'Gray' - Seiten 319 - Ende

  • Ein wirklich temporeiches Finale. Aber ich muss gestehen, dass es mich enttäuscht hat. Das war mir nach der doch meistens – abgesehen von den Klettertouren - eher gemütlichen Ermittlerei zu schnell und vor allem irgendwie eine Wendung zu viel. James, okay – aber Lukas? Der unscheinbarere der beiden Orgelstipendiaten war mir als Figur vorher einfach nicht präsent und vertraut genug geworden, als dass es mich nun groß berührt hätte, dass er der Mörder ist. Daher hat mir ein Leseerlebnis der Art „DER!!? Das hätte ich ja nie gedacht!!!“ gefehlt. Das Ende ist schlüssig gestrickt, aber es wirkt auf mich doch konstruiert, ein wenig „zu perfekt“, und mir leuchtet auch das Motiv nicht so recht ein. Vorherige Verdachtsmomente in Lukas‘ Richtung haben mir gefehlt – oder waren für mein schlichtes Hirn nicht auffällig genug, das kann ich nicht ausschließen. Vielleicht war ich auf den letzten paar Dutzend Seiten auch einfach zu müde gewesen. Ich werde also, bevor ich mich an die Rezi setze, das letzte Viertel des Buches noch einmal lesen und schauen, wie es mir dabei ergeht. Kann gut sein, dass ich dann alles, was ich hier geschrieben habe, revidiere. :lache


    Edit: Entspoilert, nachdem viele nun schon den Schluss gelesen und dazu gepostet haben.

  • Ich finde die Auflösung schlüssig, wenn auch Augustus' Ermittlungen eher nur am Rande daran beteiligt waren und mehr Zufall im Spiel war.


    Sybil hat sich noch als Diebin geistigen Eigentums entpuppt, gut, dass Augustus mit ihr Schluss gemacht hat, Philomene passt sicher besser zu ihm. Und er wird offizieller Halter, Gray wird sicher sein Leben und seine Zwänge ganz schön durcheinander wirbeln, auch eine Therapie, solch ein Tier.


    Dass die Kapitelüberschriften alles Aussprüche Grays waren, hat mir gefallen und das Glossar hat mir Lust gemacht, Cambridge mal zu besuchen, bisher fand ich immer Oxford interessanter. Ich freue mich auch, dass ich in manchem richtig lag, z. B. auch in meinem Zweifel, dass "oben" nicht Elliot war.


    Mir hat der Roman sehr gut gefallen und ich bin gespannt auf Leonies nächsten. "Garou" habe ich noch hier liegen, der ist jetzt im SUB weiter nach oben gewandert.

  • Schlüssig fand ich die Auflösung auch. Ich muss sie vielleicht einfach nochmal zu einer anderen Uhrzeit lesen, nicht mitten in der Nacht. Am WE werde ich Zeit dafür haben.
    Aber was soll man auch machen, wenn das Buch so spannend ist und man es wider jede Vernunft gar nicht weglegen mag? :grin

  • Witzig. Bei den Tagebüchern war ich ja dann doch am Zweifeln, ob das Elliot ist, aber beim Prolog habe ich schon vermutet das er das ist. Beziehungsweise offenbar ist ihm ja genau das Gleiche passiert wie Augustus und er hat sich gefangen. Der Prolog ist aber wohl eindeutig aus Augustus' Sicht geschrieben, schließlich hört man Gray "Mörder" rufen und das Wort kannte er vorher nicht. Außerdem werden die wegen dem Fest zahlreich anwesenden Akademiker im erleuchteten Cambridge beschrieben.


    Warum die Fotos im Gobelin waren hat sich nicht komplett geklärt, oder? Also Lukas hat Elliot die Fotos gegeben um ihm zu zeigen, dass die Leute auf die er etwas hält auch "nur Menschen" sind. Aber wieso hebt Elliot diese Fotos dann an so besonderer Stelle auf?


    Lukas hat Huff ja anscheinend auch erst etwas gemocht und gehofft, dass er bei ihm nichts kompromittierendes findet ohne es zu glauben, wie es mal in dem einen Nachtbucheintrag stand.


