Tom Drury: Grouse County (Das Ende des Vandalismus, Die Traumjäger, Pazifik)
Klett-Cotta 5.8.2017. 795 Seiten
ISBN-10: 3608980253
ISBN-13: 978-3608980257. 28€
Übersetzer: Gerhard Falkner
Verlagstext
»Das komischste und aktuellste Epos über die amerikanische Demokratie« Boston Globe
Die USA befinden sich im Wandel. Doch in Grouse County, irgendwo im Mittleren Westen, ist die Zeit stehengeblieben. Hier findet man sie noch, die »echten« Amerikaner, die mit Stolz ihr Tageswerk verrichten und sich nicht gern auf den Arm nehmen lassen. Auch nicht von einem trockenen Alkoholiker, der sich zum Sheriff wählen lassen will.
»Drury ist ein großer amerikanischer Autor.« Jonathan Franzen
Grouse County ist die Heimat der Darlings und anderer liebenswerter Eigenbrötler. Das Leben der Menschen dort zerbröckelt langsam, aber unaufhaltsam, denn sie alle jagen ihren unrealistischen Träumen nach – gleich, was es kostet. Sie sind der Dorn im Auge des örtlichen Sheriffs, Dan Norman, der bestrebt ist, die Harmonie in seinem County zu wahren. Dafür ist er sogar bereit, sich auf einen Wahlkampf um das Amt des Bürgermeisters einzulassen. Die jüngere Generation sieht dagegen nur einen Ausweg, um dem ländlichen Mief zu entkommen: Grouse County verlassen und nie mehr zurückkehren.
Der Band enthält die drei Romane »Das Ende des Vandalismus«, »Die Traumjäger « und den bisher auf Deutsch unveröffentlichten Roman »Pazifik«, mit denen Tom Drury sich in die erste Liga der amerikanischen Romanciers geschrieben hat. Der Romanteil »Pazifik« war Finalist für den National Book Award.
Der Autor
Tom Drury, geboren 1956 in Iowa, zählt zu den wichtigsten amerikanischen Schriftstellern seiner Generation. Seine Romane gelten als moderne Klassiker. Er veröffentlicht unter anderem im »New Yorker« und in »Harper’s Magazine«. Drury lebt zur Zeit in Berlin.
Interviewüber Pazifik
Die Serie
Das Ende des Vandalismus (1994, deutsch 2008)
Die Traumjäger (2000, deutsch 2010)
Pazifik (2013)
Erster und zweiter Band wurden vollständig überarbeitet, Pazifik erscheint hier zum ersten Mal auf Deutsch. Die Handlung der drei Bände folgt zeitlich aufeinander, die Romane müssen jedoch nicht in chronologischer Reihenfolge gelesen werden.
Inhalt
Das Ende des Vandalismus
Tiny und Louise Darling leben im 300-Einwohner-Ort Grafton im Mittleren Westen der USA. Nach der Trennung von Louise zieht Klempner Tiny zu seinem Bruder Jerry; Louise beginnt eine Beziehung mit Sheriff Dan Norman. Dan ist mit den Ermittlungen in einer Serie von Landmaschinen-Diebstählen beschäftigt und lässt sich - ganz unbürokratisch - von einem Sprühflugzeug über seinen Bezirk fliegen, um nach den teuren Männerspielzeugen Ausschau zu halten. Für einen Landwirt ist ein gestohlener Traktor alles andere als komisch, es geht dabei um seine Existenz. Louise arbeitet für den betagten Fotografen Kleeborg, der für die offiziellen Schulfotos des Ortes zuständig ist. Kleeborg will sein Geschäft längst an Louise übergeben, aber sie geht der Nachfolgefrage bisher noch aus dem Weg, weil sie am liebsten nur konzentriert in der Dunkelkammer arbeitet. Als im Supermarkt ein Baby ausgesetzt wird, entschließt sich Sheriff Dan, nicht nach der Mutter zu fahnden und die Angelegenheit sich durch die sprichwörtliche Hilfsbereitschaft auf dem Dorf von selbst regeln zu lassen. In weiteren Rollen treten der junge Albert auf, der gemeinsam mit seinen Kumpels den Wasserturm beschmiert hat und von Dan zur Strafe zu gemeinnütziger Arbeit verdonnert wird, und Chiang, eine Austauschschülerin aus Taiwan, die noch nicht ahnt, dass eine Gast-Familie von Hühnerfarmern für sie nicht nur Nachteile mit sich bringt. Andere Handlungsfäden befassen sich mit Suchtproblemen, Strukturproblemen in ländlichen Regionen und dem politischen Hintergrund bei Sheriff-Wahlen. Dass Dan logischerweise als Demokrat für Schul-Unterricht über Evolution sein muss, weil seine republikanischen Konkurrenten ihn ablehnen, erfährt man nebenbei auch noch.
