Uwe Timm: "ROT"

  • Thomas Linde spricht auf Beerdigungen, im Gegensatz zur „Konkurrenz“ aber nie von Gott, sondern vom Leben der Verstorbenen. Linde ist ein Altlinker, eine echte „rote Socke“ mit einschlägiger Vergangenheit: Endlose Diskussionen in muffigen Kneipenkellern, Agitprop an der Uni, kommunistische Weinlese nebst promisker Freizeit im französischen Süden.
    Bei einem Begräbnis lernt er Iris kennen, im wahrsten Sinne des Wortes eine Lichtgestalt, über zwanzig Jahre jünger, verheiratet. Sie interessiert sich erstaunlicherweise sehr für den alternden Revolutionär, eine Affaire beginnt. Gleichzeitig bekommt der Grabredner einen neuen Auftrag: Sein lange vergessener Genosse Aschenberger ist gestorben und hat sich Linde für die Beisetzung gewünscht. Dieser taucht tief ein in die Welt seines ehemaligen Freundes, der seine Ideale bis zuletzt auch gelebt hat. Mit einer Ausnahme, der Verweigerung, aus politischen Motiven gewalttätig zu werden. Aschenberger plante, die Berliner Siegessäule zu sprengen, dieses anachronistische Zeichen militärischer Macht inmitten der Stadt. Und tatsächlich findet Linde zwischen dem Müll in Aschenbergers Souterrain-Wohnung ein Päckchen Sprengstoff ...


    Timm ist ein wortmächtiger Erzähler, dessen Sprache rasch vereinnahmt, die von brillierender Schönheit ist. Sie geht einher mit origineller Dramaturgie, die die eigentlich eher tröpfelnde Geschichte mit einer Art Druck ausstattet, der sich auf den Leser überträgt. Auch viele Wiederholungen und deklamierend vorgetragene linke Allgemeinplätze langweilen deshalb nie, während sich das schillernde Mosaik nach und nach zusammenfügt, um schließlich in der titelgebenden Farbe zu leuchten. Großartige Literatur.

  • Hallo zusammen, hallo Tom,


    Ja, Uwe Timm ist einer der wirklich lohnenden Zeitgenossen. Deine Rezension hat mir das wieder sehr klar vor Augen geführt. Ich habe "Rot" Anfang des Jahres gelesen und fand es auch ziemlich gut, wenn es auch nicht mein Lieblingsbuch von Timm ist. Ich kann mit zwei Dingen nicht so viel anfangen:
    Zum einen nerven mich leicht Handlungen, in denen es um diese typischen "älterer Mann/junge Frau"-Klamotten geht. Ich muss Timm allerdings zugute halten, dass ich beim Lesen von "Rot" niemals den Eindruck einer erotischen Altmännerphantasie hatte.
    Zum anderen kann ich wohl mit dieser Lebenswelt mittelalter Männer, Typ lonesome rider, ganz wenig anfangen. Männer um mdie 50, die als Einzelgänger um die Häuser ziehen, gerne Mal einen Whiskey trinken und einen verzweifelten Freund nicht in die Arme nehmen können. Diesem Typ Mensch bzw. Mann bin ich in Literatur und Film schon zu oft begegnet als dass mich seine Beschreibung noch irgendwie reizen könnte.


    Aber, wie gesagt, alles in allem kann ich dir zustimmen. "Rot" gehört auch für mich zu den lesenswerten Büchern.


    Herzlich, B.

  • Zitat

    Original von Bartlebooth
    Diesem Typ Mensch bzw. Mann bin ich in Literatur und Film schon zu oft begegnet als dass mich seine Beschreibung noch irgendwie reizen könnte.


    Ja, ich auch. Gerade deshalb mag ich Uwe Timm vielleicht auch so. Er beobachtet so genau und kann sich in die Menschen versetzen. Und dabei schreibt er so, wie ich es gerne können würde: federleicht und doch mit Tiefgang, mit Witz und Charme und nie langweilig.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • Meine erste Begegnung mit dem Autor Uwe Timm und bestimmt nicht meine letzte.


    Obwohl kaum Spannung aufgebaut wird und eigentlich auch keine typische Geschichte erzählt wird, habe ich dieses Buch mit Genuß gelesen.
    Es geht hier um das Älterwerden und der Frage nach dem Sinn des Lebens. Aber auch um politische Fragen. Wofür lohnt es sich zu kämpfen? Wohin bringt uns dieser Kampf? Warum vergessen wir mit der Zeit unsere Ideale? usw.


    Anfangs habe ich mich auch an diesem klischehaften Bild des älteren Liebhabers einer viel jüngeren Frau gestört. Aber ich glaube, dies war für den Roman wichtig, weil der Protagonist (über 50) in kleinen Geschichten und Anekdoten seiner jungen Geliebten von seiner Vergangenheit in den 68ern erzählt.
    Eine Zeit, in der sie ungefähr geboren wurde und von der sie so wenig weiß. Das hätte halt mit einer z. B. 40jährigen Geliebten nicht mehr so gut funktioniert ;-).