Tyll - Daniel Kehlmann

  • Der Roman beginnt mit jener berühmten Szene, in welcher Till Eulenspiegel – auf dem Seil tanzend – die jubelnde und ihm aufgrund seiner Kunststücke und sonstigen Darbietungen vollkommen verfallene Menge zum Hochwerfen des linken, und danach des rechten Schuhs auffordert und im darauffolgenden Handgemenge im Streit um die Schuhe unbemerkt zu verschwinden.
    Im weiteren Verlauf des Romans erfahren wir einiges aus seiner Kindheit und Jugend, und wie es ihn als Gaukler auf die durch den 30 Jährigen Krieg unsicheren Straßen verschlagen hat. Dabei wird der Roman nicht chronologisch erzählt, sondern in verschiedene, nur durch die Rahmenhandlung – dem Krieg – zusammengehaltene Episoden erzählt, in welchen die Titelfigur allerdings oft nur als Nebenfigur auftritt.


    Nu, zuerst das Positive: Wie nicht anders zu erwarten bekommen wir einen meisterhaft erzählten historischen Roman über den 30 Jährigen Krieg. Und da dieser aus der Feder Daniel Kehlmanns stammt hat wohl niemand ernsthaft geringeres erwartet. Vor unseren staunenden Augen wird hier eine fremde Welt, eine vergangene Welt wieder zum Leben erweckt, und bei der Macht der Worte, über welche der Autor gebietet, erwartet uns ein kaum jemals gekanntes Lesevergnügen! Es ist eine von Religiosität und Aberglaube beherrschte Welt, die um so bizarrer anmutet wen beides aufeinander trifft und sich an den Rändern sogar vermengt. Die geradezu absurde Logik von Geistlichen und Wissenschaftlern, deren Zeuge wir hier werden lässt und immer wieder in Grausen und Unglaube erschauern, und doch scheint es in all seinem Widersinn real zu sein, was Kehlmann uns hier anhören lässt. Doch diesem Widersinn tritt hier nicht die Titelfigur entgegen, wir Leser sind es welche diese Torheiten als solche entlarven. Der Tyll ist dazu garnicht erforderlich.
    Aber gerade da dieser Roman von Kehlmann stammt habe ich tatsächlich – und das ist vor Allem der Wahl der Titelfigur geschuldet – wesentlich mehr erwartet.


    Denn wie bei der Winnetou-Trilogie taucht auch hier – ich erwähnte es bereits – die Titelfigur kaum auf, und wenn er denn mal erscheint, bleibt er zumindest für meinen Geschmack zu blass, er nimmt zu wenig die Rolle ein,die man (ich?) erwartet hat.
    Dafür rückt der Roman vor allem Friedrich V, den sogenannten „Winterkönig und seine Frau Elisabeth Stuart in den Mittelpunkt. Diese Episoden sind zwar mit beispielloser Kunstfertigkeit erzählt, jedoch fehlt dem Ganzen die Spannung, die Überraschung, das Unerwartete.
    Wir wissen bereits um das Ergebnis des Treffens zwischen Friedrich und Gustav Adolf, so das die Schilderung im Roman zwar einerseits schön zu lesen ist, andererseits aber nur altbekanntes schön verpackt.


    Tyll, welcher der Legende nach zwischen 1300 – 3050 gewirkt haben soll gehört seinen (angenommenen!) Lebensdaten nach natürlich nicht in diese Zeit. Um so Reizvoller erscheint der Gedanke was ein Autor vom Range Kehlmanns mit dieser Figur in diesem vom Autor gewählten Umfeld anfangen kann. Wir (Ich?) werden es nie erfahren! Was mich angeht verschenkt Daniel Kehlmann hier das ungeheure Potential seiner eigenen Kreation, da er seinen Tyll niemals wirklich von der Leine lässt, das subversive Element nie wirklich ausschöpft.
    Er degradiert seinen Narren zur Stimme der Vernunft in einer Zeit des Chaos, doch diese Rolle könnte auch jede andere vernünftige Figur spielen, ich bin mir sicher diese müsste nicht einmal fiktiv sein – wenn man genau genug sucht dürfte man mit Sicherheit in dieser Zeit jemanden historisch verbürgten finden, dem man diese Rolle auf den Leib schneidern könnte.


