Simone Dorra: Das Haus des Friedens: Band 1 der Kashmir-Saga, Hamburg 2017, tredition, ISBN 978-3-7345-9718-3, Softcover, 295 Seiten, Format 17 x 1,6 x 24,4 cm, Buch: EUR 14,99, Kindle Edition: EUR 3,99.
„Du hast in Rwanda gearbeitet, im Sudan, in Indonesien und in Ex-Jugoslawien. (...) Du bist immer wieder zurückgekommen, hast dich geerdet und an anderer Stelle mit frischer Kraft wieder angefangen. Aber bei diesem Einsatz ... was genau ist da bloß mit dir passiert?“ (...)
„Das Land ist mir passiert. Ich habe all meine Schutzmechanismen eingebüßt. (...) Und irgendwann habe ich meine Distanz vollständig verloren.“ (Seite 194)
Sameera Sullivan, 46, Tochter eines irischen Vaters und einer nordindischen Mutter, arbeitet seit 15 Jahren als Trauma-Therapeutin für eine internationale Hilfsorganisation. Ihren Eltern wäre es lieber gewesen, sie hätte sich mit einer Praxis in Dublin niedergelassen, aber Sameera ist ein ruheloser Geist und zieht das spannende Nomadenleben einer biederen Sesshaftigkeit vor. Für Mann und Kinder war in ihrem aufregenden Leben nie Platz, und Sameera hat das Familienleben auch nicht vermisst. Ihren Patienten gegenüber hat sie stets professionelle Distanz gewahrt und sie hat sich nirgendwo auf der Welt in politische Auseinandersetzungen hineinziehen lassen.
Sameera verliert ihre professionelle Distanz
Ihr neuer Einsatz führt sie nach Kashmir, und auf einmal ist alles anders. Sie verliebt sich in das Land und in den indischen Ex-Soldaten/Agenten Vikram Sandeep, 52, der vor zwei Jahren seinen Dienst quittiert hat und seitdem in der Nähe von Srinagar ein Waisenhaus leitet. Was den Hindu, der einmal ein wirklich harter Brocken war, zu diesem Sinneswandel bewogen hat, wissen nur seine drei engsten Vertrauten: der muslimische Politiker Tarek Kamaal, der für ihn so eine Art Ziehsohn ist, dessen Verlobte, die Ex-Terroristin Najiha Khan, und Colonel Nanda Singh vom Geheimdienst.
Dass ein traumatisches Erlebnis der Auslöser für Vikrams drastischen Kurswechsel gewesen sein muss, ist Sameera Sullivan bald klar. Sie sieht ihn ja recht häufig, weil sie in ihrer Freizeit oft im Waisenhaus aushilft, auch wenn ihre Chefin den intensiven persönlichen Kontakt zu den Einheimischen missbilligt. Neutral sollen die Mitarbeiter der Hilfsorganisation sein, aber das ist Sameera längst nicht mehr.
Es dauert eine Weile, bis Vikram sich der Therapeutin öffnet und noch länger, bis er sich eingesteht, dass er sich in die resolute Eurasierin verliebt hat. Alle anderen haben da schon lange kapiert, dass es den zähen alten Haudegen ganz fürchterlich erwischt hat und dass es Sameera genauso ergeht. Sie wäre bereit, alle Brücken hinter sich abzubrechen und bei ihm in Kashmir zu bleiben, aber er sträubt sich gegen diese Vorstellung. Zu seinen Geheimdienstzeiten hat er sich ein paar mächtige Feinde gemacht, denen es ein Vergnügen wäre, ihm das Liebste nehmen, das er hat. Dieser Gefahr will er sich nicht aussetzen. Lieber verzichtet er auf sein Glück.
Der Ex-Agent hat nichts verlernt
Doch seine Gegner haben ihre Augen und Ohren überall. Auch, wenn Vikram sich unnahbar gibt, merken sie, dass Sameera ihm und seinen Freunden Tarek und Najiha sehr wichtig ist. Auf einmal ist die Therapeutin verschwunden. Man hat sie in einen Hinterhalt gelockt und entführt. Doch Vikram Sandeep hat in den zwei Jahren, die er aus dem Geheimdienst-Business raus ist, nichts verlernt. Auch seine alten Kontakte bestehen noch. Um seine geliebte Sameera zu retten, würde er buchstäblich alles tun. Seine Feinde sollten ihn besser nicht unterschätzen ...
Das ist nur einer der Handlungsstränge. Es geht um viel mehr: um die politische Lage in Kashmir ... um die Ziele, die die unterschiedlichen politischen Strömungen verfolgen ... um den aufstrebenden Politiker Tarek Kamaal und dessen schwierige Beziehung zu Najiha Khan ... und um Sameeras Arbeit als Trauma-Therapeutin. Dass sie den Mann einer Patientin nicht retten konnte, wirft sie fast aus der Bahn. Und was der Waisenjunge Moussa Entsetzliches erlebt hat, müsste er ihr erst einmal erzählen, damit sie ihm helfen kann. Doch Moussa bleibt stumm.
Zusammen mit Sameera entdeckt der Leser die Region Kashmir, und man kann nicht anders, als von der Situation der Menschen dort berührt zu sein. „Sie dürfen nicht gewinnen“, sagt Najiha Khan einmal, „all diese Schacherer und Taktierer, die Kashmir unter sich aufteilen wie die Beute nach einem dreisten Überfall.“ (Seite 252). Und man gibt ihr Recht.
