Robert Menasse las am 11. Oktober 2017 in Frankfurt

  • Robert Menasse betrat gut gelaunt mit Lothar Schröder (Rheinische Post) die Bühne im bis auf den letzten Stehplatz gefüllten Ratskeller des Römers.


    Als erstes machte er – vermutlich von Tom inspiriert :grin – mit seinem Handy ein Foto vom Publikum. Er wisse nie, was er auf seinem Facebook-Account einstellen soll. Klar, nie irgendetwas Persönliches, dann sei doch das Foto einer qualifizierten Öffentlichkeit das Beste.


    Mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnet zu werden sei eine Überraschung gewesen. Beim Betreten des Saals habe ihn ein Unbekannter angesprochen, er müsse sich keine Sorgen machen, er werde den Preis nicht gewinnen. So sei er ganz entspannt in die Veranstaltung gegangen, im Glauben gerade mit einem der Juroren gesprochen zu haben. Er habe alle anderen nominierten Bücher gelesen und alle seien für den Preis qualifiziert. Fast habe er nicht mitbekommen, dass sein Name als der des Preisträgers genannt wurde.


    Der Moderator Lothar Schröder war auch einer der Juroren des Buchpreises und fragte Robert Menasse, mit welcher Erwartung er in die Preisverleihung gegangen sei. Nach einem kurzen Moment folgte die Erwiderung, das habe er ihm gerade gesagt – aber er möge das am Literaturbetrieb, nach der Antwort auch noch die Frage gestellt zu bekommen.


    Die Dramaturgie des Preises sei für Leser und Autoren sehr unterschiedlich und er müsse sich noch bei den Veranstaltern für die schönen Abende mit seinen Kollegen bedanken, an denen sie sich sehr friedlich in Hotelbars betrunken hätten.
    Lother Schröder ergänzte, dass es trotz entgegenlautender Aussagen keinerlei Einflussnahme oder sonstigen Druck seitens der Verlage oder Autoren gegeben. Alles sei sehr entspannt gewesen.


    Dann folgte eine kurze Lesung. Robert Menasse entschied sich für den Prolog. Das fände er sinnvoll, denn die Leser würden ja auch auf Seite Eins anfangen. ;-)


    Für Lothar Schröder ist „Die Hauptstadt“ das erste bedeutende Buch über die EU, das just in einer Zeit erscheine, in der wir alle europamüde seien.


    Menasse ging es genau darum, das Bedeutende unserer Zeit in diesem Roman einzufangen. Eines Abends bei einem Glas Rotwein, habe er das Gefühl gehabt, eine schleichende Revolution mitzuerleben. In einer Stadt würden die Rahmenbedingungen für unseren gesamten Kontinent geschaffen und Menschen mit viel Erfahrung würden schrittweise unser aller Leben verändern. Für ihn sei es ein Skandal gewesen, so wenig davon zu verstehen, obwohl er sich als aufgeweckter Mensch sehe. Also habe er zu seiner Frau gesagt, dass er morgen nach Brüssel fliege. Daraus seien dann zwei Wochen geworden, bis er mit dem festen Vorsatz dort ankam, sich alles anzuschauen, in den Institutionen möglichst viele Menschen kennenzulernen. Das sei erstaunlich einfach gewesen.


    Lother Schröder warf ein, dass Robert Menasse mit allen Klischees reingegangen sei und Menasse erwiderte, wer ohne Klischees sei, der werfe den ersten Stein. Sein Vorsatz sei gewesen, einen Roman über die Institutionen zu schreiben. Alles sei schließlich von Menschen gemacht und er konnte Figuren finden, die sowohl Exempel seien als auch zutiefst individuell.


    Als er merkte, dass er immer wieder ins essayistische Schreiben hineinkam, habe er zunächst einen Essay geschrieben. („Der Europäische Landbote“) Dann habe er die Grundlage für den Roman gehabt und ein Gefühl für die speziellen Ambivalenzen der Menschen in Brüssel.


    Bis dahin seien vier Jahre vergangen und er habe gespürt, wie die Stimmung immer schlechter wurde, zwischen griechischer Schuldenkrise und Brexit. Genau diese Stimmung wollte er einfangen, die der Menschen, die mit viel Wissen und Erfahrung an verschiedenen Projekten arbeiten, die dann immer wieder von den Ländern zurückgewiesen würden. So haben Mitte der 90er Jahre die Arbeit für eine europäische Flüchtlingspolitik begonnen. Weil jeder Vorschlag im Rat abgewiesen worden sei, hießen diese Papiere inzwischen in Brüssel „Märtyrerpapiere“. Als dann die Flüchtlinge an der europäischen Grenze standen, habe es außer den Menschenrechten keine gemeinsame Grundlage in der EU gegeben.


