längst soweit, aber er traut sich nicht, sich zu melden. Hochbegabte werden ja ständig gemobbt, Sie sollten das als Lehrerin wissen.“

    Attacke. Die Frau wurde ungemütlich. Ich entschied mich für friedliche, vorweihnachtliche Worte.

    „Es ist wirklich nett und fürsorglich von Ihnen, dass Sie mich auf Antons Befürchtungen aufmerksam machen. Das erleichtert den Umgang mit ihm. Ich schlage vor, dass er in der nächsten Unterrichtsstunde auf jeden Fall vorspielen darf, ich weiß ja jetzt, dass er sich nicht traut, sich zu melden. Und nun bitte ich Sie um Entschuldigung, dass ich unser Gespräch an dieser Stelle unterbrechen muss, ich habe einen Termin in einem anderen Raum.“

    Ich verabschiedete mich und ließ Frau G. stehen, die sich, wenn ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, nicht sicher war, ob ich für oder gegen ihren Anton war.


    Bisher war mir nicht aufgefallen, dass dieses Kind über besondere Begabungen verfügt. Höchstens, wenn man das Finden von Ausreden dazurechnet: „Ich konnte dieses Lied nicht üben, weil ...“

    Denkt euch an dieser Stelle einfach selbst was aus: Hamster krank, Gitarre bei Oma vergessen, musste für Mathe üben, Mama hatte Kopfschmerzen und brauchte ihre Ruhe, Ausreden eben.


    Natürlich hatte Anton bis zum nächsten Mal nicht geübt. Der Weihnachtsmann wäre stinksauer gewesen, hätte er sein Lied so fehlerhaft und stockend gehört wie an diesem Tag.

    Ich ließ meine Anfänger am Ende der Stunde überlegen, wie das Lied wohl weitergeht, das mit den Tönen d c h h a a g beginnt, als überraschend Frau G. hereinplatzte. „Und?“

    „Nach dem Unterricht habe ich eine Minute Zeit für Sie – wenn Sie bitte draußen warten möchten ...“

    Sie mochte, Glück gehabt. Wie das Lied heißt, habe ich nicht verraten, das müssen die Kinder bis zum nächsten Mal herausfinden. Ihr dürft natürlich mitraten. Außer Konkurrenz.

    Als alle den Raum verlassen hatten, bat ich Frau G. herein. Sie ließ Anton im Flur warten, ohne ihm einzuschärfen, keinen Unfug anzustellen.


    „Anton hat gleich zu Beginn sein Lied vorgespielt. Leider war es noch nicht fehlerfrei und auch nicht auswendig. Ich möchte, dass Ihr Kind regelmäßiger als bisher übt, damit er mit der Gruppe mithalten kann.“

    Ich übersetze: Anton konnte das Lied kein bisschen, er übt kein bisschen und er kann kein bisschen mit den anderen mithalten. Und dann passierte etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Frau G. drückte mir einen Briefumschlag in die Hand. Er war offen und ich schaute hinein. Geldscheine.

    „Sie müssen verstehen, es ist meinem Mann und mir sehr, sehr wichtig, dass Anton einen Preis bekommt, wir sind auch damit einverstanden, dass es nur der dritte Platz ist.“

    „Frau G., so geht das nicht, dieser Preis ist nicht käuflich, und ich bin es auch nicht. Dieses Geld werde ich nicht annehmen.“

    „Oh, wenn es Ihnen zu wenig ist – wir können gern über einen größeren Betrag reden. Hauptsache, unser Kind gewinnt. Er ist einfach nicht gewohnt zu verlieren. Sie wissen schon, Hochbegabung. Das geht, wie unser behandelnder Kinderarzt, Prof. Noel, uns mitgeteilt hat, mit einer besonderen Sensibilität einher.“

    Leider bin ich gelegentlich besonders unsensibel. Genau jetzt zum Beispiel.

    „Frau G., im Klartext, ich bin nicht bestechlich. Für kein Geld dieser Welt ist diese Brosche erhältlich. Für Sie und für Anton gibt es nur einen Weg.“

    Sie sah mich ratlos an.

