Kevin Kuhn: Liv
Verlag: Berlin Verlag 2017. 496 Seiten
ISBN-10: 3827012724
ISBN-13: 978-3827012722
Verlagstext
Der junge Franz streift mit seiner Clique durch das überbordende Berlin der 1920er Jahre und ist hin- und hergerissen zwischen den ungeahnten Möglichkeiten und den Gefahren einer Stadt im Rausch. Liv reist wie viele junge Israeli durch die Welt. Sie hat ihren Militärdienst allerdings nicht bereits absolviert, sondern flieht vor ihm – und einem unerträglichen Gefühl der Enge – ins Ausland. Während ihrer Reise erobert sie einen neuen Kontinent: Sie wird zu einer Social-Media-Ikone, deren Posts viele Tausende lesen. Zwischen Liv und Franz liegen beinahe 100 Jahre, aber sie gehen wie Geschwister durch dieselbe Welt. Beide suchen nach einer Perspektive abseits der Euphorie ihrer Epochen, nach Autarkie in der Masse. Kevin Kuhn stellt sich den drängenden Fragen unserer Zeit und zeigt uns überraschende Wege durch die Fremde, die längst zu unserer Wirklichkeit geworden ist.
Der Autor
Kevin Kuhn, geboren 1981 in Göttingen, hat Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft in Tübingen studiert und ist heute Dozent am Literaturinstitut der Universität Hildesheim. Immer wieder hat er im Ausland gelebt, darunter längere Zeit in Neuseeland und drei Jahre in Mexico City. Mit seinem Romandebüt »Hikikomori« (2012) wurde er von der FAS zu den 20 besten deutschsprachigen Autoren unter 40 gezählt. 2015 erhielt er das Literaturstipendium des Landes Niedersachsen. Er lebt in Berlin.
Inhalt
Liv ist eine junge Israelin, die eine Reise nach Mexico antritt, um der Einberufung zum Wehrdienst zu entgehen. Ihre Flucht geschieht in letzter Minute; denn kaum ist sie angekommen, wird zuhause in Israel der Einberufungsbescheid zugestellt. Liv trennt sich am Flughafen nur schwer von ihren Eltern und öffnet den Familien-Chat, sowie sie durch die Sicherheitskontrolle ist. Gila, Efrat und Liv hatten als 15-Jährige im Internet Videos der „großen Momente“ ihres jungen Lebens hochgeladen und anschließend gebannt vor den Klickzahlen gehangen. Auch in Mexcio spielen Livs Smartphone und ihre In-Ears eine so zentrale Rolle, dass es völlig beliebig scheint, wo sie sich gerade befindet, Hauptsache, sie hat Netz, kann ihre Erlebnisse mit ihrer Community teilen und wird geliked. Ihre ständige Verfügbarkeit in den Sozialen Medien erschwert Livs Ablösung von ihren Eltern, die die Online-Aktivitäten ihrer Tochter genauestens verfolgen und kommentieren. Elan leistet in Israel inzwischen für drei Jahre Militärdienst. Liv ist derweil im Stil einer Rucksackreisenden unterwegs, deren Erlebnisse sich unter Einfluss der Internet-Community zunehmend dem Pauschaltourismus annähern. Spontan am Telefon kann Liv so lebendig und anregend von ihrer Reise erzählen, dass unter ihren intensiven - für mich als Leserin höchst langweiligen Online-Aktivitäten - doch eine weltoffene Vertreterin ihrer Generation verborgen zu sein scheint. Eine rasante Wendung nimmt die Handlung, als Liv sich allein mitten in der Wüste absetzen lässt, mit der optimistischen Einstellung, dass sie ja nicht die Erste sein wird, die unvorbereitet in der freien Natur zurechtkommen muss.
In einem zweiten Handlungsstrang gewinnt 1928 in Berlin der junge Franz eine edle Leica Compur Kleinbildkamera, mit der er fortan das Leben zur Zeit der Inflation und der Flappergirls erkundet. Franz' Epoche, das Zeitalter der Zeppeline, wird treffend mit dem Bild illustriert, dass sich gerade ein neuer Planet vor den alten schiebt und dabei einen Riesenschatten wirft. Dieses Bild illustriert ebenfalls Livs Umgang mit der virtuellen Welt, auch sie betritt gerade einen neuen Planeten. Im Gegensatz zu Liv konnte ich Franz nicht ganz ernstnehmen. Er wirkte wie eine alters- und farblose Hülle mit einer sehr sonderbaren Ausdrucksweise. Seine für die Zeit kaum authentische Sprache hat mich rätseln lassen, ob er eine virtuelle Figur sein könnte, die auf einer Zeitreise unglücklich zwischen den Zeitaltern eingeklemmt wurde und nicht wieder zurückfindet. Mit seiner Leica vollbringt Franz fotografische Wunder, die mit dieser Kamera technisch unmöglich sind, bewegt sich in seinem „Apartment“ elegant zwischen Bottichen mit Entwickler- und Fixierbädern und vervielfältigt ohne ein Vergrößerungsgerät seine Aufnahmen. Auch sprachlich fand ich Franz Fotografieren misslungen, weil man z. B. nicht durch eine Kamera guckt, sondern durch den Sucher. Selbst in der phantastischen Literatur sollen für technische und physikalische Abläufe jenseits von magischen Vorgängen die Gesetze der Logik gelten. Gefallen hat mir die Perspektive der Figuren, die in verschiedenen Jahrhunderten beide ihre Welt durch einen Sucher oder ein Display erleben.
Livs Erlebnisse in einem Bereich zwischen der Gegenwart und der denkbaren smarten Selbstdarstellungswelt der Zukunft fand ich nach dem für mich enttäuschenden Beginn unerwartet originell konzipiert, intelligent erzählt und ihre persönliche Entwicklung glaubhaft.
Fazit
Wer erwartet, dass die Handlungsstränge in einer Gegenwart im Übergang zur Zukunft und im Berlin des Jahres 1928 gleichwertig sein werden, wird von Kevin Kuhns Roman vermutlich enttäuscht sein. Wer Dave Eggers "Circle" mochte und der Phantastik nicht völlig abgeneigt ist, sollte es dagegen mit dem Buch versuchen.
6 von 10 Punkten