Der 1. Dezember von Voltaire
Der Schluck aus der Flasche
Ein wenig nervös war Jasmin schon. Denn heute sollte sie die Eltern ihres zukünftigen Verlobten kennenlernen.
Heute am Heiligen Abend.
Für sie immer ein besonderer Tag – auch wenn er heute wohl ganz besonders sein würde.
Kritisch überprüfte sie ihr Outfit.
Es war okay – nicht aufdringlich, nicht zu konservativ; ganz einfach aufgeschlossen fraulich.
Jasmin nahm sich ein Taxi. Diese Großzügigkeit sich selbst gegenüber, gönnte sie sich heute einfach mal. Es war schließlich nicht jeder Tag ein Heiliger Abend mit angehefteter Verlobung.
Franks Eltern wohnten in einer großen Villa (etwas protzig fand Jasmin). Das Haus war weihnachtlich geschmückt (weniger wäre hier wohl mehr gewesen). Aber egal – sie wollte sich ja nicht mit den Eltern verloben.
Sie läutete.
Ein junge Frau – offenbar eine Hausangestellte – öffnete.
„Darf ich Ihren Mantel haben?“
Jasmin entledigte sich des Kleidungsstücks und war doch ein wenig eingeschüchtert. Wo war sie denn hier gelandet?
„Folgen Sie mir bitte.“
Jasmin wurde in ein großes Wohnzimmer geführt. Dort warteten bereits Frank und seine Eltern auf sie. Alles wirkte hier ein wenig steril und der Blick von Franks Vater war mehr als eisig.
Jasmin grüßte aber als Antwort kam von Franks Vater nur:
„Sie sind also die junge Dame die sich hier ins gemachte Nest setzen will.“ Jasmin erstarrte innerlich. Was sollte das denn bitteschön?
Aber in dieser Art ging es weiter.
„Sollte mein Sohn wirklich nicht mehr zur Besinnung kommen, dann werden wir einen knallharten Ehevertrag aufsetzen.“
„Ich habe einige Erkundigungen über Sie eingeholt. Ihre Eltern haben Ihnen hoffentlich nicht deren Gene mitgegeben. Ihr Vater ist im Gefängnis gestorben und Ihre Mutter scheint ja in einer staatlichen Pflegeeinrichtung untergebracht zu sein. Hat sie erst einen oder waren schon mehrere Suizidversuche.“
Frank machte keinerlei Anstalten ihr beizustehen. Auch seine Mutter schaut zu Boden; sie wusste wohl, dass ihre Meinung hier absolut nicht gefragt war.
Und Franks Vater machte munter weiter.
„Ihr Vater hat doch einen riesigen Geldbetrag unterschlagen.“
„Das hat man ihm die Schuhe geschoben.“ Jasmin wurde langsam wütend.
„Ja, das sagt man dann so. Eine typisches kriminelles Verhalten – erst zum Verbrecher werden und dann auf unschuldig machen.“
Jasmin schaute auf Frank. Und dieses Weichei sollte ihr Verlobter werden? Nein – und nochmals nein.
„Ich denke es ist jetzt besser wenn ich gehe. Ich wünsche Ihnen noch ein gesegnetes Weihnachtsfest. Ich finde allein raus!“
Jasmin verließ das Zimmer, riss ihren Mantel von der Garderobe und knallte die Haustür mit einem Schwung hinter sich zu.
Wo war sie da nur hineingeraten?
Glücklicherweise befand sich nur wenige Meter vom Eingangstor eine Bushaltestelle. Jasmin setzte sich im Wartehäuschen auf die Bank. Der Bus würde erst in 40 Minuten kommen.
In Gedanken ging sie diesen Abend noch einmal durch. Und langsam kamen ihr die Tränen. Sie merkte kaum, das sich jemand neben hockte.
„Guten Abend.“ Jasmin schaute die Gestalt an. Es war ein Mann, sah aus wie Penner, einer dieser bedauernswerten Obdachlosen. Jasmin wunderte sich. Der Mann wirkte sehr gepflegt auch wenn seine Kleidung schon mehrmals geflickt war, aber sie war sauer und verströmte auch keinen unangenehmen Geruch.
Der Mann hatte lange graue Haare und einen Bart, der Billy Gibbons und Dusty Hill zur Ehre gereicht hätte. In der Hand hielt er eine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Wahrscheinlich Korn, dachte Jasmin.