    „Anstrengung, Frau G.“

    „Nein, das geht nicht“, sagte Frau G. entschieden. „Das ist unserem Kind nicht zuzumuten!“

  • Der 19. Dezember von Leselampe

    Der Weihnachtsbaum

    Es war schon ein kluger Schachzug der christlichen Missionare, die Geburt ihres Gottes in die längste Nacht des Jahres zu legen, an dem auch die germanischen und keltischen Stämme die Wiedergeburt des Sonnenkindes feierten. In dieser dunklen Nacht funkeln die Sterne heller und strahlen die Kerzen hoffnungsfroher als in jeder anderen Nacht des Jahres. So habe ich es verinnerlicht, seit ich denken kann. Dieses Bild scheint sofort vor meinem inneren Auge auf, wenn ich an Weihnachten denke.


    Ich sehe mich an der Hand meines Vaters über den großen dunklen Stadtplatz gehen. Keine Lichtergirlanden quer über den Straßen, keine schreienden Neonreklamen an den Häusern, keine grell dekorierten Auslagen in den Geschäftshäusern, dafür dunkle Schaufenster, nur vereinzelt von Weihnachtsdekoration erleuchtet, Schnee, der mit seinem matten Schein und seinem Funkeln Straßen und Plätze wie eine Bodenbeleuchtung erhellt, dann und wann ein spätes Auto, und dann: das Fenster der alten Apotheke, an dem wir Kinder uns in jedem Advent die Nasen platt drückten. Eine Krippe in einer funkelnden Schneelandschaft, die bis heute noch nicht abgeschmolzen ist, sondern im Heimatmuseum gut konserviert, der Stall mit allem, was dazugehört, das rote Hirtenfeuer, nicht anders als in anderen Krippen. Aber: Im Hintergrund zog eine Engelschar vorbei, nicht in 3-D, nur zweidimensional aus Karton, von rechts nach links an einem unsichtbaren Band gezogen. Man sah genau, wie es funktionierte. Es hatte nichts geheimnisvolles, überirdisches. Es waren immer die gleichen Engel. Am Ende ihres Weges kippten sie links nach unten hinter die Schneekulisse und tauchten am rechten Rand wieder auf. Aber für mich war das eine Vorahnung auf die ewige Seligkeit. Ich weiß nicht, warum mein Gedächtnis dieses Fenster unveränderlich bewahrt und abruft, sobald ich an Weihnachten denke. Gleichzeitig taucht dann auch er auf. In der Mitte des Marktplatzes vor dem altehrwürdigen Rathaus. Der Weihnachtsbaum. Eine mächtige Fichte, die von den Waldbauern Mitte Dezember frisch geschlagen wurde. Sie stand da, den ganzen Platz beherrschend, ohne Glitzerschmuck, nur mit ihren unzähligen elektrischen Lichtern, die sich nicht aufdrängten, die nur ihr ruhiges Licht spendeten in dieser Nach der Nächte. Und je mehr ich mich zeitlich von dieser frühesten Erinnerung entferne, desto riesiger wird er und desto intensiver leuchten seine Kerzen. Es ist, als versammele er alle meine bruchstückhaften Kindheitserinnerungen um sich : Die Vorbereitungen im Advent, die geheimnisvolle Dunkelheit beim täglichen Aufstehen, die stille Kirche, in der eine Krippenlandschaft aufgebaut war, die jedes Jahr die gleiche war, und jedes Jahr völlig neu, die Blaskapelle auf dem Balkon des Rathauses, der Heilige Abend in der Familie, Zeiten der Freude, Zeiten des Kummers, die er, nur durch seine unerschütterliche Präsenz, in Zeiten der Hoffnung verwandelte.


    Heute steht noch immer ein Baum an dieser Stelle, aber es ist nicht mehr mein Weihnachtsbaum, den meine Erinnerung bis in den Sternenraum wachsen ließ, er reicht nur bis zum Giebel des alten gotischen Rathauses, und es ist, als fürchte er sich vor dem lauten geschäftigen Treiben um ihn herum und vor den schreienden Lichtsalven der rücksichtslosen Reklamebotschaften, gegen die seine unaufdringlichen Kerzenlichter auf verlorenem Posten stehen.


