Klaus Böldl: Der Atem der Vögel
Verlag: S. FISCHER 2017. 144 Seiten
ISBN-13: 978-3103972702. 18€
Verlagstext
Seit zwei Jahren lebt Philipp auf den Färöer Inseln nördlich von Schottland. Er, ein Deutscher Mitte dreißig, ist ein Einzelgänger, seine Tage verbringt er mit ausgedehnten Spaziergängen durch die raue Natur. Von seiner Lebensgefährtin Johanna, einer Krankenhausärztin, entfremdet er sich immer mehr, mit ihrer kleinen Tochter Rannvá hingegen verbindet ihn ein stilles Einvernehmen. Als Johanna und Rannvá auf eine Reise gehen, macht sich auch Philipp auf den Weg: Er beginnt eine Wanderung über die Inseln, die ihn immer tiefer in die Natur führt. Wird er erst im Weggehen zu sich kommen? Wird er erst im Verschwinden seinen Ort finden?
Der Autor
Klaus Böldl, geboren 1964 in Passau, debütierte 1997 mit dem Roman „Studie in Kristallbildung“. Seither erschienen die Erzählung „Südlich von Abisko“, das poetische Reisebuch „Die fernen Inseln“, sein Buch über Passau „Drei Flüsse“ und der Roman „Der nächtliche Lehrer“. Für sein literarisches Werk wurde Klaus Böldl mit dem Tukan-Preis, dem Brüder-Grimm-Preis, dem Hermann-Hesse-Literaturpreis sowie dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet. Er lehrt mittelalterliche skandinavische Literatur an der Universität Kiel.
Inhalt
Philipp kam mit einem Werkvertrag des Nationalmuseums auf die Faröer Inseln, um ein Chorgestühl zu restaurieren. Irgendwie blieb er auf Streymoy hängen und lebt nun mit der Ärztin Johanna und ihrer kleinen Tochter zusammen. Zunächst ist unklar, was der Icherzähler auf der Insel genau tut; denn die Hausarbeit übernimmt Johanna. Philipp wirkt fremd dort, ich hatte den Eindruck, dass ich ihm besser nicht trauen sollte. Während Johanna arbeitet, betreut Philipp die kleine Rannvá, ein phantasievolles, genügsames Kind. Rannvá scheint nichts zu benötigen, um sich zu beschäftigen. So wird aus Moosflecken auf Steinen eine Landkarte, über der Mann und Kind sinnieren, wie es anderswo sein könnte. Philipp passt sich Rannvás Interessen an, sie kann in ihrem Tempo die Welt in sich aufnehmen.
Auf der Insel wirkt der Himmel klarer als anderswo. Eine unwirtliche Landschaft hält die Menschen mit Regen und Schneestürmen fest. Man mag kaum glauben, dass Streymoy und die nächste Insel ein Meeresarm trennt, so nah scheint die Nachbarinsel zu sein. Der Himmel wirkt nach jedem Regen wie blank gewaschen. Weil es in seiner beinahe lautlosen Umgebung wenig zu sehen gibt, nimmt Philipp Alltägliches intensiver wahr. In unendlich wirkender Muße öffnen sich hier für Philipp Einblicke in sein früheres Leben. Er scheint immer allein zu sein; ein Mensch, der keine Spuren hinterlässt. Anders wird das nun mit Rannvá, für die Philipps Zuwendung wichtig ist.
Als eine tote Frau im Hafenbecken gefunden wird, entsteht ein Riss in der Idylle, Philipp sieht sich mit der Realität konfrontiert und mit Erinnerungen, die er möglicherweise bisher verdrängt hatte.
Fazit
Klaus Böldl erzählt feinfühlig und präzise von einem Einzelgänger und lässt seine Leser in brillianten Bildern in den hohen Norden reisen.
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Zitat
Wo die Menschen hier auf den Inseln diese Unmengen von Abwesenheit hernehmen, ist mir auch nach zwei Jahren immer noch unbegreiflich. Selbst in der Stadt kann mitten am Tag sich für Momente eine mondhafte Menschenleere ereignen, als hätten Passanten sich alle verabredet, für eine Zeit aus der Welt zu sein. Und an manchen Abenden, wenn Johanna Spätschicht oder Nachtschicht hat und Rannvá drüben in ihrem Zimmer ihren vollkommen undurchdringlichen, von niemals erzählten Gestalten bewohnten Kinderschlaf schläft, kann im Haus eine Verlassenheit aufkommen, als ob ringsumher nicht einige tausend Menschen Tür an Tür wohnten, sondern als ob unser Haus und unser verwahrloster Garten gleich einer winzigen Hallig vom Nordmeer umschlossen würden. (Seite 118)
10 von 10 Punkten