Fazit
Der Einstieg in den ersten Teil der Grouse-County-Trilogie ist nicht einfach. Ich fühlte mich anfangs wie in einem gigantischen Wimmel-Bilderbuch auf der Suche nach einer Hauptfigur und dem zentralen Thema des Buches. Insgesamt sollen in „Das Ende des Vandalismus“ fast 70 Figuren auftreten. Tom Drury erzählt fast schon bizarr beiläufig von alltägliche Ereignissen aus einem dörflichen Mikrokosmos, die für die Beteiligten jedoch alles andere als banal sind. Man folgt seinen Figuren zum Zähneputzen, sieht einen Waschbären die Straße kreuzen, fühlt aber auch in existenziellen Krisen wie einer glücklosen Schwangerschaft mit.
Traumjäger
Traumjäger fand ich dagegen als Einstieg in die Trilogie sehr viel entgegenkommender und habe mich auch nach Jahren noch gern an Tiny Darling, seine zweite Frau Joan, den gemeinsamen Sohn Mica und Joans Tochter Lyris erinnert. Die Handlung spielt circa im Jahr 2000 und kreist zum einen darum, dass Lyris als Baby zur Adoption freigegeben und später von unzuverlässigen Adoptiveltern zurückgeholt wurde, aber auch um die Glücksvorstellungen der anderen Beteiligten. Verständlich, dass für die 16-jährige Lyris die Frage noch lange nicht befriedigend beantwortet ist, warum ihre Mutter sie als Baby weggegeben hat. Tiny will eine Waffe zurückkaufen, die seinem Stiefvater gehört hatte. Doch zunächst muss er sich mit der Vorgeschichte auseinandersetzen, wie das antike Gewehr damals ins Pfarrhaus geraten ist. Dabei werden Erinnerungen an gemeinsame Jagdausflüge mit dem Stiefvater geweckt.
Fazit
Auch wenn man den Eindruck erhalten könnte, der Erzähler käme hier vom Hundertsten ins Tausendste, fand ich die Kleinfamiliensituation verbunden mit der Waffe als Familienschatz leicht nachvollziehbar. Tom Drury zaubert hier aus einer Patchwork-Familie, einem Gewehr und einem Mann mit Metalldetektor eine beinahe familiäre Welt, die mich stark an Gesprächsverläufe auf Familienfeiern erinnerte. Nebenbei nimmt er die Absurditäten des US-amerikanischen Alltags aufs Korn, indem er z. B. eine Figur feststellen lässt „Wir brauchen eine Pistole zu unserem Schutz, weil uns eine Amaryllis von der Veranda gestohlen wurde.“ So wie sich das Motiv des ausgesetzten Kindes hier wiederholt, begibt sich Joan (ähnlich wie Louise im ersten Band) auf einen Selbstfindungs-Trip und verlässt dazu die Familie. Die Botschaft, dass Frauen ausbrechen und neue Wege suchen, während Männer die Krise ihrer Region und ihres Staates bisher erleiden, tupft Drury hier unauffällig ins Bild. Für ein 2000 erschienenes Buch finde ich die Szenen erstaunlich prophetisch. Wer Sinn für Tom Drurys Beiläufigkeit und seine Art von bissigem Humor hat, sollte es einmal mit seiner Erzählkunst versuchen.
Pazifik
In Pazifik treffen wir wieder die Familie Darling. Micah ist inzwischen 14, Lyris bereits erwachsen und lebt in einer festen Partnerschaft. Offenbar ist Joan nicht zur Familie zurückgekehrt und hat eine Karriere als Schauspielerin in einer Fernsehserie eingeschlagen. Sheriff Dan hat für eine 6. Amtsperiode als Sheriff nicht mehr kandidiert und arbeitet als Privatdetektiv. Er erhält den Auftrag, einen zukünftigen Schwiegersohn zu durchleuchten und gerät dabei in einen Kriminalfall, der vermutlich alles in den Schatten stellt, was er in seiner Sheriff-Laufbahn bisher erlebt hat. Erst Micah kommt in der Welt der IT-Technik an und muss sich einem Konfliktgespräch mit seinem Direktor stellen.
Fazit zur Gesamtausgabe
Die drei Bände folgen einander in chronologischer Reihenfolge; die Wege der Figuren kreuzen sich mehrfach in deren Leben. Traumjäger hat bei mir erfolgreich seinen Platz als Lieblingsband verteidigt; den ersten Band fand ich aufgrund der vielen Personen eher ungünstig als Einstieg. Ob man sich auf eine Trilogie mit fast 70 Personen einlassen möchte, ist sicher tagesformabhängig. Eine Begegnung mit Tom Drury als Erzähler lohnt sich.
8 von 10 Punkten