    Ich schlendere durch den obligatorischen Weihnachtsmarkt, ohne Schnee und ohne Weihnachten, aber mit Kitsch und Krempel, dem jeder Weihnachtszauber fehlt, und trete ein in die Kirche meiner Kindheit. Hier müsste ich den Zauber von Weihnachten noch finden, in der dunklen Stille des gotischen Kirchenraums, in deren Seitenschiff immer noch die alte Krippe mit der schneefreien orientalischen Landschaft steht. Aber sie hat ihren Zauber verloren. Genau so wie die beiden Christbäume links und rechts des Altares. Kein prachtvolles glitzerndes Lametta und keine leuchtenden bunten Kugeln, die das elektrische Licht der Kerzen zu funkelndem Strahlen erwecken, nur gleichförmige glanzlose Strohsterne, die das Licht der Kerzen nicht in den Raum leiten, sondern absorbieren und für sich behalten. Ich fühle mich einsam in diesem entzauberten Haus Gottes. Doch dann schließe ich die Augen und tauche ein in den geschützten Raum meiner Erinnerungen, und er steht wieder vor mir: der mächtige Weihnachtsbaum. Und mit ihm all die in ihm lebendig gebliebenen zauberhaft verklärten Erinnerungen. Und unsere kalte funktionalisierte Welt hat keinen Zutritt.

  • Der 20. Dezember von rienchen



    Riss aus Gold


    „Was machst Du Da?“


    Es war kalt geworden in den letzten Tagen und pünktlich zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes hatte es angefangen, zu schneien. Die Flocken legten sich auf alles, was still stand, weshalb einzig und allein die Hütten auf der Verkehrsinsel gegenüber der Kirche bezuckert schienen, ringsherum tobte das Chaos. Autos bahnten sich unter Gehupe und Gedränge einen Weg durch das Gestöber, vorbei an erleuchteten Konsumtempeln, Hotels, Kinos, Restaurants und Imbissbuden. Touristenschwärme mischten sich auf dem Boulevard mit Obdachlosen und Hilfsorganisations- Straßenarbeitern, die jeden, der es hören wollte oder nicht, mit dem gleichen Satz ansprachen. Selbst an diesem kalten Tag war die City West voll wie immer, am Eingang des Zoos warteten die Menschen auf Einlass, um sich an Träumchen und Schätzchen hinter Gittern zu ergötzen.


    „Was machst Du da, wer bist Du?“,


    wiederholte der Budenbesitzer – Alfons Müller - seine Frage an die Frau, die sich seit ein paar Stunden mit einem kleinen Körbchen neben seinem Aktionsstand aufhielt. Die Geschäfte gingen bereits jetzt blendend beim Entenangeln, trotz der Betonpoller, die den Markt ringsum begrenzten. Die Besucher schienen trotz des Ereignisses vor fast einem Jahr in bester Feierlaune. Meist landeten sie am Ende des Bummels, nach Glühwein und Punsch bei ihm und versuchten noch schnell ihr Glück beim Spiel. Die Frau hob den Kopf und lächelte ihn freundlich an. Sie trug einen Mantel in warmen Farben, an dem der Schnee abperlte. „Möchtest Du eine Nuss?“ Sie hielt ihm das Körbchen hin, in dem die Früchte glänzten, als wären sie in flüssiges Metall getaucht. Müller nahm zögernd eine hinaus, drehte sie in seinen Fingern und hielt sie hoch gegen das Licht einer Straßenlaterne. „Und was soll ich damit? Was kann diese Nuss?“ „Was sie kann? Das ist eine merkwürdige Frage.“ Mittlerweile hatte sich eine kleine Menschentraube um die beiden versammelt. Aus einem Grüppchen Frauen mit Rentierpullovern, auf denen Wir lassen uns unseren Glühwein nicht vermiesen! stand, hörte man Gekicher und schließlich rief eine von ihnen: Wird das jetzt hier mit dem Angeln noch was oder soll ich Dir erst noch ´nen Nussknacker besorgen?“ Ihre Nase war rot und an ihren Ohren baumelten blinkende Weihnachtsmann- Ohrringe. „Jaja, ich komme“, murrte Müller, fragte aber noch: “Was soll die denn kosten?“ „Gar nichts“, antwortete die Frau. “Wenn Du sie haben möchtest, behalte sie.“ Müller stutze, nickte, steckte die Nuss ein und eilte zu seinem Stand.


