Jedes Jahr Weihnachten gehört für mich der Film „Der kleine Lord“ nach dem Roman von Frances Hodgons Burnett dazu. Traditionell bringt er mich richtig in Weihnachtsstimmung. Umso gespannter war ich, als ich letztes Jahr „Der große Lord“ im Buchladen sah, dass es so etwas wie eine Fortsetzung gibt. Schließlich bekam ich das Buch auch geschenkt und direkt um Weihnachten herum kam ich ans Lesen. Ich muss zugeben, dass meine Erwartungen dank des Vorgängers groß waren. Meine Hoffnung war, dass die Geschichte gut an den kleinen Lord anknüpft, selbst wenn schon mehrere Jahre zwischen dem kleinen und dem großen Lord vergangen sind. Zudem sollte es eine Geschichte sein, bei der mir warm ums Herz wird und mich auf die Weihnachtszeit einstimmt. Nun einmal ein schöner und guter Weihnachtsroman.
Auch der Klappentext ist auf dem ersten Blick vielversprechend:
„ Der junge Mann, der an Heiligabend in die Polizeiwache von Erleboro stürmt, hat eine unglaubliche Geschichte zu erzählen. Als Kind war er für kurze Zeit Cedric Fauntleroy, der Erbe des Earl von Dorincourt. Doch dann wurden er und seine Mutter Opfer einer teuflischen Intrige, die nun, 21 Jahre später, ihrem dramatischen Höhepunkt entgegensteuert… Die Reise des kleinen Lord Fauntleroy aus New York endete gar nicht mit der Weihnachtsfeier auf dem Schloss. Raymond A. Scofield verrät, wie es mit dem liebenswerten Knaben weiterging. Eine herzerwärmende Weihnachtsgeschichte von Freundschaft, Liebe und Güte – und einem selbstverliebtem Lama…“
Die herzerwärmende Weihnachtsgeschichte habe ich jedoch im Verlaufe der Geschichte gesucht und nicht gefunden. Der gesamte Handlungsablauf entpuppte sich in meinen Augen als hanebüchen, so dass mir teilweise sogar die Lust am Lesen verging. Doch woran lag das? Einen ersten Hinweis bekam ich schon am Anfang:
„Stattdessen flog die tür auf, und in einem Schwall von Kälte und Schneegriesel betrat ein junger Mann die polizeiliche Amtsstube. Er war für dieses Wetter völlig unpassend gekleidet. Er trug eine knallrote Jacke, großkarierte Schachbretthosen und einen runden Hut, aus dem eine Blume spross. Seine Schuhe waren viel zu groß. Unter seinem Arm klemmte ein wild zappelnder Pinguin. An einem Strick zog er ein rötlich braunes Zotteltier mit langem Hals hinter her. [ein Lama; Anmerkung der Autorin]“ (Scofield, Raymond A.: Der große Lord. Aufbau Verlag Berlin. 3. Auflage. S. 9)
Nach diesem Auftritt von Cedric habe ich mich zwar schon gefragt, wie kommt er zu diesem Aussehen und zu diesen Tieren. Aber gleichzeitig machte er mich auch skeptisch. Kann es dafür eine logische Erklärung geben, die nicht an den Haaren herbeigezogen ist? Mit dem Verlauf der Geschichte, erklärt es sich zwar, aber dennoch war die Logik zu gewollt, als dass es einen wirklichen Sinn gemacht hätte.
