Mitch Albom: Das Wunder von Coldwater. Roman, OT: The First Phone Call From Heaven, Deutsch von Sibylle Schmidt, München 2014, Wilhelm-Goldmann-Verlag, ISBN 978-3-442-48426-3, Softcover, 335 Seiten, Format: 11,8 x 2,5 x 18,7 cm, Buch: EUR 8,99, Kindle Edition: EUR 7,99.
In Coldwater, einer Kleinstadt in Michigan, geschieht ein Wunder: Acht Einwohner erhalten auf ihren Handys plötzlich Anrufe von verstorbenen Angehörigen. Die Gespräche kommen immer freitags, sind sehr kurz, aber alle Angerufenen erkennen zweifelsfrei die Stimmen ihrer Lieben wieder. Und es kommen wirkliche Dialoge zustande, es ist also kein Scherzkeks mit zu Lebzeiten aufgezeichneten Nachrichten unterwegs.
Zunächst spricht keiner der Betroffenen darüber.
Anrufe aus dem Jenseits?
Die Reaktionen auf diese Anrufe sind sehr unterschiedlich: Manche sind glücklich und fühlen sich getröstet, bei anderen reißen gerade verheilende seelische Wunden wieder auf. Einige halten die Anrufe für einen geschmacklosen Streich, andere zweifeln an ihrem Verstand. Bauunternehmer Elias Rowe schmeißt wütend sein Handy weg und taucht erst einmal für ein paar Wochen ab. Er hat gar keine Lust darauf, sich von seinem Anrufer ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen. Polizeichef Jack Sellers genießt zwar die Gespräche mit seinem in Afghanistan gefallenen Sohn Robbie, hofft aber inständig, dass niemand davon erfährt. Die Gemeinde würde ihn ja für unzurechnungsfähig erklären!
Erst als die extrovertierte Immobilienmaklerin Katherine Yellin, 46, offen von den Anrufen ihrer verstorbenen Schwester berichtet, outen sich auch andere. Doch nicht jeder, der an die Öffentlichkeit geht, erhält tatsächlich Anrufe. Und nicht alle, die Anrufe erhalten, erzählen davon.
Ein Wunder? Die Stadt wird überrannt
Die Neuigkeit von den Kontakten zum Jenseits verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Welt. Das Leben in Coldwater wird zum Zirkus. Pilger und skeptische Demonstranten, Medienleute und neugierige Touristen überschwemmen das kleine Städtchen. Allerlei Geschäftemacher wittern Morgenluft und mit dem beschaulichen Leben ist es erst einmal vorbei.
Manche finden die Entwicklung toll, andere resignieren, doch Sullivan „Sully“ Harding – Ex-Elitesoldat, Ex-Pilot und soeben aus dem Gefängnis entlassen – macht das Spektakel richtig wütend. Seit er vor zwei Jahren und dramatischen Umständen seine Frau Giselle verloren hat und im Zuge dieser Ereignisse auch noch unschuldig in den Knast gewandert ist, ist er mit der Religion durch. Es gibt keinen Gott und auch keinen Himmel, basta. Und er will auf keinen Fall, dass jemand seinem sechsjährigen Sohn Jules falsche Hoffnungen macht. Der rennt jetzt schon mit einem Spielzeughandy durch die Gegend und wartet auf einen Anruf seiner verstorbenen Mom.
Für Sully ist das alles Schwindel
Sully, der in besseren Zeiten das Angebot gehabt hat, zur Militärpolizei zu wechseln, ist wild entschlossen, die „Anrufe aus dem Himmel“ als Schwindel zu entlarven. Auch wenn der Glaube daran manchen Menschen gut tut, sich die Kirchen füllen wie noch nie und der Hype Geld in die Kassen von Coldwater spült: Was ist das alles wert, wenn es auf reinem Bullsh*t basiert?
Unterstützung bekommt Sully von der gleichfalls skeptischen Bibliothekarin Liz Udell und von Bauunternehmer Elias Rowe, der nur möchte, dass der Spuk aufhört. Auch Jason Turk, ein Angestellter in einem der Handyläden der Stadt, ist eine wertvolle Hilfe. Er kann sich durchaus vorstellen, dass da jemand tief in die technische Trickkiste gegriffen hat und findet tatsächlich Hinweise, die seine Theorie stützen könnten.
