Karine Tuil: Die Zeit der Ruhelosen

  • Karine Tuil: Die Zeit der Ruhelosen
    Verlag: Ullstein Hardcover 2017. 512 Seiten
    ISBN-13: 978-3550081750. 24,00€
    Originaltitel: L'Insouciance
    Übersetzerin: Maja Ueberle-Pfaff

    gelesen als ebook


    Verlagstext
    Furios erzählt Karine Tuil von Menschen, die getrieben sind von dem Wunsch nach Anerkennung, Geld und Macht – und beinah tragisch daran scheitern. Ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit.
    Furios erzählt Karine Tuil von Menschen, die getrieben sind von dem Wunsch nach Anerkennung, Geld und Macht – und beinah tragisch daran scheitern. Ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit. Der Aufstieg des brillanten Managers François Vély scheint unaufhaltsam. Bis seine Exfrau sich aus dem Fenster stürzt, als sie erfährt, dass er wieder heiraten will. Der Tragödie folgt die Entdeckung, dass seine neue Lebensgefährtin in eine Affäre mit einem Offizier verstrickt ist, der völlig traumatisiert aus Afghanistan heimkehrt. Außerdem wird Vély ein Mediencoup zum Verhängnis, man bezichtigt ihn des Rassismus und Sexismus. Als er persönlich und beruflich am Ende ist, ergreift ausgerechnet der Politiker Osman Diboula Partei für ihn – dabei ist Diboula bekannt als Wortführer gegen eine weiße gesellschaftliche Elite. Wenige Wochen später kommt es im Irak zu einer Begegnung aller Beteiligten, die für Vély fatale Konsequenzen hat. - Nominiert für den Prix Goncourt, wochenlang auf der Bestsellerliste - eine der relevantesten französischen Autorinnen. - Ein kluger, hochaktueller Gesellschaftsroman über den gnadenlosen Wettbewerb um Macht und sozialen Aufstieg.


    Die Autorin
    Karine Tuil, geboren 1972, ist promovierte Juristin und Autorin mehrerer gefeierter Bücher. Sie lebt mit ihrer Familie in Paris. Zuletzt erschien ihr vielbeachteter Roman „Die Gierigen“, welcher derzeit fürs Kino verfilmt wird.
    Interview


    Inhalt
    In einem Hotel auf Zypern kreuzen sich die Lebenswege mehrerer Franzosen. Romain Roller kehrt voller Schuldgefühle von einem kurzen Einsatz in Afghanistan zurück, der zwei seiner Männer das Leben kostete und einen zum lebenslangen Pflegefall machte. Marion Decker hat als junge Journalistin den Einsatz begleitet. Osman Diboula, ein charismatischer Politiker, Kind des sozialen Brennpunktes Clichy-sur-Bois und beflissenes Aushängeschild des französischen Präsidenten, ist in offizieller Mission auf Zypern. Osman war zuhause in Frankreich der Sozialarbeiter der Jungs und hat es seitdem zum Präsidentenberater gebracht. Der Zwischenaufenthalt auf der Insel soll wie eine Depressionskammer auf die Kriegsheimkehrer wirken. Hauptsächlich soll jedoch vor der Öffentlichkeit verborgen werden, wie leichtfertig vorbereitet und miserabel ausgestattet Soldaten in den Einsatz geschickt wurden. Alle beteiligten Personen erleben im Folgenden einen persönlichen oder beruflichen Absturz, der wie eine Lawine weitere Angehörige mitreißen wird.