Liebe, Politik und Abenteuer
Es ist ein Abenteuerroman vor einem politischen Hintergrund und eine Liebesgeschichte – oder, besser gesagt, mehrere. Die Partner sind vom Leben schon ordentlich desillusioniert und zerzaust. Manche trauen sich gar nicht, sich auf eine Liebesbeziehung einzulassen aus Angst vor einer ungewissen Zukunft voller Gefahren.
Die Helden sind auch nicht durchweg „gut“. Für Vikram und seine Freunde heiligt der Zweck durchaus die Mittel. Sie sind, genau wie ihre Feinde, in der Wahl ihrer Methoden nicht zimperlich. Weil man als Leser aber das Gefühl hat, dass sie auf der richtigen Seite stehen, ist man geneigt, ihnen vieles nachzusehen.
Ich habe nichts gegen moralisch flexible Helden (wie könnte ich sonst seit mehr als 30 Jahren ein Fan von F. Paul Wilsons REPAIRMAN JACK-Reihe sein?), und der erbarmungslose Ex-Agent Vikram Sandeep hat was! Sameera Sullivan passt zu ihm: klug und mitfühlend, mutig und bis zur Sturheit zielstrebig. Das muss sie hier aber auch sein, denn sonst kriegt sie nie, was sie will.
Sonst stehe ich ja nicht so auf Liebesgeschichten, aber die zwischen Vikram und Sameera ist wirklich herrlich. „Herrgott nochmal“, möchte man manchmal rufen, „das Leben ist kurz, jetzt stellt euch nicht so an! Allen gebt ihr kluge Ratschläge, nur euren eigenen Kram kriegt ihr nicht geregelt!“ Aber man versteht ihre Beweggründe. Und dass diese Lovestory so voller Hindernisse ist, trägt ja auch zur Spannung bei.
Zwei Autorinnen, eine Buchreihe
DAS HAUS DES FRIEDENS ist der erste Teil einer siebenteiligen Saga. Der Startband dürfte schwer zu toppen sein. Ungewöhnlich ist die Entstehungsgeschichte der Reihe: Auf der Seite www.kashmirsaga.de erzählen die Autorinnen: „Die Vorgeschichten für diese Saga sind zunächst völlig unabhängig voneinander entstanden: auf der einen Seite Ingrid Zellners Erzählungen von Raja Sharma im indischen Maharashtra (...), auf der anderen Seite die Geschichte über Vikram Sandeep und sein Waisenhaus in Srinagar/Kashmir (...) von Simone Dorra. Wir haben unsere Geschichten wechselseitig gelesen, mochten sie sehr … und plötzlich war da die Idee, die beiden Protagonisten Vikram und Raja einander mal begegnen zu lassen.“
Herausgekommen ist „die Geschichte zweier in Freundschaft eng verbundener Familien in Indien und Kashmir. Sie erstreckt sich über vier Jahrzehnte und berichtet von großen Gefühlen, von spannenden Abenteuern, von Terror und Liebe in einem durch anhaltende Konflikte geschundenen Land.“ (kashmirsaga.de)
Den vorliegenden ersten Band DAS HAUS DES FRIEDENS hat allein Simone Dorra verfasst, Band 2, DER WEG AUS DER FINSTERNIS, der im Herbst 2017 erscheint, stammt dann von Ingrid Zellner. Die Bände 3 bis 7 schreiben beide Autorinnen gemeinsam. Diese Art der Zusammenarbeit, bei der zwei eigenständige Romane in eine gemeinsame Reihe münden, habe ich auch noch nicht erlebt. Es gibt zwar autorenübergreifende Crossover-Projekte, doch die gehen meist nicht über Kurzauftritte fremder Serienfiguren hinaus.
Band 1 fand ich ausgesprochen spannend, berührend und informativ und ich werde den Fortgang der Serie auf jeden Fall weiter verfolgen. Auch meine Faszination für Kashmir ist Jahrzehnte alt. Bei mir war allerdings nicht, wie bei Simone Dorra, M. M. Kayes PALAST DER WINDE der Auslöser, sondern das RAJ-QUARTETT, eine vierbändige Buchreihe von Paul Scott.
Das Glossar – eine Fundgrube für Sprachfreaks
Ein ausführliches Glossar erklärt die im Roman vorkommenden Abkürzungen sowie die verwendeten fremdsprachlichen Begriffe (Englisch, Hindi, Arabisch). Eine Fundgrube für Sprachfreaks! Plötzlich ertappt man sich dabei, zu recherchieren, ob „kameez“ etwas mit dem französischen Begriff „chemise“ (Hemd) zu tun hat (ja!) und stellt erstaunt fest, dass sich das jiddische und das arabische Wort für „Hölle“ nur minimal unterscheiden, was einer näheren Betrachtung bedürfte (Stichwort: Ge-Hinnom). Ein „Nebenkriegsschauplatz“ in diesem Buch, klar. Aber ein überaus interessanter!
Die Autorin
Simone Dorra wurde 1963 in Wuppertal geboren, machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und arbeitete mehrere Jahre als kirchliche Radio-Redakteurin für den Privatfunk. Sie ist verheiratet, Mutter von drei erwachsenen Kindern und Autorin von bislang drei Büchern im Silberburg-Verlag Tübingen. Als begeisterter Fan von Indien und Kashmir schrieb sie Das Haus des Friedens als Soloprojekt und setzte es gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Ingrid Zellner zu einer Serie in insgesamt sieben Bänden fort, die in den Jahren 2017 bis 2022 erscheinen werden. http://www.simonedorra.de