    Die Frage wie genau ein historischer Hintergrund recherchiert und wiedergegeben werden muß wurde nicht nur hier bereits ergebnisoffen diskutiert. Ich denke in einem als Roman gekennzeichneten Werk darf – und muß zuweilen – der Autor die Geschichte zu seinem Zweck, nämlich dem Erzählen seiner Geschichte umformen dürfen.(Und dieses Buch wird vom Verlag als Roman – nicht als Historischer Roman - klassifiziert) Er muß mit Ideen und Gedanken spielen, er muß seine eigene Wirklichkeit schaffen um sich als Künstler ausdrücken zu können.


    Kehlmann tut dieses durchaus, allerdings nicht genug.


    Ich denke mal viele von uns kennen wie ich die Nacherzählung der Eulenspiegel-Geschichten durch Erich Kästner, die neben anderen Jugendbüchern dieses Autors zu meinem Kinder- und Jugendbuch-Kanon gehören. Die Geschichten um den schlitzohrigen Schelmen sind längst in unser kulturelles Bewusstsein eingesunken, kaum jemand dem bei der Nennung des Namens nicht irgendeine Geschichte einfällt.
    Ich bin durchaus der Absicht das ein Ruf durchaus verpflichtet, und dieser Verpflichtung wird hier nicht nachgekommen.


    Oder war es gar die Intention des Autors genau das zu tun? Die Erwartungen in genau diesem Punkt zu unterlaufen, und – im Gegensatz zu seiner in weiten Teilen korrekten Wiedergabe der Geschichtlichen Ereignisse – die Freiheit des Autoren einfordernd seine Figur eben nicht den Erwartungen des Lesers unterwirft und sich somit selber zu des Lesers Eulenspiegel macht?


    Liegt diese doch eher verhaltene Beurteilung des Romans doch eher an meinem Unvermögen, die Erwartungen hintenan zustellen und mich unvoreingenommen auf das von Kehlmann vorgesehen Lesevergnügen einzulassen? Aber ist das andererseits nicht eine vorhersehbare Gefahr seitens des Autors?


    Wie dem auch sei, das Feuilleton ist des Lobes voll und überschlägt sich geradezu vor Begeisterung – vielleicht sind die alle doch schlauer als ich....


    und ich bin am Ende der Narr.....

  • Geniales Narrenstück

    Tyll (Till Eulenspiegel) drei Jahrhunderte später im Dreißigjährigen Krieg aufwachsen zu lassen, ist ein gewagtes Possenspiel. Doch dieser Tyll, der einiges mit dem Ur-Till gemeinsam hat, ist eigentlich nur ein Bindeglied zwischen dem Adel und den Bauern, denn nur das fahrende Volk reiste durch das Land und kam mit Fürsten, Grafen und Königen in Kontakt. Nur mit diesem Zaubertrick konnte Kehlmann eine Geschichte über alle Stände überzeugend erzählen.


    Da haben sich zwei gesucht und gefunden: Der Gaukler Kehlmann und der Narr Eulenspiegel erzählten sich gewiss viele Gaunergeschichten, sofern man Kehlmann über 300 Jahre zurück in seine konstruierte Vergangenheit schicken könnte.


    Das Buch ist kein Roman über einen Narren, sondern eine Episodensammlung über die Zeit des langen deutschen Krieges. Und genau darin liegt Kehlmanns Stärke: Er erzählt Romane in vielen Geschichten und das macht er großartig.


    Zuerst hat er einen grandiosen Rahmen gesetzt: Die kleine Eiszeit und den großen Krieg. Darin liegt das Heilige römische Reich deutscher Nation am Boden, die Wälder sind gerodet, die Dörfer und Felder verwüstet. Nicht nur den Dreck und die Tristesse kann der Leser sehen, er fühlt sogar die Bestialität des Krieges und riecht den Gestank des Todes.


    In diesen Rahmen verwebt er nun Episoden: Die tragische Geschichte des Winterkönigs und seiner Frau Liz, die vielen Irrtümer des Universalgelehrten Athanasius Kircher, den Kehlmann als Scharlatan zeichnet, ganz im Sinne Descartes. Und das gelingt ihm gut, denn leider machte anno dazumal der Aberglaube selbst vor Gebildeten nicht halt.