    Romain, dessen Frau ihm seit ihrer Jugend stets den Rücken freigehalten und alle Belastungen klaglos weggesteckt hat, verliebt sich auf dramatische Weise in Marion. Marions Ehe mit einem der mächtigsten Wirtschaftsbosse Frankreichs befindet sich in der Krise. Die Autorin eines erfolgreichen Romans muss erkennen, dass es in François Vélys Kreisen nur am Rande um Liebe geht. Wichtiger sind der korrekte Code, das Gespür für soziale Nuancen – und in Marions Fall, wer ihren Lebensunterhalt sichert, ihre persönliche „Komfort-Zone“. Die sozialen Gräben zwischen altem Wohlstand und jungem Ehrgeiz sind zentrales Thema des Buches. Osman Diboula ist als Kind von Einwanderern aus der Elfenbeinküste in einem sozialen Brennpunkt geboren. Die Unruhen von 2005 waren Geburtsstunde seiner politischen Karriere. Vom Streetworker gelangte er als Quoten-Migrant mit einem einzigen Karriereschritt direkt in den Elysée-Palast. Über ihn und seine Partnerin Sonia Cissé, ebenfalls Kind eines afrikanischen Vaters, wird bereits gewitzelt, sie seien Frankreichs zukünftige Obamas. Doch die Codes der Oberschicht grenzen Osman aus, schaffen ein mentales Ghetto für ihn.


    Bisher war François stets Lieblingskind des Schicksals, obwohl sein Vater noch mit dem Familiennamen Levy als Widerstandskämpfer in Buchenwald inhaftiert war. Ein Moment der Instinktlosigkeit bringt nicht nur François‘ gesamten großbürgerlichen Kosmos zum Absturz, sondern macht ihn weltweit zum Paria. Aus der beruflichen wie privaten Katastrophe scheint François‘ Scharfsinn ihn zum ersten Mal nicht retten zu können. Auch Osman gleitet in atemberaubendem Tempo aus seiner Komfortzone, ausgelöst durch einen Moment der Unbeherrschtheit. Osman kann jedoch auf kein doppeltes soziales und finanzielles Netz zurückgreifen, wie Mitglieder der Eliten. Wenn er seinen Job als Präsidentenberater verliert, fallen mit ihm seine betagten Eltern, die von der Unterstützung durch ihren Sohn abhängig sind, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben. Es fällt auch Sonia, die bis dahin geglaubt hatte, sich aus eigener Kraft durch Leistung hochgearbeitet zu haben. Und wieder kommt es zu einem für die französische Klassengesellschaft ungewöhnlichen, schicksalhaften Zusammentreffen der Beteiligten …


    Fazit
    Tuils Figuren stehen stellvertretend für eine Gesellschaft zementierter Klassenschranken, für drängende soziale Konflikte, nicht nur in Frankreich. Auf welcher Seite des sozialen Grabens jemand geboren wird, scheint über Generationen weiter vererbt zu werden. Osmans Fall empfand ich als den tiefsten Abstieg, weil er erkennen muss, dass er im Kalkül um Macht nur Mittel zum Zweck war. Ohne fachliche Qualifikation wird er der schwarze Junge aus Clichy-sur-Bois bleiben, egal wem er gerade als Aushängeschild dient. Solange es dabei allein um den Machterhalt Einzelner geht, löst Politik keine Probleme, nicht in Clichy-sur-Bois, nicht in Afghanistan oder im Irak.


    Auslöser für Tuils großartigen Roman war ein konkretes Ereignis im Jahr 2008, die Handlung jedoch ist fiktiv. Es geht darin um Macht, Ehrgeiz, Scheitern, versehrt Werden, Identitätskonflikte, pubertäre Rebellion, um den Krieg, die Sprengkraft von religiösem Extremismus, männliche Identität und eine komplexe Gesellschaft, in der ich mich auch als deutsche Leserin wiederfinden kann. Karine Tuils Einführung ihrer miteinander verketteten Personen zieht augenblicklich in die Handlung hinein. Die Tochter von Einwanderern charakterisiert ihr Personal pointiert wie in einer umfassenden psychologischen Analyse, trennt dabei Selbsttäuschung von Realität. Stilistisch sitzen ihre Charakterisierungen auch in der Übersetzung ins Deutsche wie maßgeschneidert.


    Ein komplexer Gesellschaftsroman, nichts für zartbesaitete Leser, intensiv und spannend bis zum Schluss.


