Elif Shafak las am 17.08.2017 in Edinburgh
Auf diese Lesung hatte ich mich lange gefreut, weil „Der Geruch des Paradieses“ (engl. „Three Daughters of Eve“), das neuste Buch von Elif Shafak, zu meinen Lesehighlights 2017 gehört. (Rezi von Beo)
Elif Shafak wollte nicht als türkische Autorin vorgestellt werden. Ihrer Meinung nach ist nicht wichtig, die Nationalität oder das Geschlecht zu nennen. In der folgenden Stunde wurde klar, dass es ihr um die Vermeidung von Kategorien geht, um Verbindendes statt Trennendem.
In „Der Geruch des Paradieses“ wird Peri, Mitte 30, in Istanbul auf dem Weg zu einer Party ausgeraubt. In ihrer Handtasche befand sich ein 16 Jahre altes Foto, das sie gemeinsam mit ihren beiden damaligen besten Freundinnen zeigt. Elif Shafak beginnt ihre Bücher gerne mit Bildern. Nach und nach erfahren die Leser mehr über die Beziehungen der Freundinnen untereinander, über das heutige und frühere Leben von Peri. (Über den Inhalt möchte ich hier nicht allzu viel verraten. )
2016 habe es in der Türkei 35 Terrorattacken gegeben, die Lebensbedingungen veränderten sich sehr schnell. Die gesamte Handlung des Buchs finde während einer Dinner Party in Istanbul statt, unterbrochen von Rückblicken, meist in Peris Kindheit und Studienzeit. Die Beschreibung der Party sei ihr fast wie beißende politische Satire vorgekommen und „Das letzte Abendessen der türkischen Bourgeoise“ sei ein passender Titel. Die Türkei habe rasante Rückschritte gemacht, besonders in diesen Kreisen, wo man in einem kurzen Gespräch von Designer-Handtaschen über die jüngste Terrorattacke hin zu anderen Themen wechsele. Dies sei eine emotionale Achterbahnfahrt, dort jedoch Alltag.
Peri und ihre beiden Freundinnen sprächen zwar mit unterschiedlichen Stimmen, könnten jedoch alle drei nacheinander Teil der persönlichen Reise eines Menschen sein. Die Hauptfigur Peri wuchs in den 80ern in einer tiefgespaltenen Familie auf. Peri sei nicht autobiographisch. Elif Shafak sagte mit einem Lächeln, dass sie ihre Ansichten lieber in den männlichen Figuren verstecke. Peris Eltern sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Während die Mutter bereits zu Beginn sehr religiös ist und ihre Religiosität immer extreme Züge annimmt (ähnlich wie Elif Shafaks Großmutter), ist der Vater nicht religiös und legt großen Wert auf die akademische Ausbildung seiner Tochter, die unbedingt im Ausland studieren soll.
Es folgte eine kurze Lesung aus dem Buch, in der die unüberwindbaren Gegensätze zwischen Peris Eltern deutlich werden. Peris Vater war fasziniert davon, dass im Westen ursprüngliche religiöse Orte später zu säkularen Zwecken genutzt werden können, wie zB. die Bodleian Library in Oxford und die Vergangenheit dieses Orts nicht gezielt in Vergessenheit geraten soll. Peri selbst steht zwischen allen Stühlen und hat keine neutrale Vertrauensperson mit der sie über Religion und andere Themen sprechen könnte.
Elif Shafak gefiel die Idee, diese junge türkische Frau in einen experimentellen Religionskurs bei einem provokanten Professor zu stecken. Hier träfen die unterschiedlichsten Ansichten aufeinander, fast alle von ihren Ansichten absolut überzeugt. Genau diese heute so verbreitete feste Überzeugung befremde sie, denn in der Vergangenheit hätte sich Agnostiker und Gläubige ausgetauscht, über ihre Zweifel und Gemeinsamkeiten, statt nach den Unterschieden zu suchen. Glaube sei nicht ausschließlich religiös, sondern man könne auch an andere Dinge glauben bzw. darin Vertrauen haben ohne die eigene Religion zu verraten.
Ungleichheit sei das größte Problem unserer Zeit und zwar nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch wenn es um Bildung gehe. Das führe zu zunehmenden Spannung innerhalb der Gesellschaft und es sei die Aufgabe der Schriftsteller Fragen zu stellen, nicht Antworten zu geben oder gar zu predigen.
