Nils Minkmar: Das geheime Frankreich. Geschichten aus einem freien Land
Verlag: S. FISCHER 2017. 208 Seiten
ISBN-10: 3103972954
ISBN-13: 978-3103972955. 22€
Verlagstext
Wer sich einen umfassenden Eindruck vom Zustand und von den Möglichkeiten der französischen Gesellschaft verschaffen möchte, muss sich auf Um- und Abwege begeben. Nils Minkmar, einer der kundigsten Kenner des Landes, nimmt uns mit auf eine Reise in dieses geheime Frankreich. Mit dem Blick und Handwerkszeug eines Anthropologen erkundet er den im Privaten oftmals anarchischen Lebensstil der Franzosen, ihren skeptischen Blick auf die Welt – beides eine kaum zu berechnende Quelle der Kreativität, von der wir Deutschen einiges lernen können. Er begegnet zentralen kulturellen und politischen Akteuren wie Bernard Henry Lévy, Michel Houellebecq und Patrick Modiano, der Philosophin Cynthia Fleury und der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Und er folgt einer Liste mit gastronomischen Geheimtipps, um sich mit ihrer Hilfe zu den Hoffnungen und auch den Problemen des gegenwärtigen Frankreichs führen zu lassen.
Der Autor
Nils Minkmar, 1966 in Saarbrücken geboren, besitzt einen deutschen und einen französischen Pass. 1996 promovierte er in Neuer Geschichte und wurde Redakteur der ZDF-Sendung »Willemsens Woche« in Hamburg. Es folgte eine Phase als freier Journalist und Redakteur der »Zeit«; seit Juli 2001 Redakteur im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, seit 2012 Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Nils Minkmar wurde 2012 als Kulturjournalist des Jahres ausgezeichnet. Seit Mai 2015 schreibt er für den »Spiegel«.
Inhalt
Nils Minkmars Großeltern lebten und arbeiteten als Lehrer in Bordeaux und prägten seine Kindheit. Im Museum der Stadt begegnete ihm schon als Kind Frankreichs Geschichte, aber auch die Erkenntnis, dass nur ausgesuchte Artefakte der Öffentlichkeit präsentiert werden, andere dagegen verborgen bleiben. Kultivierte Diskretion nennt Minkmar diese Eigenschaft unseres Nachbarlandes, die er auf dessen katholische Prägung zurückführt. Im zur Hälfte protestantisch geprägten Deutschland herrsche dagegen eine Direktheit, die im Nachbarland als Zeichen von mangelnder Kinderstube gelte. Im Gegensatz zur kultivierten Art der Andeutung drängt das Magazin Charlie Hebdo krass konfrontativ in eine Lücke, die jenseits des Rheins offenbar in der Auseinandersetzung auf politischer Ebene klafft. Von der fehlenden Aufarbeitung der Kollaboration mit dem Nationalsozialismus, über Frankreichs Vergangenheit als Kolonialmacht bis zum Ignorieren, mit welchen politischen Systemen das Land in Nordafrika Kontakte pflege, reicht Minkmars Negativliste des Verdrängens.
Einen markanten Teil in Minkmars Frankreichkunde nehmen die regionalen Spezialitäten, das Kochen und Essen ein, aber auch der wirtschaftliche Niedergang, in dessen Folge viele Franzosen sich die ehemals paradiesische Fülle nicht mehr leisten können. Mit Cynthia Fleury, die einen weltweit beachteten Lehrstuhl für Philosophie mitten im Pariser Hôtel-Dieu innehat, öffnet der Autor den Blick auf denkbare Reformen, die wir Deutschen sorgfältig betrachten sollten. Nach Fleury zeichnete sich lange vor Sarkozys Abgang ein Ende der Herrschaft alter weißer Männer ab; sie fordert deshalb die längst überfällige bürgerschaftliche und konzeptionelle Erneuerung in der Politik jenseits von politischen Parteien.
Französische Mütter wurden bisher gern als Vorbild in der Vereinbarung von Beruf und Mutterschaft vorgezeigt; doch Minkmar sieht die Dinge nüchterner. In der öffentlichen Sichtbarkeit von Frauen und beim Gehaltsniveau bei gleicher Bildung wäre noch viel zu tun. Frauen wären zwar willkommen in gemischten Gruppen, kämen jedoch zu selten zu Wort. Noch herrsche in Frankreich habituelle Homogenität, man wählt Vertreter in die Parlamente, die einem selbst ähneln und zementiert damit bestehende Verhältnisse. Wenn es um mächtige Männer in ihrer Rolle als Schürzenjäger geht und um die Kultur der Verharmlosung sexistischer Übergriffe, nimmt Minkmar kein Blatt vor den Mund. Mit Bernard-Henri Lévy (*1948) und Patrick Modiano (*1945) führt Minkmar zwei charakteristische Stimmen Frankreichs an.
Fazit
Nils Minkmar ergründet in seiner Charakterkunde Frankreichs, wie das Land seine Geschichte aufarbeitet, welche nationalen Eigenschaften die Reaktion auf die aktuelle Bedrohung durch internationalen Terrorismus bestimmen und welchen Einfluss Frauen auf eine generelle Erneuerung des Politikstils haben könnten. Eloquente Frankreich-Experten wie Minkmar hört man in Deutschland eher selten - auch hier wäre eine Erneuerung wünschenswert.
9 von 10 Punkten