Durch seine Arbeit bei einem Zeitungsverlag kommt Sully ganz schön herum. Und mit der Zeit hat er verschiedene Personen in Verdacht. Doch wer ein Motiv hat, hat nicht das nötige technische Wissen, und Technikfreaks, die solche Anrufe fingieren könnten, haben kein erkennbares Motiv.
Es fehlen die Beweise
Am liebsten würde Sully den ganzen Schwindel genau dann auffliegen lassen, wenn die berühmteste Fernsehmoderatorin des Landes mit ihrem Tross in Coldwater einschwebt um das Fernsehpublikum live an den Anrufen aus dem Jenseits teilhaben zu lassen. Doch dafür müsste er schon handfeste Beweise haben - und die hat er nicht. Das Detektivspielen hat Sully sich deutlich einfacher vorgestellt …
Herrlich, wie das Chaos über die verschlafene Kleinstadt hereinbricht, nachdem sich die Kunde vom Wunder verbreitet hat! Und es ist entlarvend. Fernsehreporterin Amy Penn, die sich zunächst einen Karriereschub von der Coldwater-Story verspricht, ist zunehmend angewidert von der Sache und sagt Katherine Yellin auf den Kopf zu, dass die Medien sie nur ausnutzen. Aber Katherine ist das von Anfang an klar gewesen. Sie spielt trotzdem mit, weil sie es als ihre Aufgabe ansieht, den Menschen vom Himmel zu erzählen und ihnen die Angst vorm Tod zu nehmen. Vielleicht spielt auch ein bisschen Geltungsbedürfnis mit.
Offen für Interpretationen
Der Schluss der Geschichte ist nicht im eigentlichen Sinne offen, aber offen für Interpretationen. Der beinharte Skeptiker kann damit genauso gut leben wie der religiöse Leser. Sie werden nur unterschiedliche Erklärungen für die Vorfälle finden. Das ist klug gemacht. Welcher Interpretation der Autor zuneigt, offenbart sich im Nachwort. (Gut, wenn man ihn kennt, weiß man es ohnehin.) Aber weil er uns seine Deutung nicht aufdrängt, ist das in Ordnung.
Auch wenn in der Geschichte das Telefon eine große Rolle spielt, ist mir nicht so recht klar, warum Mitch Albom in die Handlung immer wieder Episoden aus dem Leben des Telefon-Erfinders Alexander Graham Bell eingestreut hat. Man liest das halt so mit, weil es ganz interessant ist. Es gibt schon ein paar Parallelen zu der Coldwater-Geschichte und man kann sich vorstellen, dass Bell nicht erfreut gewesen wäre zu sehen, welche Krisensituationen man mit Hilfe seiner Erfindung heraufbeschwören kann. Aber wenn der Autor die Bell-Episoden weggelassen hätte, hätte der Story nichts gefehlt außer ein paar Seiten.
Viele Personen – ein wenig unübersichtlich
Es wuseln schon ohne Bell und seinem Anhang genügend Personen durch den Roman. Auch wenn ich geneigt bin, Sully Harding als Protagonisten zu betrachten, wird die Geschichte abwechselnd aus der Sicht verschiedener Betroffener geschildert. Und dann mischen noch diverse Honoratioren, Freunde, Bekannte und Medienvertreter mit, sodass man manchmal Mühe hat, die Namen richtig zuzuordnen. Jeff? Ron? Geraldine? Alan? Samantha? Huch, wer ist das jetzt wieder? Das klärt sich dann zum Glück recht schnell, aber man hat immer wieder kurze Phasen der Desorientierung.
Bei besonders seltsamen Personennamen frage ich mich oft, ob sie uns etwas sagen sollen. Ich war stets versucht, den Nachnamen des Bestattungsunternehmers französisch auszusprechen: Belfin … schönes Ende. Und ob der Autor beim Vornamen Horace an den römischen Dichter Horaz gedacht hat? Der hatte ja wohl auch ein ambivalentes Verhältnis zur Religion. Aber das ist vielleicht schon überinterpretiert.
Antworten kann das Buch natürlich nicht geben. Ob es ein Leben nach dem Tod gibt, weiß Mitch Albom genau so wenig wie wir. Aber wie die Menschen mit dieser Möglichkeit umgehen, das ist sehr interessant zu sehen.
Der Autor
Mitch Albom begeisterte mit seinen Büchern "Dienstags bei Morrie" und "Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen" weltweit unzählige Leserinnen und Leser. Seine Bücher wurden in 45 Sprachen übersetzt und waren Nummer-1-Bestseller. Er lebt mit seiner Frau Janine in Detroit.