    Kehlmann hält sich mal ans historisch Verbürgte, mal nicht. Ob Kircher mit dem fanatischen Jesuiten Tesimond zusammengetroffen war, wäre zwar möglich, scheint aber nicht sehr wahrscheinlich gewesen zu sein. Zwar ist der Winterkönig an der Pest gestorben, aber nicht nach seinem einzigen? Treffen mit dem Schwedenkönig während seiner Heimreise. Und Athanasius Kircher war kein halbwahnsinniger Schwindler, vielmehr war er ein Reisender zwischen Genie und Wahnsinn, der auch geniale Momente hatte, z. B. bei seinen Recherchen über die Pest und die Hieroglyphen.


    Selten hat mich ein Autor so überzeugend in die Vergangenheit geschickt. Auch wenn ich das Buch erst Anfang 2018 gelesen habe, zählt es für mich zu den besten des letzten Jahres.

  • “Tyll” ist ein groß angelegtes Verwirrspiel und ein schalkhaftes Scheingefecht, welches Daniel Kehlmann dem Leser auftischt. Man kann sich darauf einlassen oder das Buch unbefriedigt zur Seite legen entweder abbrechend oder vielleicht, nachdem man sich bis zum Ende durchgekämpft hat, ohne den “Aha”-Effekt, die Pointe oder so etwas wie eine Auflösung erlebt zu haben. “Sich darauf einlassen” bedeutet, die Achterbahnfahrt der Ideen einfach mitzumachen, Gedankensprünge zu bewältigen, Stilwechsel zu akzeptieren, bereit zu sein, die Story aus chronologisch ungeordneten und perspektivisch verzerrten Fragmenten zusammenzupuzzeln und zu guter Letzt auch, sich ein Stück weit veralbern zu lassen.



    Ich bin in dieses Abenteuer gegangen, ohne mich zuvor durch Bewertungen oder Empfehlungen zu dem Buch fehlleiten zu lassen. Die Referenz war einfach der Name des Autors und die Erinnerung an die großartige “Vermessung der Welt”. Dazu jede Menge Zeit und Ruhe über die Feiertage, denn - soviel war mir klar - einen Kehlmann muss man langsam lesen, manche Abschnitte vielleicht doppelt, innehalten, nachdenken, verarbeiten. Natürlich hoffte ich insgeheim auch auf eine klare Aussage oder ein furioses Finale eine eindeutige Antwort auf die Frage, was eigentlich ein mittelalterlicher Till Eulenspiegel mit dem Winterkönig und dem Dreißigjährigen Krieg zu tun haben könnte. Die Bedeutung dieser Verfremdung bleibt für mich letztlich unklar. Doch ich denke, es ging da weniger darum, einer vergangenen Zeit den Narrenspiegel vorzuhalten, als den Leser aufzufordern, diese Reflektion selbst vorzunehmen. Und das nicht nur bezogen auf historische Themen sondern vor allem auf die eigene Sicht auf das Verhältnis von Schein und Sein, die Relativität der Wahrheit, die nur noch verschwommen wahrgenommene Grenze zwischen Fake und Fakt. Und in dieser Hinsicht ist “Tyll” hochaktuell.



    Wenn man sich darauf einlassen kann, ist Kehlmanns neuer Roman ein seltenes literarisches Erlebnis, welches zwar mehr Fragen aufwirft, als beantwortet aber es sind spannende Fragen, die zum Nachdenken, Nachforschen und zur Selbstreflektion anregen. Stilistisch wagt der Autor einmal mehr ein Experiment. Während das Auftaktkapitel nach Art eines Prologs den Leser mit der ungewöhnlichen Wir-Perspektive emotional mitnimmt, wird man anschließend auf eine falsche Fährte geführt, die suggeriert, dass hier die Story von Tylls Leben erzählt werden soll, nur um später in den ironischen “Vermessung der Welt”-Stil zu wechseln, nicht ohne immer wieder in philosophische, naturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Themen abzuschweifen. Zwischen diesen Erzählweisen pendelt die Schilderung immer wieder hin und her. Dabei erlebt man das Geschehen aus der Sicht verschiedener Protagonisten, wobei Tyll als Protagonist erst kurz vor dem Ende vorübergehend wieder greifbar wird. Ansonsten begleiten wir die Gedanken von historischen Zeitzeugen: Friedrich von der Pfalz - dem tragischen Winterkönig, oder sollte man Fake-König sagen? - seiner Gattin Elisabeth Stuart, dem Gelehrten Jesuiten Athanasius Kircher, der dem eigenen Vernehmen nach die naturwissenschaftliche Forschung zu einem finalen Abschluss gebracht haben wollte - aber letztlich wohl nichts als Lügen produziert hat (es ist interessant, dieses Fazit hinterher noch einmal retrospektiv zu beleuchten ), sowie dem “dicken Grafen” Martin von Wolkenstein, der wohl ausnahmsweise eine echte Phantasiefigur ist. Darüber hinaus streifen weitere illustre geschichtsträchtige Persönlichkeiten den Handlungsgang: Da wären Paul Fleming - der selbsternannte Erfinder der deutschen Literatur, Adam Olearius, Schwedenkönig Gustav Adolf und viele andere.


