In jedem Augenblick unseres Lebens - Tom Malmquist

  • Klappentext (kopiert von Amazon):
    »In jedem Augenblick unseres Lebens« ist ein tragisch-schönes Buch über ein Jahr, das alles verändert. Eine Geschichte über Verlust, Elternschaft und das Leben, das wir leben, Augenblick für Augenblick. Hier gibt es kein Dann, kein Später, nur Jetzt. Ein Buch wie ein einziger Atemzug.


    Tom und Karin erwarten ihr erstes Kind, als Karin plötzlich schwer erkrankt und ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Das Baby wird per Kaiserschnitt gerettet, während Tom wie in einem Albtraum in den unterirdischen Gängen des Krankenhauses umherirrt. Zwischen Intensivstation und Säuglingsstation, zwischen Leben und Tod. Als er nach Hause zurückkehrt, hat er Karin verloren und ist allein mit einem Neugeborenen. Um sich seiner Trauer zu stellen und seiner Tochter ein Vater zu sein, beginnt er ein Buch zu schreiben.


    Meine Meinung: In Todesnähe gibt es eine besondere Art von Wirklichkeit, die alle Schutzmaßnahmen niederreißt, bis man gezwungen ist, dem Leben ohne Hoffnung auf Verschonung zu begegnen


    „Der Oberarzt tritt den Kipphebel an Karins Patientenbett fest. Mit lauter Stimme informiert er die Krankenschwestern, die Karins Top und Sport-BH aufschneiden: Patientin schwanger, Kind laut Angaben wohlauf, dreiunddreißigste Woche, vor etwa fünf Tagen grippeähnliche Symptome, Fieber, Husten, leichte Atemnot, der Schwangerschaft zugeschrieben, heute akute Verschlechterung, schwere Atemnot, vor einer Stunde hier in der Geburtsklinik erschienen.“ S. 7 Das sind die ersten zwei Sätze des Buches – sie läuten die ersten knapp 100 Seiten ein, die genau das beschreiben, was man aus dem Klappentext erwartet: Karin, bis dahin völlig gesund, werdende Mutter, Lebensgefährtin von Autor Tom Malmquist, liegt plötzlich in lebensbedrohlichem Zustand im Krankenhaus.


    Ich konnte mich auf das Thema einlassen, kenne – zum Glück nur aus kleineren Dramen mit gutem Ende – dieses Gefühl des aus-der-Welt-Fallens in den Fluren eines Krankenhauses und konnte mich darin wiederfinden. Der Autor war bis dahin mit Gedichten in Erscheinung getreten, mit Songtexten, dies ist sein Debüt. Er (be-)schreibt mehr die Fakten als vordergründig über die Emotionen, gerade auch in der ersten Zeit nach dem Tod seiner Frau, zurückgelassen mit der neugeborenen Tochter. Die Trauer merkt man mehr in den Neben-Informationen, den fortgesetzten Gesprächen mit der Psychiaterin, den Reaktionen von Freunden und Familie, dem Schlafmittelbedarf – alles wenig verwunderlich. Er funktioniert.


    Man muss sich an den Schreibstil des Buches, das nach meiner Meinung eher Biographie denn Roman ist, gewöhnen, an stream-of-consciousness-Manier ohne gekennzeichnete wörtliche Rede und häufig ohne klar benannte Sprecher. „Wie alt ist eigentlich Karins Bruder?, fragt Alex. Vor etwa einem Monat haben wir seinen Vierzigsten gefeiert, wieso?, will ich wissen. Ich war ihm noch nicht begegnet, und was machen Karins Eltern, fragt Alex. Du meinst, was sie arbeiten?, frage ich.“ S. 89 Der Text würde dann auch glatt als Dialoganweisung für ein Fernsehspiel taugen. Der Effekt war dann auf mich auch tatsächlich der, ganz unmittelbar am Geschehen dran zu sein, nicht einmal von bestimmten Sprachnormen gefiltert. Dazu gibt es auch häufige zeitliche Rücksprünge auf frühere Zeiten, so, wie es gerade in die Erinnerung hineinfällt.


    Ich habe den Roman zügig und mit einer gewissen Sympathie gelesen, mag gelegentlich gerne Biographien über interessante historische Persönlichkeiten. Ich kann nachvollziehen, dass man bei einem Schicksalsschlag, besonders bei Trauer, das Bedürfnis verspürt, darüber zu reden, vielleicht Tagebuch zu schreiben – ein Buch daraus zu machen, ist für mich dennoch immer grenzwertig zu „Betroffenheitsliteratur“. In diesem Dilemma bin ich auch hier.


    Ein tolles Buch, das Malmquist seiner Tochter geben kann darüber, wie ihre Mutter war, wie ihre Eltern einander kennengelernt haben, wie die erste Zeit ohne ihre Mutter war, die sie nie kennenlernen durfte, wohl aber die Trauer des Vaters; vielleicht auch ein tolles Buch für die Familie, Freunde, für sich selbst.
    Kann Malmquist eindringlich schreiben: ich finde, ja.
    Ein tolles Buch für jedermann: ich finde – nein. Dazu ist das zu sehr eine rein persönliche Geschichte, bei der der Autor aber natürlich jegliches Recht hat, diese offen kundzutun.
    7 von 10 Punkten, weil mich der Text berührte.


    Nachtrag:
    Ich schreibe üblicherweise erst meinen Kommentar und lese dann die von anderen – dabei ergänze ich gelegentlich, wenn ich einem häufigen Tenor nicht beipflichte. Ich habe „kalt“ als Beschreibung für Malmquists Buch gelesen, „gefühllos“ – nein, nicht nach meiner Meinung. Malmquist beschreibt bereits sein Handeln im Krankenhaus als von Panik getrieben. Er beschreibt die Angst, mit seiner Tochter etwas falsch zu machen – er beschreibt keine Weinkrämpfe, ist eher lakonisch, vielleicht auch erstarrt. Ich mag nicht, dass heute nur als „authentisch“ gilt im Zeitalter von Castingshows, wer geradezu hysterisch, laut wird. Erst mit den letzten Seiten scheint Malmquist sich aus dieser Erstarrung zu lösen, teilt er seine Tränen mit. Von dort stammt auch das Zitat, das zu meinem Titel führte, er redet dabei seine Partnerin direkt an und erinnert sich „…du siehst mich an und erzählst, dass es in Todesnähe eine besondere Art von Wirklichkeit gibt, eine, die alle Schutzmaßnahmen niederreißt, bis man gezwungen ist, dem Leben ohne Hoffnung auf Verschonung zu begegnen..“ S. 288