    „Papa, die verschenkt was!“ Ein Mädchen zog ihren Vater durch die Menge hin zu den glänzenden Nüssen. „Die kosten wirklich nichts?“, fragte er die gütig lächelnde Frau, die zur Bestätigung den Kopf schüttelte. Der Vater zog seinen Schal enger über seinem Jackett zusammen. Manschettenknöpfe blitzten an seinem Ärmel. Er beugte sich zu seiner Tochter hinunter und erklärte: "Merk dir eins: Niemand gibt dir im Leben einfach so aus Spaß etwas umsonst, wenn er sich nicht selbst etwas davon verspricht. Vielleicht ist in der Nuss ein Peilsender eingebaut und die Frau verfolgt dich, wenn du zur Schule gehst und fängt dich dann ein, um schlimme Sachen mit Dir zu machen und viel Geld zu verdienen.“ Die Frau aber hatte die Nuss schon in die Hand des Mädchens gelegt und als der Vater sie ihr wieder abnehmen wollte, öffnete sie sich und ein kleiner Zettel fiel heraus:


    Finde Deinen Weg. Sei stolz darauf, wer Du bist.


    Das Mädchen lächelte, als ihr Vater sie mit hochrotem Kopf und laut schimpfend weiterzog.


    Zwei Polizisten mit Maschinengewehren näherten sich langsam. „Ist hier alles in Ordnung?“, fragten sie die Umherstehenden, einzelne Schlagwörter waren durch das Gemurmel zu erahnen. Verfolgung, Kindesmissbrauch, illegal. „Können wir mal ihre Konzession sehen?, wandte sich der jüngere Beamte an die Frau, die nun schmunzelte. „Welche Konzession? Ich verkaufe doch gar nichts. Ich verschenke Zaubernüsse. Möchten Sie auch eine? Ich heiße übrigens Maria.“ Sie hielt dem Polizisten das Körbchen hin, er zog einen Handschuh und einen Beutel aus seiner Tasche, nahm eine Nuss und ließ sie in den Beutel fallen. „Die wird untersucht, jute Frau!“, sagte er in einem Ton, der alles Gemurmel verstummen ließ. „Den Ausweis, bitte!“ Der ältere Polizist zog seinen Kollegen weiter. „Komm schon, die ist irre, aber harmlos. Lass uns lieber weiter nach dem Rechten sehen.“


    Eine Gruppe Jugendlicher schlug ihr das Körbchen aus der Hand. „Guckt mal, ein Gutmensch! Hat was zu Verschenken!“, johlten sie und einige von ihnen sprangen wild auf den Nüssen rum, um sie zu zerstören, aber die Früchte blieben ganz, sogar, als einer von ihnen anfing, mit einem Stein darauf zu schlagen. „Was sind das für Mistdinger, dass die noch nicht mal kaputtgehen?“, kratzte sich einer von ihnen am Kopf. Als Maria auf ihn zukam und unbeeindruckt anfing, die Nüsse wieder einzusammeln, öffnete sich die Nuss wie von Zauberhand und es fiel ein kleiner Zettel heraus:


    Lass die Affen und mach Deine Ausbildung zu Ende. Es ist noch nicht zu spät!


    Mit seinen Kumpels suchte er schnell das Weite vor dieser komischen Frau, aber den Zettel, den steckte er sich stolpernd in die Hosentasche.