    10 von 10 Punkten

  • Der Klappentext nennt das Buch „ein grandioses Gesellschaftspanorama unserer Zeit“ – und das passt. Der Rest vom Klappentext verrät etwas viel, wobei das hier nicht einmal schadet, weil es mehr darauf ankommt, WIE elegant Karine Tuil das tut – und welche eigenen Überlegungen das auslösen kann.


    Der Roman wechselt die Perspektiven zwischen drei Männern, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Reich geboren oder aus dem Problemviertel, als Kind von afrikanischen Einwanderern oder mit rein französischer Ahnenreihe, mit Hintergrund im Islam, im Katholizismus, im Judentum (oder sogar mit Kombinationen davon), erfolgreich, aufstrebend oder gebrochen. Überhaupt, gebrochen – alle von ihnen werden in diesem Roman in der einen oder anderen Weise zu Verlierern werden; der Text lebt davon, ihnen dabei zuzusehen. Ihr Scheitern ist dabei teils zutiefst menschlich – sie verlieben sich und Partnerschaften zerbrechen, Karrieren gehen kaputt, angebliche Freunde werden zu Verrätern - zur wirklichen Identifikationsfigur taugt mir keiner von ihnen: zu sehr finden sie ihre Identifikation in der Selbst-Zelebrierung als „Alpha-Männchen“; selbst die Frauen um sie herum sind kaum besser in ihrem Streben nach Durchsetzung eigener Machtbedürfnisse.


    Die Sprache ist eine Freude: gut verständlich, treffsicher, situativ changierend
    – ob von den Schrecken des Krieges handelnd: „Könnte der Übersetzer, der euch seine Dienste anbietet, nicht ein von den Taliban ferngesteuerter Spion sein, eine Geisel, die unter Zwang handelt? Es ist ein Leichtes, ihn zu erpressen, indem sie damit drohen, seine Familie zu töten, sie wissen, wo sie wohnt, sie kennen den Namen seines Vaters und seiner Schwester, du weißt, was wir deiner Schwester antun können, ja, er weiß es, sie werden ihr eine Kugel in den Kopf jagen oder sie mit Säure bespritzen, ein Strahl ins Gesicht, und sie ist für immer entstellt, als abschreckendes Beispiel.“ S. 20
    oder ob es um oft ernüchternde Schlussfolgerungen geht: „Er hatte die Liebe verschmäht. Nun musste er sich mit der Zuneigung seiner Familie begnügen, dem Trostpreis.“ S. 278


    Mich hat der Text sehr zum Nachdenken angeregt – hinaus über das altbekannte Erwägen, wo Diskriminierung beginnt, inwieweit viele Förderungen verkappte Demütigungen beinhalten, wo die Zensur im Kopf stattfindet, hin dazu, wo die Demütigung geflissentlich ignoriert wird, um nicht als „Spielverderber“ dazustehen. Das ist kein rein französisches Thema, das lässt sich auch in deutschsprachigen Ländern exemplifizieren; ich war teils erschreckt, wie viele dumme (rassistische, sexistische, antisemitische,…) Sprüche aus dem Buch ich bereits im gesellschaftlichen Umgang gehört hatte, oft „natürlich“ ganz „harmlos“ gemeint. Das ist schon „ganz großes Kino“ von Karine Tuil.


    Andere Hintergründe im Roman wird man nur verstehen, wenn man sich ein wenig mit Frankreich auskennt, so die „Grandes Écoles“ unter den Universitäten, die quasi als Automatismus eine Karriere in Politik und Wirtschaft versprechen, und das spezielle Schulsystem mit den stark konkurrierenden vorbereitenden Gymnasien – aber andererseits werfen internationale Studien Deutschland vor, unterdurchschnittlich wenige Studenten hervorzubringen, die aus Nicht-Akademiker-Familien stammen (stimmt, das ist schon insgesamt etwas anderes, „normale“ Universitäten haben die Franzosen auch noch – und diese „besonderen“ Universitäten haben wir hier nicht, die Bedeutung von Rankings ist geringer, die Privat-Unis finden den Vergleich eher mit dem US-System). Lässt man das außen vor, liest sich das Buch nicht nur als „französische“ Gesellschaftsstudie, sondern durchaus als eine der westlichen Gesellschaftssysteme, bei der vielleicht die Eltern von Osman bei einem britischen Autor aus Indien kämen, bei einem deutschen Autor aus der Türkei, etc.


