Mohsin Hamid: Exit West
DuMont Buchverlag 22.8.2017. 224 Seiten
ISBN-10: 3832198687
ISBN-13: 978-3832198688. 22€
Originaltitel: Exit West
Übersetzerin Monika Köpfer
Verlagstext
In einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, in einem muslimisch geprägten Land, das am Rande eines Bürgerkriegs steht, in einer Stadt, die namenlos bleibt, lernen sie sich kennen: Nadia und Saeed. Sie hat mit ihrer Familie gebrochen, fährt Motorrad, lebt säkular und trägt ihr dunkles Gewand nur als Schutz vor den Zudringlichkeiten fremder Männer. Er wohnt noch bei seinen Eltern, ist eher schüchtern und nimmt die Ausübung seiner Religion sehr ernst. Doch während die Stadt um sie herum in Flammen aufgeht, sich Anschläge häufen und die Sicherheitslage immer prekärer wird, finden die beiden zusammen. Sie wollen eine gemeinsame Zukunft, in Freiheit. Und da sind diese Gerüchte über Türen, die diejenigen, die sie passieren, an ferne Orte bringen können. Doch den Weg durch diese Türen muss man sich mit viel Geld erkaufen. Als die Gewalt weiter eskaliert, entscheiden sich Nadia und Saeed, diesen Schritt zu gehen. Sie lassen ihr Land und ihr altes Leben zurück ...
„Exit West“ ist ein überaus berührender Roman, der sich mit den zentralen Themen unserer Zeit beschäftigt: Flucht und Migration. Mohsin Hamid beweist, dass Literatur poetisch und zugleich politisch sein kann.
Mit diesem „fesselnden Roman“ (New York Times) steht Mohsin Hamid auf der Longlist des diesjährigen Man Booker Preises.
Der Autor
Mohsin Hamid, geboren in Lahore, Pakistan, studierte Jura in Harvard und Literatur in Princeton. Nach Stationen in New York und London lebt er heute mit seiner Familie wieder in Lahore. Seine Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt. „Der Fundamentalist, der keiner sein wollte“ stand auf der Shortlist des Booker-Preises und wurde von Mira Nair verfilmt. Zuletzt erschienen sein Romane „So wirst du stinkreich im boomenden Asien“ (2013), sowie der Essayband „Es war einmal in einem anderen Leben“ (2016).
Inhalt
In einer namenlosen Stadt, in der es von Flüchtlingen wimmelt, treffen sich in einem Abendkurs zwei junge Berufstätige. Die Ankündigung, dass in der Stadt, „noch keine Kampfhandlungen ausgebrochen sind“, lässt Schlimmes befürchten. Nadia und Saeed nehmen zögernd Kontakt zueinander auf. Religion schafft Konfliktpotential in ihrer Beziehung, nicht allein durch gesellschaftliche Normen, sondern durch Einstellungen der Partner selbst. Beide rechtfertigen sich dem Anderen gegenüber - wie unter Zwang - für den Grad ihrer Religiosität. Wenn Nadia nicht religiös ist, warum verhüllt sie sich bis zu den Knöcheln, fragt sich nicht nur Saeed. Nadia trägt den Tschador, um sich gegen Übergriffe von Männern zu wappnen, aber auch gegen Ansprüche und Erwartungen der Welt draußen. Die Erzählerstimme verteidigt Nadias Entscheidung zur Verhüllung als damalige Freiheit, über die Kleidung selbst entscheiden zu können. Harsche Reaktionen Fremder auf Nadias Lebensweise signalisieren jedoch andere Motive. Dass Nadia auf ein schwarzes Tuch einen Motorradhelm setzt, erwarten Leser nicht unbedingt von einer verhüllten Frau. Saeed wohnt noch bei seinen Eltern, denen anzumerken ist, dass sie in einer liberaleren Gesellschaft aufwuchsen als der heutigen. Nadia, schon als Kind selbstbewusst und temperamentvoll, erkämpfte unter persönlichen Opfern eine Wohnung für sich allein. Obwohl sie berufstätig und finanziell unabhängig ist, hat ihre Beziehung zu Saeed sich den Moralvorstellungen des Landes anzupassen. Nadia wird angepöbelt, weil sie sich anders verhält, als das Frauenbild des dysfunktionalen Landes gestattet. Gewalt und Versorgungsmängel eines Landes im Bürgerkrieg bestimmen das Leben des jungen Paares. Die Wirtschaftslage verschlechtert sich und viele Menschen wissen längst nicht mehr, für welche Werte die Konfliktparteien stehen. Saeeds Vater beklagt, das Land bringe Menschen wie ihm und seiner Familie keinen Respekt mehr entgegen. Nadia und Saeed lassen sich schließlich von einem Vermittler durch eine Tür in eine bessere Welt bringen, wie sie hoffen. Auf der anderen Seite der Türen finden Flüchtende sich auf einem anderen Kontinent wieder.