Cedric muss sich aufgrund der Intrige alleine auf der Straße durchschlagen und hätte darauf eigentlich keine Chance. Denn laut dem Erzähler besitzt er, als Hauptfigur, vor allem folgende Eigenschaften: Eine Gutgläubigkeit an das Gute im Menschen, so dass er nur noch naiv handelt und die Welt nicht als solche wahrnimmt. Und diese Eigenschaften werden wo immer möglich herausgekehrt. Damit wird die Hauptfigur zu einem Paradebeispiel eines klischeehaften Stereotypen, der sich nicht weiterentwickelt, sondern auf einer kindlich naiven Stufe stehenbleibt. Ehrlich gesagt gibt es die Ansätze davon auch im Vorgänger „Der kleine Lord“, aber sie werden nie dermaßen stark übertrieben und alle zwei, drei Seiten von Neuem nach außen gekehrt. Dazu möchte ich euch zwei Textpassagen liefern, um euch selbst urteilen zu lassen. Denn nicht nur Cedrics Handlungen sind von der Gutgläubigkeit geprägt, sondern auch seine Gedanken, die der Leser dank der personalen Erzählweise, die ab und an die Figuren wechselt, mitbekommt:
„ >Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.< Cedric verband die förmliche Begrüßung mit einer artigen Verbeugung, wie er es einst von seiner lieben Frau Mutter gelernt hatte >Ganz meinerseits!<, entgegnete der sommersprossige Halbstarke namens Freckle Pinpicker. Aber anstatt Cedrics ausgestreckte, rosige Knabenhand zu ergreifen und zu schütteln, schlug er dem Neuen die Faust mitten ins Gesicht und grölte, als der ehemalige kleine Edelmann mit rudernden Armbewegungen rücklings im winterlichen Dreck der Straße landete. […] Wie konnte man mit solchen Menschen friedlich zusammenleben? Ganz einfach, dachte Cedric, indem er das tat, was er nun mal am besten konnte: lieb und freundlich sein. […] >Donnerwetter!<, sagte er mit einem strahlenden Lächeln unter der blutigen Nase […]. >Da will ich mich doch gleich räuchern lassen! Sie haben ja einen ganz famosen rechten Haken, junger Mann. […]<“(Scofield, Raymond A.: Der große Lord. Aufbau Verlag Berlin. 3. Auflage. S. 48-50)
Aber auch Cedrics Gedanken laufen in diese „gute“ Richtung. Einige mögen dabei auch Schmunzeln und es lustig finden. In der Masse, in der es im Buch auftaucht, war es für mich eindeutig zu viel des Guten, um mich noch zu unterhalten. Zudem beruft sich Cedric immer wieder auf seine „liebe Mutter“ und zieht gar nichts in Frage. Da bleibt bei mir aber die Frage: Kommt der Junge nicht in die Pubertät oder ist er nur eine unmenschliche fremdgesteuerte Puppe ohne wirkliche eigene Gedanken? So reagiert zumindest kein authentisches Kind. Hier gibt es noch ein Beispiel zu seinen Gedanken zum „Cricketspiel“:
„Und wieder hastete Cedric den Straßenjungen hinterher, um sie bei ihrem Cricketspiel zu beobachten und zu lernen. Seine liebe Mutter hatte ihm ja auch immer wieder erklärt, wie wichtig es im Leben sein, so viel wie möglich zu lernen. Er bewunderte die Schnelligkeit der Jungen, ihr Geschick und auch ihren Mut. Die besseren Herren, denen sie Geld und Wertgegenstände aus den Taschen zogen, ahnten ja vielleicht nicht, dass ihnen der nette Mr. Tripe am Ende des Tages alles wiedergeben würde. Sie konnten schon ganz schön fuchtig werden.“ (Scofield, Raymond A.: Der große Lord. Aufbau Verlag Berlin. 3. Auflage. S. 58)
Die Eindimensionalität der Figurenzeichnung zeigt sich auch bei den weiteren Figuren. Die einzige Figur, die ich etwas sympathisch fand, ist der Wachmann, der Cedric zuhört, als er in seine Wachstube kommt. Er bildet sozusagen die Rahmengeschichte. Aber der Rest der Figuren macht die Geschichte dank ihrer Ausführung insgesamt zu einer schlechten Parodie, die die Ursprungsgeschichte nur noch am Rande und als Erklärung für die Eindimensionalität und Naivität von Cedric braucht. Im Laufe der Geschichte kommen noch Mietwohnungen dazu, in denen Cedric zum Großmaul wird, eine Tante, die ausgeraubt wird und sogar die Queen spielt mit. Ein bisschen Liebe und ein Zirkus spielen auch noch eine Rolle, bis man zu einem turbulenten Ende kommt, das mir eindeutig zu schießwütig und todesanfällig war, trotz einiger Überlebenschancen.
Fazit: In meinen Augen ist dieser Roman verschwendetes Geld, wenn man ein schönes Weihnachtsbuch erwartet. Da gibt es deutlich bessere Kandidaten. Meine Erwartungen hat es kein bisschen erfüllt und ich finde es schade, dass sich dieser Roman eine Fortsetzung des Weihnachtsklassikers „Der kleine Lord“ schimpfen kann. Die Figurengestaltung ist eindimensional, die Geschichte gespickt von Übertreibungen und unlogischen Verstrickungen, die in der Masse einfach zu viel sind. Ich habe keine Ahnung, ob es einige Leser gibt, die das Buch erheiternd finden. Aber ernst nehmen kann ich es nicht. Lasst lieber die Finger von dem Buch, wenn ihr eine herzerwärmende Weihnachtsgeschichte sucht.