    Als ich das Buch zuklappte, war ich zufrieden und unzufrieden zugleich. Einerseits war Tylls Lebensgeschichte als kleines Puzzle durchaus rekonstruierbar, die Rolle dieser Figur bleibt aber vage. Und je mehr man über sie nachdenkt, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass sie von Kehlmann absichtlich als unerklärbares Phänomen eingebaut wurde. Zu welchem Zweck? Das herauszufinden, ist die Leistung, die der Autor dem Leser abverlangt. Jeder mag darauf seine eigene Theorie entwickeln. Aber genau das ist wohl beabsichtigt. “Tyll” ist kein Buch zum weglesen. Es ist eine Einladung zum Nachdenken, zum Recherchieren, zum Neubewerten, zum Infragestellen. 10 glasklare Punkte als Dank für diese Einladung von mir.



    Edit: Name des Schwedenkönigs.

  • beisswenger die historische Korrektheit war nicht Kehlmanns Anliegen. Deshalb tue ich mich auch schwer den Roman im Bereich "Hstorische Romane" einzuordnen (aber wohin sonst?). Noch ein paar "Unkorrektheiten" gefällig?


    - Die Begegnung von Friedrich von der Pfalz und Gustav Adolf war nicht wirklich so ein einmaliges Abservieren. Vielmehr wurde der Winterkönig lange vorher mit großem Trara willkommen geheißen und hat den Schwedenkönig auf Feldzügen begleitet. Das Ende der Episode mag ähnlich armselig gewesen sein wie im Roman.


    - Das Exil des Winterkönigs in den Niederlanden war wohl lange nicht so armselig wie dargestellt sondern eher standesgemäß (auch wenn der Stand eingebildeter Natur war)


    - Ich denke nicht, dass Elisabeth Stuart bei den Friedensverhandlungen erschienen ist.


    - Ein Drache hat nie gelebt, nicht einmal in Holstein ;-)


    Für mich ist das was uns Kehlmann über Kircher erzählt, eine der lehrreichsten Episoden in diesem Buch gewesen. Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts ist das Wesen der naturwissenschaftlichen Forschung und des Erkenntnisgewinns mit Experiment, Nachvollziehbarkeit und Beweisbarkeit gepaart (Es sei denn man ist Verschwörungstheoretiker oder Homöopath). Das war früher anders. Selbst helle Köpfe wie Newton und da Vinci verbreiteten aus heutiger Sichtweise neben ihren noch heute anerkannten Lehren auch sehr viel esoterisches Gedankengut. Ein Experiment war nur dazu da, einen zuvor gefassten Gedanken zu beweisen. Im Zweifellsfall mussten halt die Rahmenbedingungen für das Experiment entsprechend modifiziert werden. Und darin war Kircher wohl Meister seines Faches. Aber ihn deshalb als Scharlatan abzustempeln wird ihm auch nicht gerecht. Schließlich führen zahlreiche bahnbrechende Forschungen auf seine Ideen zurück. Aber ich denke genau diese Ambivalenz wollte uns Kehlmann vorführen und das ist ihm großartig gelungen.


    Vielleicht stehen wir heutzutage erneut vor einer kulturellen Neudefinition des Begriffs Erkenntnis.

  • Descartes nannte Kircher einen Scharlatan, was aus seiner Sicht durchaus verständlich war, da er alles, was Wissen schaft, neu interpretiert hat.


    Kirchers Zeitgenossen z. B. Galilei und Descartes verfügten nicht über dessen Fantasie und Intuition, doch sie führten das Experiment und die Methode als Werkzeuge zur Erkenntnisgewinnung ein. Damit begründeten sie die moderne Wissenschaft.


    Dennoch gleicht die "reine Wissenschaft" ohne Intuition und Fantasie einem Fass ohne Boden. Viel Zeit und Ideen gehen verloren und manchmal muss man auch einfach nur schlafen, um zur Erkenntnis zu gelangen: Im Schlaf hatte Friedrich August Kekulé die Strukturformel von Benzol gefunden, sofern man der Überlieferung glauben mag.