Auf ihre guten Englischkenntnisse angesprochen, antwortete sie, dass Englisch ihre dritte Sprache sei. Sie habe als Zehnjährige in Madrid mit dem Englischlernen begonnen und es nie so gut gelernt wie ihre Kinder, die wirklich zweisprachig seien. Mit 15 las sie die ersten englischen Gedichte und verliebte sich in diese Sprache. Ihre Bücher habe sie anfangs auf Türkisch geschrieben, die letzten Bücher jedoch alle auf Englisch. Dann würden sie von einem Übersetzer auf Türkisch übersetzt und diese türkische Fassung dann von ihr überarbeitet. Englisch sei für zB. Satire besser geeignet und sie selbst hätte den „Bastard von Istanbul“ auf Türkisch ganz anders geschrieben. Eine andere Sprache zu sprechen verändere auch in einem gewissen Maße, Frauen würden zB. auf Englisch mehr Schimpfwörter benutzen als wenn die gleichen Personen Türkisch sprechen. Als bekannt wurde, dass sie die Originalfassungen ihrer Bücher inzwischen auf Englisch schreibe, habe es einen Aufschrei gegeben. Sie würde die Türkei und die türkische Kultur verraten – das sei jedoch nicht wahr.
Sie hasst es, sich für eine Seite entscheiden zu sollen und damit automatisch gegen die Andere. Ihre Mutter war Diplomatin und Elif Shafak lebte auch für längere Zeit in Istanbul. Dort fühlte sie sich einerseits sehr wohl, andererseits fühlte sie sich erstickt davon, entweder dazugehören zu können oder automatisch Außenseiter zu sein.
Heutzutage werden den Menschen nicht nur in der Türkei vermittelt, dass man bei seinem „Stamm“ (tribe) loyal bleiben solle, dass in dieser Gleichheit dort auch Sicherheit liege. Anderssein werde abgelehnt, dabei können man nur dann eine emotionale und intellektuelle Verbindung aufbauen, wenn man auch ihre Geschichte kenne – egal woher die andere Person stamme.
Es sei ihr bewusst, dass Vielfalt (diversity) auch viele Herausforderungen mit sich bringe, auf der anderen Seite würde das Leben durch Vielfalt um so viel reicher. Menschen, die einfache Lösungen versprechen machen ihr Angst. Es seien Demagogen, die anderen Menschen suggerierten, es habe eine großartige Vergangenheit gegeben und die Lösung liege im Ausschluss oder der Unterdrückung von Anderen bzw. Minderheiten. Leider gelinge es Demagogen oft besser, die Sorgen vieler Menschen anzusprechen – das müsse sich ändern. Auch dürfe man ihnen nicht die Begriffe „Heimat“ oder „Patriotismus“ überlassen, diese Worte sollten nicht politisch missbraucht werden.
Ihre Hoffnung sei, dass Bücher etwas in den Lesern bewegen, ohne aufdringliche Botschaften zu enthalten. Auch wenn sie selbst zB. Trump oder dem Brexit sehr kritisch gegenüberstehe, sei es ihr auch bewusst, dass nicht alle, die dafür stimmten, auch fremdenfeindlich seien.
Übersetzen sei eine Kunstform an, die kaum Anerkennung erfahre. Die Übersetzer steckten viel Leidenschaft und Zeit in ihre Arbeit, die zudem nicht gut bezahlt werde. Wenn sie selbst auf Türkisch schreibe, verwende sie zahlreiche alte Worte, die während der kemalistischen Sprachreform abgeschafft wurden. (Lehnswörter aus dem Persischen und anderen Sprachen) Ihrer Meinung nach gibt es für viele dieser Worte bis heute keine neue türkische Entsprechung, der Sprache sei etwas von ihrer Vielfalt genommen worden.
Jedes Mal, wenn eines ihrer Bücher in eine andere Sprache übersetzt werde, erscheine eine Version für eine andere Kultur. Vor allem die völlig unterschiedlichen Titel faszinieren sie. So heißt z.B. der Roman „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ (orig. „The Forty Rules of Love“) in Frankreich „Soufi mon amour”.
Hier endete die viel zu kurze Veranstaltung, die ein Plädoyer für Aufgeschlossenheit und Menschlichkeit war mit einer faszinierenden Autorin, die sich später beim Signieren viel Zeit für ihre Leser nahm.
PS. Zwei Tage später moderierte Elif Shafak eine Veranstaltung mit Nicola Sturgeon and Heather McDaid. Die Aufzeichnung kann man bis zum 17.10.2017 bei BBC (http://www.bbc.co.uk/programmes/p05cqh3r) oder Youtube anschauen (mPcr51Vr4aI)