    So verging der erste Tag und jeder weitere glich dem nächsten. Maria stand mit ihrem Körbchen unbewegt und viele Menschen betrachteten sie misstrauisch, andere aber auch neugierig, einige hielten sie für einen durchtriebenen Trick, von wem auch immer. Die meisten Standbetreiber wollten sie nicht in ihrer Nähe, wer hatte schon was zu verschenken in diesen Tagen. Und Grund zum Misstrauen gab es schließlich auch ohne diese undurchsichtige Person genug. Beschwerden bei der Polizei gingen ein, diese aber war machtlos. Selbst nach eingehender Untersuchung ließ sich die beschlagnahmte Nuss weder öffnen, noch enthielt sie in irgendeiner Form eine Gefahr für Leib und Leben und Maria machte im Grunde genommen ja gar nichts. Sie stand auf einem öffentlichen Weihnachtsmarkt, bedrängte niemanden, sprach noch nicht mal aus eigener Initiative jemanden an. Sie war einfach nur präsent. Als unter großem Gedränge der Markt eines abends plötzlich abgeriegelt wurde und die Bundeskanzlerin erschien, um mit einigen Standbesitzern und Besuchern ins Gespräch zu kommen und eine Rose in Marias Nähe niederlegte, schoben Sicherheitsbeamte sie grob zur Seite. Vereinzelte „Hau ab“- Rufe waren zu vernehmen.


    So kam der 19. Dezember, der erste Jahrestag nach dem Terroranschlag. Der Weihnachtsmarkt blieb geschlossen und das Areal großräumig abgesperrt, alle Buden blieben zu und unter großem Politiker-, Presse- und Polizeirummel wurde ein Mahnmal zu Ehren der Opfer eingeweiht und ein Gottesdienst gehalten. Zwölf vor der Gedächtniskirche eingebaute Betonstufen mit den Namen der Toten wurden enthüllt und in einer nicht öffentlichen, von der Polizei geschützten Zeremonie gossen Hinterbliebene der Opfer flüssiges Gold in einen auf dem Boden eingebauten Riss vor den Stufen. In sicherer Entfernung warteten Presseleute auf die günstige Gelegenheit eines Interviews oder auf gut verwertbare Bilder, auf Emotionen, alle großen Nachrichtensender ließen Liveticker laufen unter ihren Werbesendungen laufen.

    Maria stand auch an diesem Tag in einiger Entfernung vor einem Betonpoller mit ihrem Körbchen und beobachtete die unbeteiligten Menschen, wie sie versuchten, Bilder der abgeschotteten Zeremonie zu erhaschen oder mit Selfiesticks Fotos des Ereignisses zu machen. Es gab sogar eine Demonstration, auf einem Schild war zu lesen:


    „Der Steuerzahler wurde angegriffen und der Steuerzahler erstellt ein Mahnmal. Gehts noch???“ *


    Ein anderer trug einen Galgen mit dem Schriftzug; „Reserviert für „Wir schaffen das“ Merkel.“ **


    Niemand nahm Notiz von Maria, nur einmal zischte ein vorübergehendes Pärchen: „Also ich würd‘ mich hier nicht vor die Poller stellen, sondern dahinter, bin ja nicht lebensmüde.“ Der Weihnachtsmarkt selbst war dunkel und still. Nur an einem Häuschen brannte das Licht einer Kerze, als die Glocken der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche zwölfmal schlugen.


    So verging der erste Weihnachtsmarkt und das erste Jahr, in dem Maria aufgetaucht war und es wurden viele weitere. Im Laufe der Zeit wunderte man sich nicht mehr über die Frau mit den Silbernüssen, kaum jemand wollte sie haben. Besucher, Polizisten und Schausteller nahmen Maria einfach hin, wie man einen Leberfleck im Gesicht hinnehmen muss oder eine Warze. Eine andere Wahl hatte man ja auch nicht. Sie nahm noch nicht einmal einem gut konsumierenden Besucher einen Sitzplatz weg und riskierte dadurch ein Ordnungsgeld, sie schien nie müde. Manchmal kam es aber vor, dass Kinder freudig auf sie zuhüpften und sich eine Nuss einsteckten, bevor sie von ihren Eltern schnell weitergezogen wurden. Ein Streife gehender Polizist steckte ihr manchmal eine Tüte Maroni oder gebrannte Mandeln zu, nachdem sich einmal eine Nuss in seiner Hand geöffnet und ihn der Inhalt ihn zum Lächeln gebracht hatte.