    Ich fand es etwas erschütternd, dass James auch ermordet wurde. Irgendwie mochte ich ihn, vielleicht nur wegen seiner roten Haare und der Verstecke und seiner netten Schwester. Mh. Da wird es ja jetzt wohl schon noch eine Ermittlung und ein Aufdecken zu geben müssen oder wartet Huff, dass ihn jemand anders findet? Das hat mich etwas traurig gestimmt. Vielleicht hätte Huff ihn retten können? Wäre vielleicht etwas zuviel Heldentum gewesen. Mh. :-(


    Rückblickend muss ich sagen, dass ich die Nachtbucheinträge zwar sehr interessant zu lesen fand, als Sichtweise des Täters, aber sie haben bei mir dazu geführt, dass ich vorher geahnt habe wer der Täter ist. Wären die Nachtbucheinträge nicht gewesen hätte ich das vermutlich erst viel später oder gar nicht erraten. Es ist zwar befriedigend, wenn man den Täter errät, aber in echt hat man eben keine Einblicke in die Gedanken, deswegen finde ich - aus deduktiver Sicht - eine Geschichte ohne Täterperspektive etwas fordernder beim Lesen. ;-)


    Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen und ich hatte schöne Lesestunden. Ich werde mich die Tage an die Rezi setzen. :-)

  • Ja, die Auflösung war schlüssig und okay, allerdings musste ich die letzte Kletterszene 3x lesen, ehe ich kapiert hatte, inwieweit Gray Huff denn nun wirklich das Leben gerettet hatte, wie die zeitliche Abfolge war, wo das was glitschig war etc.
    Mir ging es aber wie Nadezhda, ich las mitten in der Nacht, weil es so schrecklich spannend war, dass ich nicht aufhören konnte!:-)
    Gut gefiel mir, dass Gray bei Huff bleiben darf und dieser von Sybil zu Philomene zu driften scheint.
    Ja, James war ein "Kolleteralschaden", seine Schwester tut mir auch sehr leid, aber dafür fand Lukas ein Bösewichtern angemessenes Ende.
    Vielen Dank für die schönen Lesestunden und die aufmerksame Begleitung der Leserunde, liebe Leonie! :knuddel1 :anbet :wave
    Meine Rezension erfolgt zeitnah.

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Mir hat die Auflösung auch gut gefallen, wobei ich mir Augustus immer noch nicht als versierten Kletterer vorstellen kann - dafür ist er in meinem Kopf zu sehr der "Nerd". Gray als Lebensretter war genial und den Ablauf der Ereignisse in der Mordnacht hätte ich mir nie und nimmer so zusammengereimt, auch wenn Lukas nach dem Nachtbucheintrag mit dem Wort "hohl" für mich mehr oder weniger als Täter feststand - das war vielleicht ein bisschen zu verräterisch.


    @ Cith:
    Ich könnte mir vorstellen, dass Elliot die Fotos im Gobelin aufbewahrt hat, weil er erstmal nicht wusste, was er damit machen soll. Vielleicht dachte er auch, dass er die Bilder irgendwann als Beweismittel brauchen könnte, evtl. auch gegen Lukas.


    Übrigens hat mir diese Jekyll-and-Hyde-Geschichte sehr gut gefallen und ich hatte lange nicht auf dem Schirm (um nicht zu sagen überhaupt nicht ;-)), dass es zwei unterschiedliche Personen sein könnten, die Gray etwas beibringen bzw. mit ihm unterwegs sind. Die Tatsache, dass es einen Sitter gibt, hatte ich zwar am Rande registriert, aber ich hätte nicht gedacht, dass der Sitter auch mit Gray rausgeht bzw. ihn für eigene Zwecke missbrauchen könnte.


    Mir hat das Buch sehr gut gefallen und ich habe es auch schon weiterempfohlen! :-) Vielen Dank an Leonie für die Begleitung der Leserunde :blume, ich melde mich in Kürze mit meiner Rezi.