„Trink einen Schluck – der wird dir guttun.“
„Danke, aber ich mag keinen Korn.“ Jasmin bemühte sich freundlich zu bleiben. Sie wollte lieber mit sich und ihrem Kummer allein sein.
Sie hatte keine Lust auf eine Unterhaltung in einem Wartehäuschen und sie wollte auch keinen Alkohol.
„Das ist kein Korn. Das ist etwas ganz Besonderes, etwas, das es nur am Heiligen Abend gibt. Trink einen Schluck – du wirst es nicht bereuen.“ Er schaute sie sehr freundlich an und lächelte, ein Lächeln, das um Vertrauen warb und das einfach nur ehrlich und empathisch war.
„Okay.“ Jasmin nahm die Flasche und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck. Und das was jetzt passierte, das würde sie niemals vergessen.
„Bist du bereit für eine kleine Reise?“ Der bärtige Mann schaute sie fragend an.
„Ich bin zu allem bereit.“ Irgendwie hatte dieser Schluck aus der Flasche es geschafft ihre Stimmung aufzuhellen.
„Dann schließe deine Augen und vertrau mir einfach.“
Jasmin hatte ein Gefühl als würde sie schweben. Aber sie hielt die Augen geschlossen.
„Wir sind da. Du kannst deine Augen jetzt öffnen. Und das was gleich sehen wirst, wird nicht ganz einfach zu verdauen sein, aber du wirst es sicher richtig einordnen können.“
Sie öffnete die Augen und glaubte gleichzeitig ihnen nicht trauen zu dürfen.
Was sie sah war das Büro ihres Vaters. Er saß grübelnd an seinem Schreibtisch und schüttelte immer wieder seinen Kopf- Er wirkte ratlos.
Dann stand er auf und ging offenbar in das Zimmer seines Chefs.
Jasmin staunte nicht schlecht, als sie in diesem Chef den Vater von Frank erkannte. Sie hatte nicht gewusst, das ihr Vater für diesen Mann gearbeitet hatte.
„Dein Vater hat ihm von der Unterschlagung erzählt und ihm gesagt, er werde herausfinden, wer dafür verantwortlich sei. Darauf kam dieser Herr Brinckmann in Panik, der er selbst hatte die Unterschlagung vorgenommen. Geld an der Steuer vorbei. Und so kam es, dass er zusammen mit seinem Kompagnon alles so manipulierte, dass dein Vater der Schuldige war. Aber er war auch so dumm und hat die belastenden Unterlagen in seinem Tresor im Schlafzimmer verwahrt. Was du jetzt mit diesem Wissen machst, mein Kind – das überlasse ich dir.“
Jasmin schreckt hoch. Sie war tatsächlich in dem Wartehäuschen eingeschlafen. Welch ein Traum.
Doch dann fiel ihr Blick auf die Flasche, die ihr der bärtige Mann hingehalten hatte. Und sie besah sich das Etikett genauer.
Da stand:
„Liebe Jasmin – ein Schluck aus der Flasche der Erkenntnis ist nur am Heiligen Abend möglich. Ich wünsche dir ein gesegnetes Weihnachtsfest. Dein bärtiger ZZ Top Mensch.“
Es war also doch kein Traum gewesen.
Ja, was soll ich jetzt noch groß erzählen?
Jasmin verabredete sich mit einem jungen Staatsanwalt – der sie nicht, nachdem sie begonnen hatte zu erzählen, wie eine Irre ansah. Er schien sie vielmehr ernst zu nehmen.
„Glauben Sie mir?“ Sie schaute ihn unsicher an.
Nach einer Weile sagte er:
„Ja, ich glaube Ihnen. Denn ich hatte heute Nacht einen merkwürdigen Traum. Ein bärtiger Mann sagte zu mir, ich sollte mich auf eine ungewöhnliche Besucherin einstellen und ich sollte verdammt noch mal glauben, was sie mir erzählen würde und man müsse Dinge auch mal nicht als Jurist beurteilen. Und das mache ich gerade:“
Das Ende ist schnell erzählt.
Jasmins Vater wurde voll rehabilitiert, Franks Vater wurde mit den Beweisen konfrontiert und war voll geständig.
Ja, und der junge Staatsanwalt und Jasmin sind schon seit einiger Zeit ein Paar.
„Und das ist schließlich das Wichtigste!“ Der Mann mit dem grauen Bart lachte in sich hinein. Mal wieder ganze Arbeit geleistet.
Übrigens: Die Geschichte ist wahr, das schwöre ich bei meinen Pommes-Frites-Bäumen und bei meinen Pizza-Feldern.