    Im fünften Jahr nach dem Anschlag beschloss der Senat, den Markt am 19. Dezember nicht mehr gezwungenermaßen geschlossen zu halten. Es sollte den Händlern selbst überlassen werden, ob sie ihrem Geschäft an diesem Tag nachgehen wollten, auch aus wirtschaftlicher Sicht war das einfach das Vernünftigste. Die Opfer wurden nicht wieder lebendig, wenn nur ringsherum das Geld ausgeben wurde und in den Einzelhandel floss. Sollte der Markt das selber regeln. Außerdem wurde der Stille Tag hinter vorgehaltener Hand auch als Eingeständnis an den Terror gewertet, als Einschränkung, an diesem Tag westliche Freiheit zu leben. Das konnte sich die Politik nicht leisten. Am großen Tannenbaum vor der Gedächtniskirche aber sollten den ganzen Tag nur Weihnachtslieder gespielt werden (entsprechend laut, um die dröhnende Musik des gegenüberliegenden Bekleidungsgeschäftes zu übertönen) und Polizisten-Hologramme ermahnten Betrunkene an den Glühweinständen, aus Pietät nicht zu laut zu lachen. Überwachungsdrohnen surrten an diesem Tag extra leise unter Trauerflor über die Köpfe der zahlreich erschienenen Besucher, die für diesen ganz besonderen Tag lange Anfahrtswege auf sich genommen hatten.


    „Five Years !!!!! :(


    postete Horst aus München mit seiner Freundin im Arm vor dem Mahnmal auf allen dreißig sozialen Mediennetzwerken. Das mittlerweile übliche Eintrittsgeld spendete man an diesem Tag großzügig in einen Fond für die Hinterbliebenen der Opfer, und auch die Ausweiskontrolle und das Körperscanning am Eingang gingen zügig und unbürokratisch von der Hand. Man hatte ja auch nichts zu verbergen, an die Gesichtserkennungskameras hatte man sich längst gewöhnt .


    Es war am frühen Abend dieses Tages, als Müller beschloss, seinen Stand aufzugeben. Der 19. Dezember war in all den Jahren ein wichtiger Gedenktag für ihn geworden, an dem er inne hielt, mit seiner Frau zusammen einen langen Spaziergang machte, am Abend eine Kerze vor seinem geschlossenen Stand aufstellte, sich in die Dunkelheit setzte und in aller Ruhe eine Zigarette rauchte. War das öffentliche Interesse anfangs noch groß gewesen, besonders am ersten Jahrestag, legte es sich mit den Jahren. Wenige, aber immer die gleichen Personen kamen meist nach Einbruch der schützenden Dunkelheit und legten Blumen auf die Treppenstufen des Denkmals vor der Kirche. Einmal war er kurz davor, einen jungen, auf dem Boden knienden Mann anzusprechen. Er würde ihm so gerne sagen, wie sehr er sein Leid verstand und er wollte ihn fragen, ob er Weihnachten mit ihm feiern wollte, weil seine Frau immer schön kochte und seine Enkelkinder Weihnachtslieder vor dem Tannenbaum sangen, aber er fand keinen Mut. Alles, was er sagen würde, klang lächerlich anmaßend, oberflächlich und abgedroschen. So blieb er in der Dunkelheit sitzen, um auf seine Schuhspitzen zu starren. Die Bilder in seinem Kopf würde er nie vergessen, diesen Tag voller Gewalt, Leid, Blut und Schmerzen, der alles veränderte. Aber er hatte gelernt, mit ihnen zu leben und das Ritual des Stillen Tages half ihm dabei. Vergeblich hatte er mit einigen Kollegen zusammen davor gewarnt, die Tradition des geschlossenen Marktes einfach aufzuweichen, aber der Versuch einer Gegenbewegung lief ins Leere. Die Öffentlichkeit war der Ansicht, dieses Ereignis ginge sie nichts mehr an, und irgendwann müsse auch mal Schluss sein mit der Betroffenheitsbewältigung.