    LG, Bella

  • Zitat

    Original von belladonna


    Übrigens hat mir diese Jekyll-and-Hyde-Geschichte sehr gut gefallen und ich hatte lange nicht auf dem Schirm (um nicht zu sagen überhaupt nicht ;-)), dass es zwei unterschiedliche Personen sein könnten, die Gray etwas beibringen bzw. mit ihm unterwegs sind. Die Tatsache, dass es einen Sitter gibt, hatte ich zwar am Rande registriert, aber ich hätte nicht gedacht, dass der Sitter auch mit Gray rausgeht bzw. ihn für eigene Zwecke missbrauchen könnte.


    Mir ging es ähnlich. Auch ich hatte gelesen, dass Gray ab und zu einen Sitter hatte, aber diese Tatsache sofort wieder vergessen... Und dann fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. Oder von den Augen.


    Und plötzlich ergibt alles einen Sinn.


    Ich bin mit der Auflösung und den Folgen sehr zufrieden und kann mich entspannen :-)


    Lukas weine ich keine Träne nach. Auch wenn ich nicht so ganz an seinen Selbstmord glaube. Ich hielt ihn schon für pragmatisch, aber dass er so leicht aufgibt, passt nicht zu ihm. Er hätte zumindest versuchen sollen, Huff noch abzufangen. Meine Theorie ist, dass er nach seiner Ohnmacht noch zu benebelt war und bei der Verfolgung von Huff eben einen Fehltritt machte...


    Es freut mich auch, dass Huff nun offizieller Besitzer von Gray ist... oder Gray Besitzer von Huff :grin
    Und die beiden passen ja auch perfekt zueinander.


    Last but not least: Huff und die Frauen: ich glaube, dass die Frau, die zu Huff passt, sehr schwer zu finden sein wird. Das wird schwieriger als die Entdeckung einer Nadel im Heuhaufen. Nämlich das Suchen einer bestimmten Nadel in einem Nadelhaufen.
    Huff braucht keine Frau. Er hat mit Gray, seinen Neurosen und seiner Arbeit genug zu tun.


    Auf Wiederlesen, Gray und Huff :wave Ihr seid mir sehr ans Herz gewachsen.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • Mit deutlich mehr Schlaf im Gepäck habe ich heute das letzte Drittel des Buches noch einmal gelesen und kann sagen: Schlaf wird ganz sicher nicht überbewertet! :lache
    Auch wenn ich nun natürlich wusste, wer der Mörder ist, konnte ich den Windungen und Verstrickungen am Ende deutlich besser folgen und habe auch Details wahrgenommen, die ich neulich, halb im Delirium, komplett überlesen hatte. Ich sollte mir irgendwie eine Lesesperre ins Hirn einbauen: „Kein Show-down mehr nach Mitternacht!“ oder so. :rolleyes


    Lediglich den Hirnwindungen von Lukas kann ich am Ende nicht mehr folgen; vielleicht kann mir da jemand auf die Sprünge helfen? Ich beziehe mich auf Seite 404: Mit den Ausführungen zu Gut und Böse wird’s ja wieder schön faustisch und vor allem biblisch. Kann Gray Gut und Böse unterscheiden, das will Lukas wissen, hat also auch der Vogel vom Baum der Erkenntnis genascht? Vielleicht. Es ist zumindest Gray durchaus zuzutrauen! :lache
    Was ich nun nicht verstehe: Wenn er es könnte, warum würde das dann die „Widerlegung der Moral“ bedeuten? Es würde nach meiner bescheidenen Denke doch nur dem Menschen das Privileg nehmen, als einziges Wesen über so etwas wie Ethos oder Moral zu verfügen? ?( Ich bitte um Erleuchtung!

  • Ganz auflösen kann ich das vermutlich auch nicht - immerhin hat Lukas ein Rad ab - aber im Prinzip geht es ihm darum, ob so etwas wie Moral "natürlich" ist. Wenn es natürlich ist, sollte es Gray in irgendeiner Form auch zugänglich sein, ist Lukas Argumentation. Nicht unbedingt logisch durchdacht, aber man darf nicht vergessen, dass Lukas hier kein unvoreingenommener Beobachter ist.
    Er weiß, dass ihm etwas fehlt - eine bestimmte Art von Empathie, Wärme, Menschlichkeit, und im Grunde will er sich selbst beweisen, dass er da nichts verpasst, dass moralisches Denken nur eine substanzlose Fiktion ist. Denn dann wäre er nicht "defekt", sondern seinen Mitmenschen voraus.
    So hatte zumindest ich mir das vorgestellt...

