John von Düffel: Klassenbuch

  • John von Düffel: Klassenbuch
    DuMont Buchverlag 2017. 318 Seiten
    ISBN-13: 978-3832198343. 22€


    Verlagstext
    Was macht die digitale Welt mit unseren Köpfen?
    Neun Jugendliche an der Grenze zwischen Realität und Virtualität, Beschleunigung und Verlangsamung: Erik, Stanko, Emily, Bea, Lenny, Annika, Nina, Li und Henk taumeln und rasen in Richtung Erwachsensein. Sie sind Hochbegabte und Schwänzer, Suizidgefährdete und Magersüchtige, Aktivisten und Computernerds, Selbstdarsteller und Unsichtbare, deren Wirklichkeit mit den digitalen Möglichkeiten verschwimmt. Neun Gefangene ihrer eigenen Welten, für die es nur wenige Momente von Freundschaft und Wahrhaftigkeit zu geben scheint. - Was als Kranz isolierter Perspektiven beginnt, verwandelt sich zu einem fein verästelten Gesamtgebilde, in dem alles auf überraschende Weise miteinander interagiert und sich allmählich zu einem gemeinsamen Schicksal verdichtet: zu einer Reise an die Ränder der digitalen Welt, aus der kein Klick zurückführt.


    Der Autor
    John von Düffel wurde 1966 in Göttingen geboren, er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste.


    Inhalt
    In Frau Höppners Deutschunterricht trifft das reale Leben in Form eines Grillenzirpens auf „Die Grille und die Ameise“ als Aufsatzthema. Erik reagiert beschwingt auf das sommerliche Aufsatzthema, passt dessen Leichtigkeit doch perfekt zu seinem Selbstbild als Frauenversteher. Erik wirkt wie der klassische Held eines Coming-of-Age-Romans, der noch nicht weiß, ob er sich im richtigen Körper befindet und was überhaupt von ihm erwartet wird. Von neun Schülern einer elften Klasse berichtet John von Düffel; über Stanko, dessen Eltern vor dem Jugoslawienkrieg flüchteten, Emily, der eloquenten Jahrgangssprecherin im Kampf gegen das Schul-Catering-Unternehmen, Beatrice, der eine Essstörung unterstellt wird, und Annika, die bisher verbergen konnte, dass sich zuhause niemand um sie und ihren Bruder kümmert. Nachdem alle Figuren aufgetreten sind, scheint es, als würde es im Buch mehr Identitäten als Personen geben. Lenny (Lennart) jongliert in seiner eigenen Gamer-Welt mit verschiedenen Leben und schreibt sein persönliches Skript ins Handy – bei ihm wunderte es nicht, wenn auch sein Avatar mit am Esstisch sitzen würde. Wenn im Internet virtuelle Identitäten geschaffen, Profile gestohlen, umgearbeitet und von anderen benutzt werden können, muss die Zahl der Identitäten vermutlich offen bleiben und evtl. auch, wer real und wer virtuell erzeugt ist. Alle Schüler haben offenbar ein besonders inniges Verhältnis zu Frau Höppner. Eine Weile habe ich angenommen, dass es sich um eine Förderklasse besonders problematischer Jugendlicher handeln könnte. Meine Vermutung, warum Frau Höppner mitten im Schuljahr überraschend von einem anderen Lehrer abgelöst wird, musste ich mehrmals neu ein-norden. Bis dahin ging es u. a. um Perspektivwechsel, den Frau Höppner offensichtlich besser beherrschte als der neue Lehrer Herr Tretner. Von ihr kann ich mir jedenfalls vorstellen, dass sie akzeptiert, wie ein Gamer Aufsätze schreibt oder ein begabter Comic-Zeichner wie Stanko. Der arme Herr Tretner muss einem geradezu leidtun, weil er nur eine Form von Realität wahrnehmen kann. In Eriks Klasse gibt es jedoch eigene, fremde, gemeinsame, virtuelle und gestohlene Formen von Realität – mindestens. Die einzelnen Stories verselbstständigen sich, beginnen ein Eigenleben zu führen. Nicht alle Schüler kann John von Düffel seinen Lesern gleichwertig nahebringen.


    Fazit
    Durch die Multiperspektivität in Kombination mit virtuellen Identitäten wirkt der Plot angesichts seiner jugendlichen Figuren künstlich verkompliziert, als hätte John von Düffel ein Tarnnetz über die Handlung gebreitet. Vertraute Probleme junger Erwachsener häufen sich hier zu extremen Extremen auf. Wer sich für Identitäten und Identitätsklau in der virtuellen Welt interessiert und sich nicht daran stört, zwischen den 9 + x Identitäten ab und zu den Faden zu verlieren, liegt hier richtig.


    7 von 10 Punkten

  • Moderne Zeiten machen auch vor Schulklassen nicht halt. Und ich bin wirklich froh, dass ich in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts zur Schule gegangen bin. Was für eine Tristesse, was für ein Jammer, wenn man sich die Auswirkungen der virtuellen Welt auf die reale anschaut. Gibt es überhaupt noch einen Unterschied oder herrscht bereits die Dualität von realer- und virtueller Welt?


    Sei’s drum, wir müssen die Auswirkungen identifizieren, um die vielen negativen Seiten unserer schönen neuen Welt in positive umzuwandeln. Falls das überhaupt noch möglich ist.


    Das Ende entschädigt dafür, dass man lange nicht weiß, wohin die Geschichte treibt. Eins hätte der Autor vielleicht besser machen können: Obwohl das Buch sprachlich ein Meisterwerk ist, hätte er die Tonalität der Jugendlichen etwas stärker rüberbringen können. Manchmal dachte ich: Ein Jugendlicher mag zwar so denken, aber er würde es wohl anders ausdrücken.


    Schwamm drüber: Insgesamt ein gutes Buch, das mich nicht nur gut unterhalten, sondern auch zum Denken angeregt hat. Und mehr Buch braucht kein Mensch!