Odile Kennel: Mit Blick auf See
Verlag: dtv 2017. 272 Seiten
ISBN-10: 3423281138. 20€
ISBN-13: 978-3423281133
Verlagstext
»Ich hätte nicht öffnen sollen. Hätte tun sollen, als sei ich nicht zuhause.«Es klingelt, doch sie kennt hier niemanden. Vor der Tür steht ein fremder junger Mann, er nennt sich Alexander Vogler und behauptet, Béatrice sei mit seiner Mutter Helga befreundet gewesen. Béatrice ist gerade beim Auspacken, sie ist umgezogen, von der Stadt in eine alte Mühle an einem See. Was weiß dieser Mann von ihrem Leben? Er aber möchte wissen, warum seine Mutter Anfang 1977 für drei Jahre spurlos verschwand. Béatrice kann sich an nichts erinnern, beginnt aber bald zu zweifeln: Ist Helga vielleicht Hah, in die sie uneingestanden verliebt war? Musste Hah als Sympathisantin in jenen hochpolitisierten Jahren untertauchen? - Das Porträt einer Frau, in deren Leben die Geschichte der Bundesrepublik aufscheint, ein Roman über die Unsicherheit der Erinnerung, über die Rückkehr in die Provinz. Ein Buch, das die Frage aufwirft, wie wir uns der eigenen Geschichte stellen.
Die Autorin
Odile Kennel wurde 1967 in Bühl /Baden geboren und wuchs zweisprachig auf (deutsch-französisch). Sie studierte Kultur- und Politikwissenschaften in Tübingen, Berlin und Lissabon sowie Kulturmanagement in Bukarest und Dijon. Seit 1999 lebt sie in Berlin. Von 1996 bis 2004 arbeitete sie in der Kulturvermittlung. Odile Kennel übersetzt Lyrik aus dem Französischen, Portugiesischen und Spanischen. 2000 veröffentlichte sie die Erzählung „Wimpernflug“ und 2011 ihren ersten Roman „Was Ida sagt“. 2013 folgte ihr erster eigener Gedichtband, „oder wie heißt diese interplanetare luft“. Sie wurde bereits mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Würth-Literaturpreis. 2016 wurde Odile Kennel von der Autorinnenvereinigung zur Autorin des Jahres gewählt.
Inhalt
Béatrice hat sich von der Frau getrennt, die sie liebte, und auf dem Land ein ehemaliges Mühlengebäude an einem See gekauft. Béas Verhältnis zu ihrer erwachsenen Tochter wird durch ihren Umzug aus Berlin aufs Land belastet; denn sie nimmt Nelly damit auch die vertraute Position eines Kindes. Nelly wird aus dem Nest geschubst und von nun an Gast im Haushalt der Mutter sein, nicht mehr Kind. Béas Gedanken sind in die Zukunft gerichtet. Einiges will sie auf dem Grundstück ändern; sie sieht sich bereits im See schwimmen und im Winter auf ihm eislaufen. Doch für ihr Alter von noch nicht 50 Jahren hat Bea erstaunliche Probleme mit ihren Erinnerungen. Wie Luftblasen im Wasser tauchen französische Begriffe auf, die klingen, als stammten sie aus dem Vokabular ihrer Großeltern. Die Begegnung mit einem jungen Mann namens Alexander Vogler stellt Beas Erinnerungen an Ereignisse in Deutschland vor 30 Jahren zunehmend infrage. Alexander behauptet, Béa müsste die Mühle von früher kennen und auch seine Mutter gekannt haben, die zur Zeit des RAF-Terrorismus für 3 Jahre untertauchte und ihn als Kind bei seinen Großeltern zurückließ. Béa bestreitet Alexanders Behauptungen vehement, doch scheint sie jedes Mal einen kleinen Schritt zurück zu vollziehen, wenn Alexander sie mit weiteren Fakten konfrontiert. Sie wirft damit die Frage auf, was sie über ihre Vergangenheit verschweigt oder wenn sie evtl. decken könnte.
Béa erzählt von der Gegenwart in der Ichform, in Rückblenden mischt eine auktoriale Erzählerstimme Béas Erinnerungen an die Zeit vor 30 Jahren unter, und in einem dritten Handlungsstrang transkribiert Béa Interviews, die sie für ein Buchprojekt über den RAF-Terrorismus mit Zeitzeugen geführt hat. Die Interviews wirken anfangs sehr spröde durch die Abwehr der Interviewten, die in den 70ern Kinder oder Jugendliche waren. Ich war noch Kind damals, heißt es in den Texten, es betraf mich nicht, es hat mich genervt. Auch die deutsche Teilung wird deutlich, wenn in der ehemaligen DDR Geborene äußern, die Ereignisse hätten „drüben“ betroffen, dorthin konnten oder wollten wir sowieso nicht. Die Sicht der Interviewten auf Deutschland 1977 „im Herbst“ erfährt jedoch eine Wende, als der bi-nationale Blick von Bewohnern der Grenzregion zu Frankreich hinzukommt und der von Zeitzeugen, die vor 1950 geboren sind.
Fazit
Odile Kennel legt zum 30. Jahrestag des Höhepunktes im RAF-Terrorismus einen Roman vor, der den Zusammenhang zwischen Sprache und Erinnerung auslotet, sowie sich mit Verdrängung und Versöhnung befasst. Béas verschüttete Zweisprachigkeit und ihr Umzug können Ereignisse zum Verschwinden bringen und auch wieder hervorholen. Kurz nach dem Brexit Großbritanniens fand ich höchst faszinierend, wie Kennel die Abwehr von Ereignissen literarisch verarbeitet, von denen Menschen glauben, sie würden irgendwo in der Fremde stattfinden und sie selbst nichts angehen. Wie die Autorin RAF-Terrorismus und das persönliche Altern einer Zeitzeugin hier verknüpft, wirkt durch die Abwehrhaltung der Figuren auf mich dezent spröde; für Deutschland im Herbst 2017 zugleich beunruhigend treffsicher charakterisiert.
10 von 10 Punkten