  • Danke, Leonie - das bringt zumindest teilweise schonmal Licht ins Dunkel, nämlich, was Lukas selbst betrifft. Dann wäre dieser also ein Soziopath, der moralische / ethische Kategorien selbst nur erlernt hat, sie aber nicht spürt, also nicht natürlich in sich trägt. Ich könnte nachvollziehen, wenn er gern beweisen möchte, dass das im Prinzip bei allen Menschen so ist - ist ja auch eine klassische Frage, ob soziale Normen wie die "Goldene Regel" tatsächlich im Menschen angelegt sind oder von jedem Individuum aufs Neue schlicht erlernt werden und bei Bedarf auch "abgeschaltet" werden können. Dass er da die Knopfdruckexperimente abzieht, kann ich nachvollziehen. Und mit "oben oder unten sein" auf Seite 404 meinst du doch irgendwie das Rad der Fortuna, oder? Also, wer gerade das Glück hat, sich in der mächtigen Position zu befinden, was doch zu einem guten Teil vom Zufall und den nicht immer in menschlicher Macht befindlichen Schwüngen des Schicksalsrades abhängt? Wer also zufälligerweise gerade das "Glück" hat, am Knopf zu sitzen? So weit kann ich dem irgendwie folgen.


    Wenn Lukas nun aber beweist, dass sogar Gray einen natürlichen Zugang zu Gut und Böse hat, schießt er sich mit seinem Anliegen doch eigentlich selbst ins Knie? ?(


    EDIT (Das Thema lässt mich nicht los... :lache)
    Wenn ich das richtig verstehe und Lukas gerade und nicht verquer denken würde, müsste er, um seine These von seinem eigenen "Normalsein" zu belegen, doch eigentlich umgekehrt beweisen, dass auch Gray von Natur aus eben nicht Gut und Böse unterscheiden kann, aber sehr wohl in der Lage ist, es zu lernen - oder zumindest nach außen hin so zu tun, als ob er Situationen und Geschehnisse in die richtige Schublade einsortieren kann. - Wie das bewiesen werden sollte, ist mir allerdings ein Rätsel, denn dazu müsste man ja zuerst einmal feststellen, ob der Vogel - unabhängig von seiner Fähigkeit, dies auf für Menschen verständliche Weise zu kommunizieren - bereits über die in ihm natürlich angelegten Kategorien "Gut" und "Böse" verfügt, er also lediglich menschliche Begriffe für etwas lernt, das ihm von der Sache her bereits vertraut ist. Man müsste es belastbar ausschließen können. (Aus meiner Sicht unmöglich.) Danach müsste man dem Vogel entweder diese Kategorien an sich beibringen, also ein tatsächliches Verständnis für Gut und Böse in ihm verankern, und ihm auch noch verklickern, dies entsprechend zu benennen. Oder aber, wenn er die Kategorien nicht bei sich verankern kann (was nochmal mehr in Lukas' Sinne sein müsste), ihm beibringen, eine Vielzahl von Situationen den Etiketten "Gut" und "Böse" zuzuweisen - und idealerweise auch noch die Abstraktion zu lernen, dass er ihm neue Situationen an ähnliche, bereits bekannte, andockt, sodass er auch die neuen "richtig" etikettieren kann. Das ist es ja, was Lukas als in der Gesellschaft durchaus funktionierender Soziopath gelernt hat. (Auch wenn er das mit der Dosierung des Lächelns nicht so ganz hinkriegt.) Und das müsste auch Gray lernen. Wie man aber da beweisen sollte, ob er nur die menschlichen Wörter für ihm bereits bekannte Kategorien oder die Kategorien selbst oder - was nach meinem Verständnis in Lukas' Sinne wäre - lediglich Beispiele für die Kategorien gelernt hat, ist mir schleierhaft. Ich kenne mich aber auch nicht mit den Forschungsmethoden der Sozialwissenschaften / Verhaltensforschung in der Biologie usw. aus.

