Titus Müller eröffnete gewohnt gut gelaunt die Veranstaltung, diesmal im im Ägyptischen Museum. Seine Geschichte würde zwar nicht vor tausenden von Jahren spielen, jedoch ginge es auch in „Der Tag X“ um umwälzende historische Ereignisse, die wir und unsere Eltern nicht miterlebten. Die Eröffnungszene 1946 am Bahnhof in Ost-berlin beruhe auf tatsächlichen Ereignissen.
Er las den Prolog, in dem nachts eine Familie plötzlich auseinander gerissen wird und das Mädchen Nelly deshalb seinen Vater ins ferne Russland verliert. Ihre Mutter entscheidet sich, mit der Tochter in der DDR zu bleiben.
Es seien damals komplette Familien nachts abgeholt und nach Russland verschickt worden. Dann springe die Geschichte ins Jahr 1953, die weibliche Hauptfigur Nelly steht kurz vor dem Abitur und lernt den etwas älteren Wolf kennen, einen Uhrmacher. Titus‘ Faszination für diesen Beruf wurde deutlich spürbar. Uhrmacher würden Ordnung bringen und nach Gesprächen mit einer Uhrmacherin während der Recherche sei er fest entschlossen, sich eine gute Uhr zu kaufen. Neulich habe er bewusst zwei gute Wecker gekauft.
Er selbst habe die Zeit im Buch nicht miterlebt, könne sich jedoch selbst auch noch daran erinnern, dass Kinder früh dazu erzogen wurden, Anderen zu melden. Die im Buch geschilderten Schulberichte habe es wirklich gegeben. 1953 sei Honecker Leiter der FDJ gewesen und diese habe sich nicht so entwickelt wie gewünscht. Gleichzeitig sei die christliche Junge Gemeinde gewachsen und Honecker habe dann deren Liquidierung befohlen. In der Jungen Gemeinde habe es echte Diskussionen gegeben, unterschiedliche politische Meinungen und er könne gut verstehen, warum Honecker Angst vor dieser Organisation hatte.
Er sei als Pastorensohn glücklich in der DDR aufgewachsen, mit seinen beiden Brüdern – auch ohne Bananen und Kiwis. Natürlich sei auch klar gewesen, dass er nie Abitur machen würde, weil er nicht den richtigen Jugendorganisationen war. Aber er habe das von Anfang an gewusst, die Figuren in seinem Roman seien von diesem Schicksal plötzlich überrascht worden. 1953 hätten circa 3000 junge Menschen diese Möglichkeit verloren.
In seinen Romanen sei es ihm wichtig, dass keine Figur ganz gut oder böse sei. So sei niemand, auch wenn der Vater von Wolf in der gelesenen Szene so wirke.
Es folgte eine weitere Lesung, in der die Verhältnisse im Kreml dargestellt wurden, als Stalin im Sterben lag. Ein gruseliges Pokerspiel um die Macht, sehr lebendig geschildert.
Die Sterbeszene von Stalin sei seinen Quellen nach wirklich so verlaufen, heute könne man sich kaum vorstellen, wie wichtig dieser einen Mann damals war, welchen Einfluss er hatte.
Ein wichtiges Element ist Spionage, wie Spione vorgingen und was unternommen wurde, um sie enttarnen, perfide ausgeklügelte Methoden sie zu eliminieren. Auch hier legte Titus Müller großen Wert auf authentische Darstellung und erzählte leidenschaftlich von einigen Entdeckungen bei seiner Recherche.
In der DDR habe es bis 1958 noch Lebensmittelmarken gegeben, während sie im Westen bereits 1948 abgeschafft wurden. Eine der Ursachen war die Flucht von rund 20.000 Landwirten in den Westen, weil sie sich nicht in LPGs zwingen lassen wollten. Eltern seien oft zunächst ohne ihre Kinder gegangen, um diese später nachzuholen. Das Land sei damals leergeblutet, Woche um Woche. Daraufhin sei die Regierung der DDR nach Moskau zitiert worden, um nicht so hart gegen die Bevölkerung vorzugehen. Die Junge Gemeinde sollte nicht solchen Repressalien ausgesetzt werden, Betriebe sollten zurückgegeben werden, wenn die Bauern zurückkehren würden. Zuerst habe sich die Regierung gewehrt, sei jedoch gezwungen worden, sich öffentlich zu ihren Fehlern zu bekennen.
Dieses öffentliche Eingeständnis habe den Kritikern Aufwind gegeben und es sei zu Demonstrationen gekommen. In Leipzig hätten am 17. Juni 1953 rund 40.000 Menschen demonstriert. Der Bürgermeister wollte sie aufhalten und wurde von den Demonstranten gezwungen, ihnen mit einem Schild „Freie Wahlen“ voranzugehen. Nur wenige Stunden hätten das Leben vieler Bürger in der DDR drastisch verändert.
Die Recherche sei für ihn jedes Mal wie eine Schatzsuche. So zum Beispiel die Entdeckung, dass in Halle eine Reinemachfrau die Erste war, die sich traute, öffentlich etwas gegen die Regierung zu sagen und somit die Aufstände dort auslöste. An einem Buch arbeite er im Durchschnitt 1,5 Jahre, inklusive Recherche und der gesamten Nacharbeit.
Abschließend bedankte sich Titus Müller beim Publikum (in dem vier Eulen saßen) und dem Ägyptischen Museum.