Die ausverkaufte Veranstaltung wurde von Benno Henning von Lange eröffnet, der gleich zu Beginn klarstellte, dass der Titel „Ein wenig Leben“ seiner Meinung nach eine grandiose Untertreibung sei. Das ganze Leben könne man in diesem fesselnden Buch finden.
In Hanya Yanagiharas Bestseller gehe es um das Leben von vier Männern, in deren Mittelpunkt Jude stehe. Die Leser lernten Judes großes und kleines Leben kennen, seine Ausweglosigkeit. All dies im Rahmen einer oft verstörenden Geschichte, in der Politik noch nicht mal ein Hintergrundrauschen sei und doch sei der Roman hochpolitisch.
Moderator war Alf Mentzer von HR2 Kultur, herausragender Sprecher der deutschen Passagen der Schauspieler Max Mayer.
Gleich zu Beginn wurde nach dem Foto auf dem Titelbild gefragt. Die Aufnahme stammt von Peter Hujar und trägt den Titel „Orgasmic Man“. *Link zu größerer Aufnahme des Titelbilds* Man habe das Gefühl jemandem in einem unglaublich persönlichen Moment anzuschauen, wobei nicht klar sei, ob es Freude oder Schmerz ausdrücke. Hanya Yanagihara hält das für die perfekte Visualisierung der Geschichte.
Die Leser befänden sich in der prekären Situation, Zeuge einer sehr intimen Situation zu werden. Es gebe ihr das Gefühl, Jude sei nie allein, weil er immer die Leser habe. Es sei ihr wichtig gewesen, dass die Geschichte sich langsam entfalte und zum Glück bestand das Lektorat trotz knapp 1000 Seiten nicht auf umfangreichen Kürzungen.
Mit einem Lächeln merkte sie an, dass solch dicke Bücher sich in der Regel in Deutschland am besten verkaufen würden. Deutschland sei für sie DAS Land der Literatur und deutsche Leser etwas ganz Besonders, weil sie sich ernsthaft mit Literatur auseinandersetzen würden. Ihre rund 1,5-wöchige Lesereise habe sie deshalb besonders genossen.
Ein weiterer Kritikpunkt sei die Brutalität, doch sie habe keine Möglichkeit gesehen, das zu ändern. Unser Leben sei manchmal brutal, auf der anderen Seite sei es nie einfacher als heute gewesen, Zeuge von Gewalt zu werden und auch wegzuschauen, egal ob der Computer oder der Fernseher ausgeschaltet werde. Bei einem Buch werde man mehr hineingezogen, wegschauen sei nicht mehr so einfach. Ihrer Meinung nach können die Leser viel aushalten, solange es logisch präsentiert werde und es war ihr wichtig zu zeigen, wie es ist, ein solch brutales Leben zu führen.
Beim Schreiben gehe es ihr um die Figuren und deren Authentizität, nicht um die Reaktionen der Leser. Wenn ein Autor auf bestimmte Reaktionen spekuliere, würde die Leser das spüren und sich manipuliert fühlen. Jeder Leser sei anders, sie habe keine konkreten Erwartungen an ihre Leser.
Der gesellschaftliche Aufstieg der vier Studienfreunde werden von dunklen Ereignissen aus Judes Vergangenheit überschattet. Jude sollte eine Figur werden, deren Leben nicht besser werde. Die anderen Figuren seien beim Schreiben von selbst entstanden, manche seien fertig aus dem Schaffen herausgetreten.
Die Konstruktion des Buchs sei gewollt künstlich. Düsternis und Gewalt wie in alten Märchen, Frauen werden nur am Rande erwähnt. Es geht um Freundschaft zwischen Männern und darum, wie Männer bestimmte Gefühle ausdrücken – oder eben nicht, wie z.B. Angst, Scham und Trauer. Natürlich hätten unterschiedliche Figuren genauso unterschiedliche Arten, Gefühle auszudrücken, aber Männern stünden oft kaum Möglichkeiten zur Verfügung, während Frauen diese in der Regel frei zeigen könnten. Würden statt Männern hier Frauen im Mittelpunkt stehen, wäre das Buch vermutlich nur halb so lang geworden.
Zu Beginn des Buchs wollte sie zeigen, wie sich das Leben mit Anfang 20 anfühlt, wenn die Zeit langsam vergeht während man studiert. Als die Figuren 40-50 sind werde das Erzähltempo streckenweise deutlich schneller, so wie es sich für viele Menschen in jener Lebensphase anfühle. Sie verglich es mit den unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten in einer Lavalampe.
Schauplatz sei New York und das sei wichtig, auch wenn die Handlung fast komplett drinnen stattfinde und sehr selten an bekannten Plätzen draußen – was eine gewisse Entwurzelung vermitteln solle. New York sei ganz besonders gut darin, Erfolge zu verherrlichen und vermittele ständig das Gefühl im Wettbewerb zu stehen, dort pulsiere eine besondere Energie. Man werde mehr als andernorts daran gemessen, was man erreicht habe und gerade tue, das Umfeld verleihe einen bestimmten Status.
Eigentlich passe Jude nicht in dieses New York das so viel Wert auf Selbstverwirklichung legt. Er sei zwar sehr ehrgeizig, benötige jedoch auch Hilfe auf seinem Weg. Ganz bewusst habe sie Jude nach und nach alles weggenommen, wie in einem literarischen Sozialexperiment. Es gehe darum, was ein Kind brauche, um ein gewisses Gefühl von innerer Sicherheit und Selbstbeherrschung zu erlernen und was für Konsequenzen es habe, wenn ein Kind nie das Gefühl hatte, den Anspruch auf irgendetwas zu haben, vor allem Liebe und Fürsorge. Judes Kindheit bot nichts davon und bestimmte Dinge könne er auch Erwachsener nicht mehr lernen, wie z.B. wo sein Platz in der Welt sei oder seinem Ärger auf nicht destruktive Weise Luft zu machen. Seine Unsicherheit werde von Menschen ausgenutzt, die solche Schwächen riechen könnten.
Auch ohne ausführliche Recherche sei für sie völlig logisch gewesen, dass Jude stets die Schuld bei sich selbst suchen würde, den Ärger nach innen richten. So habe er wenigstens ein gewisses Gefühl der Kontrolle über sein eigenes Leben, wie z.B. auch durch Ritzen. Wenn man einem Kind stets eintrichtere, es habe Pech gehabt, fühle es sich irgendwann dem Schicksal komplett ausgesetzt. Egal wie desaströs die Konsequenzen aus Judes Handeln seien, er müsse das Gefühl haben, diese selbst verursacht zu haben. Obwohl Jude wundervolle Freunde habe, ihrem Lektorat nach fast zu gut, schaffe er es nicht, aus den in der Jugend eingeschliffenen Verhaltensmuster auszubrechen.
Obwohl die Veranstaltung vom US-Generalkonsulat in Frankfurt unterstützt wurde, konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen, dass die aktuelle politische Situation in den USA vielleicht eine andere wäre, wenn es dort auch Literaturhäuser gäbe. Am Ende der gut 1,5 Stunden bedankte sie sich nochmal beim Publikum.