Die Handlung, die bisher in einem beliebigen Land des Nahen Ostens gespielt haben könnte, wechselt hier auf eine apokalyptische Ebene mit Fantasy-Elementen. Türen, durch die die Menschen flüchten, wirken wie im Zeitreise-Roman die Portale in andere Epochen. Weitere Handlungsstränge deuten an, dass es diese Portale auf der ganzen Welt gibt und Menschen sie nicht nur in Süd-Nord-Richtung durchqueren.
Nadia und Saeed finden sich in London wieder, wo durch mehr als eine Million Flüchtlinge postapokalyptische Zustände herrschen. Nadia vermutet, dass umso mehr Migranten eintreffen, je mehr Türen es in einem Land gibt. In London kommt es zu gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen bei totaler Überwachung durch Kameradrohnen. Einzelne Stadtteile werden dadurch zu dysfunktionalen Zonen mit kaum funktionierender Infrastruktur. Ihr Leben als Flüchtlinge in einem Arbeitercamp belastet die Beziehung von Nadia und Saeed. Jeder der beiden trägt die Last auf seine Weise. Für Nadia scheint Verhüllung für ihr Verhältnis zur Außenwelt wieder an Bedeutung zu gewinnen. Ein Leben als einfache Arbeiterin fällt ihr leichter als Saeed, der ohne Normen und Strukturen verloren wirkt. Gerade Saeed müsste sich fragen, ob er in London nicht gerade Strukturen neu schafft, vor denen er ursprünglich hierher geflüchtet ist.
Um den Handlungsstrang von Nadias und Saeeds Flucht reihen sich wie die Blütenblätter einer Blume Ereignisse, die auf der übrigen Welt in der Nähe der Türen/Portale stattfinden. Deutlich wird, dass Wanderungen in mehr als einer Richtung stattfinden und aus sehr persönlichen Motiven. Deshalb lässt sich das Problem der Migration auch nicht durch Aktionen einzelner Personen oder Staaten lösen. Kulturelle und religiöse Konflikte lassen Migranten nicht hinter sich zurück, sondern bringen sie in ihre neue Lebenswelt ein. Dass der Einzelne Teil des Grundkonflikts ist, der schließlich zur Flucht führen wird, zeigt Hamid bereits an den Beziehungen zwischen Nadia, Saeed und ihren Kleinfamilien auf. Saeeds Vater beklagt anfangs den mangelnden Respekt seines Landes für seine Bürger. Wie es die Gemeinschaft der Flüchtlinge im Roman mit dem gegenseitigen Respekt hält, kann so einige Einblicke geben in die reale Krise.
Fazit
Mohsin Hamid blickt zuerst wie durch ein Vergrößerungsglas zu einem jungen Paar in einem beliebigen muslimischen Land. Hamid lässt seine Hauptfiguren eingefahrene Klischees über Frauen und Männer im Islam brechen. Eine Zoombewegung aus der Zweierbeziehung heraus richtet unter Aussparung regionaler Details den Blick auf globale Flüchtlingsströme. Das postapokalyptische London Hamids kommt der realen Situation sehr nahe. Doch nun muss man als Leser durch ein Portal wieder in die eigene Welt zurück – und dort wirkt Nadias und Saeeds Geschichte lange nach.
9 von 10 Punkten