    Den ganzen Tag hatte er einen Kloß im Hals verspürt und als zwei angetrunkene Frauen anfingen, sich unter Gejohle mit seinen Plastikentchen zu bewerfen und dabei die brennende Gedenkkerze trafen, reichte es ihm. Es war kurz vor Heiligabend, vor Weihnachten. Dem Fest der Liebe und Mitmenschlichkeit. Er spürte Wut und Leere. Es war der 19. Dezember, und es sollte Stille herrschen. Wohin steuerte diese Welt? Kurzerhand begann er mit dem Abbau, Maria sah ihm zu. Er winkte. In den ganzen Jahren hatte er sich an die Gestalt im bunten Wintermantel gewöhnt, die er manchmal mit den Blicken suchte, wenn die Bilder in seinem Kopf überhand nahmen. Wenn die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt und ihm die Nachrichten aus aller Welt zu viel wurden. Sie strahlte etwas Leises, Beruhigendes auf ihn aus, und sie war immer da.


    „Laufen die Geschäfte nicht gut, schließt Du schon?“


    Müller nickte. Ja, er wollte schließen. Für immer. Er ließ die Blicke schweifen über die Buden seiner Marktnachbarn, sah ein knutschendes Pärchen und einen Mann in abgetragener Kleidung, der mit einer Taschenlampe im Mülleimer nach Pfandflaschen suchte. Wie so oft tastete Müller in seiner Tasche und steckte ihm einige Münzen zu. „Warum gibst Du dem was, der versäuft das nur!“, schimpfte ein Passant im Vorübergehen und pulte sich dabei Bratwurstreste aus den Zähnen. Kinder mit Sandalen an nackten Füßen huschten vorbei, die Augen groß und dunkel auf den Stand mit Zuckerwatte geheftet, einer weinte. „Wir sehen uns dann beim Neujahrsanfang im KaDeWe!“, verabschiedete sich ein Mann aus einer Gruppe Menschen in schwarzen Mänteln und warf den Rest seines Lachsbrötchens neben einen Betonpoller. Auf dem Boden lagen Plastikbecher, Essensreste und Erbrochenes. Helene Fischer sang von irgendwoher einen Weihnachtssong, klebriger als ein Liebesapfel. Alles war bunt, laut und blinkte schrill. Eine Mutter gab ihrem Kind einen Kuss und hielt es fest im Arm. Ein Auto bremste mit quietschenden Reifen und hupte, Müller zuckte. Kaum hörbar schlugen Kirchenglocken, zwölfmal.


    Und dann bemerkte er die fest umklammerte, silberne Nuss in seiner Hand, die Maria ihm bei der ersten Begegnung überreicht hatte, die er all die Jahre immer bei sich trug, ohne zu wissen, warum. Anfangs wusste er nichts damit anzufangen, wann immer sie ihm in die Hände fiel, grübelte er über dieses unterbewusste Gefühl, das sie in ihm weckte, obwohl sie nicht aufging und ihren Inhalt nicht offenbarte. Es hatte sich richtig angefühlt, sie zu behalten, ein schmeichelnder Glücksbringer in seiner Hand.


    „Du hast mich einmal gefragt, wer ich bin“, sagte Maria. Sie klang traurig, aber entschlossen.

    „Ich bin eine von WIR. Und ich gehe nicht weg.“ Müller nahm sie in den Arm. Sie fühlte sich zart an und dennoch fest und robust. Die Nuss öffnete sich.


    Ich bin die Hoffnung. Und Du kannst mir helfen. Lass uns einfach weitermachen.


    Ich wünsche Euch schöne Weihnachten!



    *Diese Zeile stammt nicht von mir. Sie steht als Kommentar unter einem Post der Berliner Zeitung bei Facebook.

    ** Stammt von einer anderen „Demonstration“ und ist nicht strafbar.