  • Hallo Nadezhda.
    Das mit dem 'natürlich' habe ich in der Tat unglücklich formuliert.
    Wenn moralisches Denken etwas ist, das man sogar einem Papagei antrainieren kann, spricht das dafür, dass es nur eine Fiktion ist, ein gelerntes Muster, nichts essentiell Menschliches.
    Natürlich (ups...) ist Lukas Versuchsaufbau fehlerhaft, aber hier ist nun einmal der Wunsch der Vater des Gedanken. Und mit zu viel Realität hat sich Lukas noch nie aufgehalten.
    Auf einer anderen Ebene ist der ganze Versuchsaufbau auch nur ein Rahmen, der ihm ermöglicht, andere Leute auszuspionieren, sie zu kontrollieren und bedrohen.
    Ich hoffe, damit kannst Du etwas anfangen - mir ist klar, dass ich Lukas Pläne und sein Innenleben nur anskizziert habe und hier Fragen offen bleiben - vor allem, weil ich zu Tode erklärte Bösewichte in Geschichten eher unattraktiv finde.
    Wenn am Ende Dinge unaufgelöst bleiben und Fragen weiter im Kopf herumgehen, finde ich das persönlich interessanter und komplexer.
    Das ist aber sicher Geschmacksache...

  • Hallo Leonie,


    nochmal vielen Dank für deine Ausführungen!


    Zitat

    Original von ElSwann
    Wenn moralisches Denken etwas ist, das man sogar einem Papagei antrainieren kann, spricht das dafür, dass es nur eine Fiktion ist, ein gelerntes Muster, nichts essentiell Menschliches.


    So habe ich es auch verstanden.


    Und ja, ich kann prinzipiell sehr gut damit leben, wenn am Ende nicht alles aufgelöst wird, manche Dinge auch unklar oder offen bleiben... Aber hier berührt es halt das Wesen, die Denke, das Motiv des Mörders - und nachdem ich mich im ersten Lesedurchgang da mit Lukas etwas schwer getan hatte, wollte ich da nun schon gern dahintersteigen, so weit das möglich ist. :lache


    Lukas als Bösewicht... Ja, er ist der Mörder, sogar mehrfacher, aber es fällt mir schwer, ihn als Bösewicht zu sehen.
    Zum einen hast du den Lesern ja - in voller Absicht, nehme ich an - diese arme überarbeitete Fledermaus, die sich aus kleinen Verhältnissen hochgekämpft hat, zunächst nicht als unsympathisch hingestellt. Zufälligerweise kenne ich eine Cambridge-Absolventin, die sich ebenfalls aus kleinen und v.a. bildungsfernen Verhältnissen bis in die Stadt der weißen Türme gekämpft hat und habe hautnah mitbekommen, wie schwer das war und wieviel dadurch am Ende der Erfolg wog (sie hat allerdings niemanden umgebracht ;-) ) - Lukas hatte also meine vollste Sympathie.
    Zum anderen finde ich es bei Soziopathen nicht so einfach mit der Schuldfrage, geschweige denn, sie als "böse" im obigen Sinne abzustempeln, denn wenn ihnen von Geburt an die Antenne oder das Gen für Gut und Böse fehlt, können sie dann dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sie Dinge tun, die in die Kategorie des gesellschaftlich nicht erwünschten Verhaltens (= böse) fallen? (Das wird bei irgendeinem Nesbø oder in Marie Hermansons "Himmelstal" thematisiert, weiß nicht mehr genau, in welchem Buch.) Natürlich wurde Soziopathen in ihrer Kindheit und Jugend "antrainiert", was gutes und böses Verhalten ist - aber sie spüren es halt nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Abwesenheit der Erkenntnis von Gut und Böse ein neutraler Schwebezustand ist oder nicht vielleicht sogar das Böse schlechthin, weil Empathielosigkeit niemals etwas wirklich Gutes erschaffen wird. Nur kann der Soziopath halt nichts dafür, dass er Gut und Böse nicht spürt. Die Folgen seines erlernten Verhaltens tragen kann er wohl. (Oder? :-) )
    Aber ist Lukas überhaupt ein Soziopath? Er genießt am Ende ja irgendwie sein Bösesein, also habe ich da meine Zweifel. Oder genießt er einfach die Macht, die er ausübt? Außerdem war er in Fawn verliebt. Oder war das nur eine Obsession?