    Die Länder wollen sich nicht von der EU vorschreiben lassen, wie sie mit Flüchtlingen umgehen sollten. Die Politiker würden dann nach Hause fahren, dem Volk sagen „schaut, die EU funktioniert nicht“ und wollten die nationalen Grenzen wieder hochfahren. Genau diese Politiker würden sich dann wundern, warum nationalistische Populisten bei den Wahlen so viele Stimmen gewinnen. Hier folgte lauter Applaus.


    Unter anderem deshalb habe der Roman eine melancholische Grundstimmung. Auf rund 95% seiner Aufzeichnungen habe er am Schluss verzichtet. Im Weglassen sei er begabt, dafür bringe er all seine neurotische Energie auf – mit einem Augenzwinkern ergänzte er, dass sei für seine Faulheit.


    Seinem Gefühl wollen manche ein Europa der Regionen, nicht der Länder. Wir seien alle in Nationalstaaten aufgewachsen und hätten gelernt, diese mit Selbstbestimmung gleichzusetzen. Dabei sei das nicht richtig. In Katalonien seien fehlgeleitete Nationalisten am Werk, die nach einer Abspaltung nicht mehr in der EU wären.


    Die EU sei voller Widersprüche. Auf der anderen Seite habe z.B. Genscher mit Rückendeckung der EU zur Zerschlagung Jugoslawiens beigetragen. Dort habe dann der Nationalismus sein hässliches Gesicht gezeigt, bis hin zum Krieg.
    Auch Spanien sei nicht wirklich friedlich entstanden, sondern den Basken und Mauren sei gesagt worden, sie sollen sich jetzt als Spanier sehen. Dabei gebe die Region den Menschen Identität, die in der Regel kein Interesse an fremdem Grund und Boden hätten. Regionen sind für ihn zutiefst friedlich, wohingegen Nationen durch Kriege entstanden seien. Er könne nicht verstehen, warum Manche sich mehr für Nationalstaaten engagieren würden als z.B. die soziale Gerechtigkeit in der EU.


    Beim Unabhängigkeitsreferendum in Schottland hätten rund 15% gegen ihre Überzeugung für „Remain“ gestimmt, um in der EU zu bleiben. So hätten sie auf ein unabhängiges Schottland verzichtet, um dann vom Brexit Votum überrascht zu werden.


    Seiner Meinung nach solle die EU diese Regionen willkommen heißen.
    Warum er Auschwitz als Hauptstadt der EU vorschlage? Europa brauche ein Gesicht und eine echte offizielle Hauptstadt. Die Nationalstaaten würden nie zulassen, dass die Hauptstadt eines anderen Landes offiziell auch die Europas sei. Auschwitz könne die schreckliche Geschichte des Kontinents und dessen Zukunft vereinen.


    Es folgte eine weitere Lesung. Ein Abschnitt mit dem Thema „Das beste Spital heißt Europa“, den er mit viel schwarzem Humor vortrug. Die Hauptrolle spielte die Milz, die alles vernetze und bei der betroffenen Figur ihrer Funktion nicht mehr nachkommen könne.


    Am Ende des Abschnitts sprang Robert Menasse auf zu seiner Raucherpause, bevor er sich beim Signieren viel Zeit für seine Leser nahm.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Von dem Buch hatte ich bisher noch nichts gehört, aber nach Deinem Lesungsbericht muss das gleich mal auf die Wunschliste wandern, klingt als wäre das was außergewöhnliches das genau in die Zeit passt. Danke dafür. :wave

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Ich habe von Menasse bisher "Don Juan de la Mancha" und "Schubumkehr" gelesen, hatte aber bei beiden Büchern nur wenig Spaß. Menasse schreibt sehr essayistisch, kopflastig und emotionslos. Ich finde die Bücher seiner Halbschwester Eva deutlich besser.

  • Zitat

    Original von Tom
    Ich habe von Menasse bisher "Don Juan de la Mancha" und "Schubumkehr" gelesen, hatte aber bei beiden Büchern nur wenig Spaß. Menasse schreibt sehr essayistisch, kopflastig und emotionslos. Ich finde die Bücher seiner Halbschwester Eva deutlich besser.


    Hast du zufällig von ihr "Tiere für Fortgeschrittene" schon gelesen? Das steht nämlich auf meinem Wunschzettel und mich würde deine Meinung interessieren.
    Ich habe von beiden bisher noch nichts gelesen. Bei "Die Hauptstadt" reizt mich die Thematik.

  • Eine befreundete Buchhändlerin sagte, dass "Die Hauptstadt" den männlichen Kunden in der Regel gut gefiel, die Leserinnen es oft trocken und/oder langatmig fanden.


    Habe inzwischen das Hörbuch gekauft, mal schauen...

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

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