Dietmar Dath:Der Schnitt durch die Sonne

  • Dietmar Dath: Der Schnitt durch die Sonne
    Verlag: S. FISCHER 2017. 368 Seiten
    ISBN-10: 3103973063
    ISBN-13: 978-3103973068. 24€


    Verlagstext
    Die Zukunft in Flammen – der Roman einer großen politischen Feuerprobe für die Menschheit unserer Epoche
    Überall ist Politik. Sechs Menschen werden zusammengerufen, um zur Sonne zu reisen: eine Schülerin, ein Koch, ein Finanzberater, eine Mathematikerin, ein Gitarrist und eine Pianistin. Sie erfahren, dass es dort eine Zivilisation gibt, die anders ist als alles, was Menschen kennen. Mit neuen Körpern sollen sie drei große Aufgaben bewältigen und geraten dabei zwischen die Fronten eines gewaltigen Konflikts. „Der Schnitt durch die Sonne“ steht in der Tradition von H.G. Wells, StanisBaw Lem und Arno Schmidt. Ein abenteuerlicher, philosophischer und politischer Roman, der sich den drängenden Fragen unserer Gegenwart stellt.


    Der Autor
    Dietmar Dath, geboren 1970, ist Schriftsteller, Übersetzer, Musiker und Publizist. Sein Roman »Die Abschaffung der Arten« stand 2008 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und wurde 2009 mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet, desgleichen 2013 sein Roman „Pulsarnacht“. 2015 erschien eine erweiterte Neuausgabe des Romans „Venus siegt“.


    Inhalt
    Science Fiction als Waffe gegen Dummheit


    In Dietmar Daths utopischem Roman sollen sechs Personen an einer Reise zur Sonne teilnehmen, für die besondere Fähigkeiten nötig sind. Da jeder Mensch punktuelle Verständnisschwierigkeiten hat, soll ein Team aus möglichst unterschiedlichen Menschen bestehen, damit diese Lücken abgedeckt werden können. Und weil Menschen schlecht erkennen können, wenn Aufgaben sich wie in der Mengenlehre überlappen, wird für die Mission ein Mathematiker benötigt. Die Auswahl des Teams lässt bereits darüber sinnieren, welche Qualifikation gerade diese Person mitbringt. Aykut ist ein türkisch-amerikanischer Feinkosthändler, der plötzlich entdeckt, dass er intuitiv fremde Sprachen versteht, die er vorher nicht beherrscht hat. Als Catering-Unternehmer verkörperte Aykut für mich den amerikanischen Tellerwäscher-Mythos, im Roman jedoch wird sein Geschmackssinn benötigt. Zwei Gerichte mit zwei unterschiedlichen Geschmacksnoten werden nämlich als Illustration genutzt, um die neuartige Weitergabe von Informationen, Gefühlen und Sinnesreizen in Daths Neuer Welt zu erklären. Hat man das eine Gericht gegessen, nimmt man damit auch die Sinnesreize eines zweiten Gerichts auf, als gäbe es eine Doppelwirklichkeit, deren eine Hälfte quasi als Schwarzfahrer die andere Hälfte mitbringt. Wer Essen verstehen will, muss dreidimensional denken können. Realität und Abbildung, Realität und eigene Vorstellung, Gegenwart und vorheriger Zustand - sie alle kommen im Zweierpack.


    Die Schülerin Filipa tritt zunächst als Enkelin einer Großmutter auf, die alte Geschichten von Demos und Wasserwerfern erzählt, über Mao und Stalin. Plastisch erlebt der Leser hier, dass man die Biografie einer Person kennen muss, um ihre Sprachebene verstehen zu können. Ob Mariannes imaginärer Radiomoderator im Ohr ein Kommunikationsweg der Neuen Welt ist oder Anzeichen einer beginnenden Demenz bleibt zunächst noch offen. Auch der Gitarrist Bernhard Jensen scheint als Künstlertypus mit Jeans und Nicki aus einer anderen Zeit gefallen zu sein. Er verkörpert einen gesellschaftlichen Aufsteiger, der sich auf ungewohntem Parkett noch unsicher bewegt. Karel Landauer hat seinen persönlichen Weltuntergang als Betrüger in der IT-Branche hinter sich und wirkt auf jeder Ebene vereinsamt – beruflich, privat, erotisch und psychisch. Auch um seine geistige Leistungsfähigkeit könnte man sich sorgen; denn die Supermärkte scheinen Personal und Warenbestand schneller zu wechseln, als Karl verarbeiten kann. Vermutlich durch eine technische Panne büßt Karl seine männliche Identität ein und steigt als Frau Karla aus dem Simulator für die Probereise zum Mars. Vera Ulitz war für mich die spannendste Figur. Sie ist Mathematikerin, SF-Leserin und arbeitet angestellt in einem Antiquariat. Mit einem strammen Ulbricht-Anhänger als Vater, der ihr osteuropäische Autoren nahebrachte, scheint Vera die gesamtdeutsche Geschichte auf ihrem Buckel zu tragen. Immerhin hat ihr die SF-Liebe ihres Vaters die Einsicht beschert, dass es in der utopischen Literatur nicht um Wissen, sondern die eigene Haltung zum Wissen geht. Vera scheint die heimliche Geschäftsführerin des Antiquariats zu sein, dessen Inhaber Klaus behauptet, seine Waren wären ihm irgendwie aufgedrängt worden durch Genossen, die ihm einfach ihr altes Zeug in den Laden gestellt hätten. Immerhin kann Vera ihm aus berufenem Munde erklären, dass ihre Wissenschaft nichts mit kaufmännischem Rechnen zu tun hat und warum sein Laden im Zeitalter des Internets überleben wird. Dass gleich mehrere Personen Wissenschaftler sind, mag die frage aufwerfen, wo in Daths Szenario der gesunde Menschenverstand bleibt. Evtl. ist dafür Aykut zuständig? Angesiedelt ist die Handlung in der unmittelbaren Gegenwart, nach Trumps Wahl. Aykut bekommt das trotz seines Studiums und seines amerikanischen Passes umgehend zu spüren.


    Fazit
    Utopische Literatur kann sich mit Reisen zu fernen Planeten befassen, neue Transportsysteme für den Individualverkehr vorausdenken, Überwachungswahn entlarven, aber auch neue Kommunikationswege entwickeln. Dietmar Dath entwickelt diese Zukunftsträume. Als utopisches Transportmittel tauchen hier Kugeln auf zur Reise und zum Transport, die durch Willenskraft oder Empathie gesteuert werden. Herausragend ist jedoch, dass Dath neue Kommunikationswege zwischen Menschen entwickelt und eine ungewöhnliche Form, anderen Bewusstsein und Vorstellungen mitzuteilen. Als würden Gedanken und Empfindungen diffundieren und mit den Gedankenwolken einer anderen Person eine neue Einheit bilden. Obwohl es umfangreiche mathematische und physikalische Exkurse im Roman gibt, die mich schlicht überfordern, genügten mir die faszinierende Vera, das Gedanken-Diffundieren und die Transportkugeln, um mich vorzüglich zu unterhalten. Wer eine Mathe-Phobie hat oder stets den roten Faden der Handlung im Blick haben möchte, wird mit dem Roman vermutlich weniger glücklich.


    7 von 10 Punkten