    Also, es bleiben genug Fragen offen, auch wenn das mit der Moral prinzipiell geklärt wäre! :-) :wave



    (Edit hat noch ein paar verirrte Satzzeichen sortiert.)

  • Tief beschämt und leicht enttäuscht gestehe ich, dass mir derartige Überlegungen überhaupt nicht in den Sinn gekommen sind!
    Entweder bin ich zu simpel gestrickt oder zu sehr Gray-fixiert.
    (Im Zweifelsfall ist das Knacken schuldig.)
    Aber wurmen tut mich das jetzt schon... :-(

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Liebste maikaefer! Gray ist doch auch viiiiiiiiiiiel wichtiger als Lukas!!! :knuddel1
    Ich glaube, bei mir ist echt zu einem guten Teil Marie Hermanson schuld an diesen Überlegungen. Lies mal "Himmelstal", dann weißt du nicht mehr so genau, was gut und böse und oben und unten ist... :lache

  • Leider kann ich deine Sympathie für Lukas nicht ganz nachvollziehen, Nadezhda.


    Natürlich darf man nach Ursachen und Motiven suchen, aber dass er Soziopath sein soll, glaube ich nun wieder nicht. Soziopathen haben keine Gefühle, nicht einmal Hass empfinden sie. Und Lukas war in meinen Augen neidisch und eifersüchtig. Und verliebt. Das alles passt nicht zu einem Soziopathen.
    Und seine einfache Herkunft darf auch keine Entschuldigung und kein Freibrief sein. Zudem besitzt er Intelligenz und Verstand, sonst hätte er es niemals nach Cambridge geschafft.


    Und dieser Verstand muss ihm auch dabei helfen, Recht und Unrecht zu unterscheiden.


    Aber dass Gray tausendmal wichtiger ist als der Doppelmörder, das unterschreibe ich voll und ganz. :-)

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • @ Alice: Lukas hatte meine Sympathie, als er als Figur eingeführt wurde. Später nicht mehr, das habe ich wohl unglücklich formuliert. Da hatte er nicht mehr meine Sympathie, aber vielleicht immer noch einen Hauch Verständnis. Und Verständnis ist keine Entschuldigung, da liege ich voll bei dir. Einen Freibrief würde auch ich keinem Mörder ausstellen, sei er Soziopath oder nicht... Ich tendiere ja selbst bei Soziopathen dazu, sie für ihr Fehlverhalten verantwortlich zu machen, denn auch, wenn sie Gut und Böse nicht spüren, haben sie es ja doch erlernt. Aber ich bin halt nicht sicher, ob man sie per se als "böse" bezeichnen kann, wenn dies als moralische Kategorie gar nicht in ihnen angelegt ist.
    Aber Respekt vor dem Leben Anderer zu haben, sodass man es ihnen nicht zu nehmen hat - das ist aus meiner Sicht auch nicht diskutabel.



    (Edit sortiert wieder mal die Kommas... :rolleyes )

  • Und ich staune gerade wieder, wie dieses Buch es schafft, immer wieder so tiefsinnige Gedanken hervorzurufen. Wir haben über Tierschutz geredet, über Ethik und Moral...und das wegen eines Buches, das ich zuerst "nur" als angenehm zu lesen, unterhaltsam und amüsant eingestuft hatte. Dabei ist es auch noch hoch-philosophisch.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • Zitat

    Original von Alice
    Und ich staune gerade wieder, wie dieses Buch es schafft, immer wieder so tiefsinnige Gedanken hervorzurufen. Wir haben über Tierschutz geredet, über Ethik und Moral...und das wegen eines Buches, das ich zuerst "nur" als angenehm zu lesen, unterhaltsam und amüsant eingestuft hatte. Dabei ist es auch noch hoch-philosophisch.


    :write Das Thema Tierschutz ist mir auch sehr wichtig geworden, auch wenn ich selbst dazu nicht so viel geschrieben habe.



    @ Leonie Swann:


    :anbet :anbet :anbet