Andrea Wulf, Autorin von „Alexander Humboldt und die Erfindung der Natur“,
Neil MacGregor, lange Leiter des Britischen Museums, heute Intendant des Humboldtforums in Berlin und
Thomas Bille vom MDR versprachen einen kurzweiligen Abend. Dementsprechend (über)voll war der Saal im Grassi in Leipzig.
Alexander von Humboldt sei bis 1914 weltweit verehrt worden als engagierter Naturwissenschaftler, heute sei er in der englischsprachigen Welt fast vollständig in Vergessenheit geraten. Durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts sei es zu einem fast völligen Verlust des Wissens um deutsche Kultur gekommen. Andrea Wulf und das Humboldtforum möchten das ändern, denn nicht nur ihrer Meinung nach ist Humboldts Werk gerade heute von großer Bedeutung. Humboldt sei ein Denkmal für Deutschland, für die ganze Welt jedoch derzeit auch ein Mahnmal. Neil MacGregor empfahl das von Andrea Wulf verfasste Buch als Pflichtlektüre.
Niemandes Name sei so häufig mit Naturphänomenen verbunden, Berge, Seen, Flüsse, Pflanzen usw. würden seinen Namen tragen. Sogar das Bild eines Tankers mit seinem Namen wurde gezeigt. Neil MacGregor empfand dies als besonders passend, denn Alexander von Humboldt habe die Erde vernetzt durch seine Erkenntnis, dass die Natur nur als Ganzes verstanden werden kann. Humboldt inspirierte Darwin, war eng mit Goethe befreundet. Aus Goethes Tagebüchern sei ersichtlich, dass er meist nach Begegnungen mit Humboldt am Urfaust schrieb.
Andrea Wulf vertrat die Ansicht, Humboldt habe unser heutiges Denken über die Natur erfunden, die Idee eines einzigen zusammenhängenden Ökosystems, in dem die Erde als lebender Organismus dargestellt wird. Er habe Künste und Wissenschaft vereint, nutzte Zeichnung auf eine neuartige Weise, um darzustellen, wo welche Pflanzen auf von ihm erforschten Bergen wuchsen und so komplexes Wissens auf eine leicht verständliche Weise dargestellt. (Chimborazo 1, Chimborazo 2, Chimborazo 3) Seine Systematik zeige die umfassende Verbundenheit der Welt und auch gleichzeitig ihre Verwundbarkeit. Für Andrea Wulf war einer der Höhepunkte ihrer Recherchereisen selbst auf dem Chimborazo zu stehen.
Als einer der ersten warnte Humboldt vor Monokulturen und Ausbeutung von Natur und Menschen. Vor bisher kaum bekannten Wechselwirkungen, die zu von Menschen verursachten Klimaveränderungen führen würden.
Er habe eine schreckliche Handschrift gehabt, sei oft aus dem Privatunterricht weggelaufen, um durch den Wald zu stromern. Mit vollen Taschen sei er zurückgekommen und war deshalb als kleiner Apotheker bekannt. Die Reiseberichte von Cook habe er geliebt und sich dagegen gewehrt wie von seiner Mutter gewünscht, preußischer Beamter zu werden. Einerseits sei für ihn von klein auf die Natur voller Wunder gewesen, die man mit Gefühlen erfassen solle, andererseits sei er davon besessen gewesen, alles zu vermessen. Humboldt sei sowohl Abenteurer als auch Wissenschaftler gewesen, jedoch nie im Elfenbeinturm. Erfüllt von einer lebenslangen Rastlosigkeit musste er draußen in der Natur sein.
Nach seiner Rückkehr von seiner fünfjährigen Reise sei er 1804 erst in Paris dann in Berlin gewesen, wo er stets schnell zum Mittelpunkt der Wissenschaft wurde. Er hielt kostenlose Vorträge, zu denen jeder kommen durfte und habe so die Wissenschaft demokratisiert. Rund die Hälfte der Zuhörer seien Frauen gewesen und er habe seine Zuhörer mit auf unglaubliche Reisen genommen. In eine Natur, die voller Wunder und Leben war. Während andere Wissenschaftler sich immer mehr spezialisierten, dachte Humboldt in alle Richtungen und konnte immer wieder wie ein Kind über den Zauber der Natur staunen. Andrea Wulf verglich es mit der Reaktion vieler Menschen auf die die ersten Aufnahmen der Erde aus dem All.
Während in den Kirchen gelehrt wurde, der Mensch solle sich die Welt untertan machen, tauche bei Humboldt die Frage nach Gott nie auf und er habe den Menschen als Teil der Natur verstanden, nicht als Herrscher. Wenn man Humboldt zuhöre, verbiete sich Rassismus von selbst, denn für ihn habe alles auf Augenhöhe existiert. Seine offenen Worte gegen Sklaverei und den Kolonialismus hätten dazu geführt, dass er nie in den Himalaya oder nach Indien reisen konnte. Gleichzeitig war er arrogant und herablassend gegenüber anderen. Als Beispiel wurde ein Brief Humboldts an eine Bekannte angeführt, in dem er von seiner aktuellen Reise erzählte und mit den Worten schloss "und Sie meine Gute, wie führen Sie indessen ihr eintöniges Leben fort".
Auf die Frage von Thomas Bille ob sie gerne mit ihm auf Forschungsreise gegangen wären, antworteten beide, eine Dinner Party gerne, eine Reise jedoch nicht. Dazu sei er zu energisch gewesen, habe kaum jemand zu Wort kommen lassen und sei noch mit blutigen Füßen auf Berge gestiegen.
Leider habe Humboldt zwar unser Denken über die Natur nachhaltig beeinflusst, jedoch kaum unser Handeln. Neil MacGregor und Andrea Wulf hoffen, dass es zu öffentlichen Debatten kommt und sich mehr Menschen als Weltbürger begreifen, gemeinsam für die Schutz der Natur engagieren. Andrea Wulf war im Herbst 2016 auf Lesereise in den USA gewesen und habe auf 32 Veranstaltungen nicht einen einzigen Trumpwähler getroffen.
Nach Ansicht von Andrea Wulf und Neil MacGregor schließe sich heute der Kreis, Humboldt sei vor uns auf der Erde gewesen und werde jetzt zu unserem Vorreiter.
Edit: Link zum Humboldtforum eingefügt.