  • Die weiße Leinwand


    viersterne.gif


    Die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, das Gebiet des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation: Das durch Martin Luther ein knappes Jahrhundert zuvor geadelte Hochdeutsch etabliert sich allmählich als literarische Sprache, während die Eiferer im Auftrag ihrer Religion(en) durch die Lande reisen und Hexer auszumachen versuchen, die sie ganz selbstverständlich mit brutaler Folter zum Geständnis zwingen, denn nur unter Schmerzen sagt der Mensch schließlich die Wahrheit. So ereilt es den Müller, der in seiner wenigen freien Zeit zu viel über die Sterne oder die Größe von Haufen nachgedacht hat, oder die Frage, ab wann ein Haufen eben einer ist oder keiner mehr, und deshalb steht Tyll plötzlich ohne Vater da, denn der etwas wirrköpfige, aber freundliche und heilbegabte Müller wird gehenkt.



    Der junge, schlaksige Tyll flieht und schließt sich einem dubiosen Gaukler an. Er lernt das Jonglieren und das Balancieren, außerdem das Leben als Freier ohne Respekt und Schutz. Und er wird zur Legende. Tyll Ulenspiegel, der allerdings keine verbürgte Gestalt der Geschichte war, und von dem erstmals im fünfzehnten Jahrhundert Berichte und Erzählungen auftauchten. Daniel Kehlmann verpflanzt ihn kurzerhand ins siebzehnte Jahrhundert, wo er als Katalysator dient, als Beobachter und Stichwortgeber in diesem episodenhaften Roman, der sprachlich ein absolutes Fest ist und großes Vergnügen beim Lesen bereitet. Kehlmann lässt die Zeit zwischen 1618 und 1648 in großer Anschaulichkeit aufleben, er zeichnet unglaublich starke Bilder und findet die richtigen Worte, um Gerüche und Rituale, um die Brutalität und Aussichtslosigkeit, um den Wahnsinn und das Miteinander zu vermitteln. Man hungert mit seinen Figuren und friert mit ihnen, man folgt atemlos den berauschenden Dialogen, und man ist heilfroh, im warmen Sessel zu sitzen, vierhundert Jahre später, weit entfernt von all dem Wahnsinn, dem Geschacher, dem mitleidlosen Umgang mit Menschenleben, der kurzen Lebenserwartung, dem Aberglauben, dem Söldnertum und der makaber-pragmatischen Familienplanung über die extrem hohe Kindersterblichkeit.



    Aber.



    In einer Episode wohnt Tyll bei August Friedrich V. von der Pfalz, der zu dieser Zeit als Friedrich I. glücklos König von Böhmen zu sein versucht, und Tyll schenkt dem Winterkönig - Friedrich regierte nur ein Jahr lang und wurde von allen Seiten verspottet - eine gerahmte, weiße Leinwand, auf der, wie der Schalk erklärt, nur für kluge Geister ein prächtiges Gemälde zu sehen ist, was nicht wenige Gäste in schwierige Situationen bringt, aber auch Schlossbewohner bis hoch zum König irritiert. Diese Variante des Märchens von des Kaisers neuen Kleidern ist zwar amüsant, fühlt sich aber vor allem und zugleich wie eine Metapher auf bzw. für die gesamte Erzählung an. Kehlmann ist ein prächtiges, bravourös erzähltes Sittengemälde gelungen, aber abseits davon bleibt die Geschichte gleichsam unverankert, fühlt sich wie ein Rätsel an, das eigentlich nicht zu lösen ist, aber den Eindruck erweckt, das doch zu sein. Anders und einfacher gesagt: Man kommt sich - auf äußerst hohem Niveau - insgesamt ein wenig veralbert vor. Das allerdings ist ein Gefühl, das zumindest bei mir immer leicht anklingt, wenn ich ein Kehlmann-Buch lese (genau genommen sogar schon beim Kauf). Der Mann hat ohne Frage mehr auf dem Kasten als so manch ein anderer hierzulande und andernorts (Kehlmann ist Österreicher), aber es ist auch kein Zufall, dass er jetzt über Eulenspiegel schreibt: Nach meinem Dafürhalten ist er nämlich selbst einer - ein großer, zweifelsohne, und ein guter, aber er ist einer.


    Übrigens. Hat jemand meinen zweiten Schuh gesehen?