    Immer noch fasziniert mich das Ende – sehr geschickt, bei allen zwischendurch oft sehr ernüchternden Aussagen. Es bleibt, über einige von ihnen nachzudenken: „Die meisten Menschen ziehen die Bequemlichkeit dem Risiko vor, … weil sie Angst vor einer Veränderung oder einem Scheitern haben, dabei müssten sie am meisten Angst vor einem vergeudeten Leben haben.“ S. 496


    Meine Empfehlung als Folgebuch:
    James Finn Garner: Politically Correct Bedtime-Stories (Märchen in „politisch-korrekt-Sprech“ – da sind „Zwerge“ stattdessen „vertically handicapped“ – sehr entlarvend und damit durchaus adäquat zu einem Zitat aus Tuil: „In unserer Gesellschaft ist etwas sehr Ungesundes im Gange, alles wird durch den Blickwinkel der Identität betrachtet.“ S. 285

    alternativ werde ich selbst in den Büchern stöbern, die Paul Vély zum Trauern empfiehlt:
    Rainer Maria Rilke „Du musst das Leben nicht verstehen“
    Joan Didion „Das Jahr magischen Denkens“
    Roland Barthes „Tagebuch der Trauer“
    Jorge Semprún „Schreiben oder Leben“ mit dem schönen Zitat „Das Leben war noch lebbar. Es genügte zu vergessen, es mit Bestimmtheit, brutal zu beschließen.“ S. 487

  • Ich finde, dass sich Karine Tuils Roman mit Pierre Lemaitres "Wir sehen uns dort oben" messen kann.
    Das Genre "Kriegsveteranenroman" existiert nur inoffiziell (habe ich gerade erfunden) oder irre ich mich Da?
    (Die überraschende Wendung in Kapitel 24 ist meisterhaft gelungen.)

  • Zitat

    Original von Larissa
    ... Das Genre "Kriegsveteranenroman" existiert nur inoffiziell (habe ich gerade erfunden) oder irre ich mich Da?
    (Die überraschende Wendung in Kapitel 24 ist meisterhaft gelungen.)


    Wenn du Lust hast, leg unter Allerleibuch eine Liste an. Meine Kriegsveteranen-Liste beginnt mit Unter des Käfers Keller.


    Seit 45 Tagen befinden sich elf Kinder und der Fahrer ihres Schulbusses in der Gewalt von Samuel Mordecai, dem fanatischen Führer einer militanten religiösen Sekte. Jeden Morgen betritt er das unterirdische Gefängnis und verkündet das nahende Weltende. Am Tag der Apokalypse sollen »die unschuldigen Lämmer« geopfert werden. Inzwischen versuchen Polizeikräfte alles, um die Kinder zu befreien. Ohne Erfolg! Da ergreift die Journalistin Molly Cates die Initiative. Sie kennt Mordecai persönlich und ahnt das Motiv für sein Verbrechen. Sie läßt sich auf ein risikoreiches Unternehmen ein, das den Entführten die Freiheit bringen soll.


    Foren-Suche nach Vietnam-Veteran

  • In der Sendung Lesenswert wurde das Buch auch besprochen, von Denis Scheck, Ijoma Mangold, Felicitas Hoppe und Insa Wilke
    irritierenderweise geschlossen sehr negativ.


    Hier nachzusehen


    Dabei habe ich das Buch nicht so schlecht empfunden, würde es auch nicht als Trivialliteratur bezeichnen. Die Figuren wirken teilweise kalt, doch sie lassen mich nicht gleichgültig. Und sprachlich war ich schon beeindruckt.