Sina Beerwald: Kräherwald. Stuttgart-Thriller, Köln 2016, Emons-Verlag, ISBN 978-3-95451-982-8, Softcover, 332 Seiten, Format: 13,6 x 2,7 x 20,3 cm, Buch: EUR 11,90 (D), EUR 12,30 (A), Kindle Edition: EUR 9,49.
„Du machst dir ja keine Vorstellung davon, wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich jedes Jahr als vermisst gemeldet werden. Rund einhunderttausend. Die Bevölkerung einer mittelgroßen Kleinstadt verschwindet, ohne dass sich jemand für die Sorgen und Probleme der Zurückgebliebenen interessiert, die auch mit den Jahren nicht besser werden.“ (Seite 242)
Es ist der pure Zufall, dass die Journalistin Tessa Steinwart, 37, allein erziehende Mutter des dreijährigen Julian, gerade am Neckarufer ist, als die Leiche eines weiblichen Teenagers angespült wird. Jemand hat das kleinwüchsige Mädchen auf ein mit Rosenblüten bestreutes Laken gebettet, verschnürt und in den Fluss geworfen.
Ein toter Teenager, den niemand vermisst
Tessas Ex-Ehemann war bei der Polizei, und aus der Zeit ihrer Ehe hat sie noch Kontakte, zum Beispiel zu Kriminalkommissar Tom Trautner. Er ist seit Jahren schon ihr platonischer Freund und mittlerweile auch ihr Nachbar. Beide wohnen im selben Hochhaus in der Asemwald-Siedlung in Plieningen. Von Tom erfährt Tessa, was er ihr über den Fall sagen darf: dass der Körper des Mädchens zahllose Misshandlungsspuren aufweist und dass niemand es als vermisst gemeldet hat. Wie kann es sein, dass ein Teenager verschwindet und keinen interessiert’s?
Tom Trautner befürchtet, es mit einem Serientäter zu tun zu haben, und Margarete Rose, 65, Julians „Tages-Oma“, fühlt sich an den Mord an der kleinen Sarah vor rund 15 Jahren erinnert. In der Tat gibt da erstaunliche Parallelen. Doch der Mörder wurde damals gefasst und ist mittlerweile verstorben. Er kann’s nicht gewesen sein. War’s ein Nachahmungstäter? Nach all der Zeit?
Wer bedroht die Journalistin und ihren Sohn?
Je intensiver sich Tessa mit dem Fall beschäftigt, desto mehr gerät ihr eigenes Leben aus den Fugen. Sie erhält verklausulierte anonyme Nachrichten, die man durchaus als Drohung auffassen kann. Weil die Botschaften auf Grußkarten mit bestimmten Bildmotiven kommen, nennt sie ihren Stalker „Harlekin“. Es bleibt nicht bei Karten. Er schickt ihr Rosen ins Büro und hat offenbar Zugang zu ihrer Wohnung.
Dass Tessa allen Grund zur Sorge hat, weiß man als LeserIn, denn zwischen die Geschichte der Journalistin und des Mordes an dem unbekannten Mädchen sind immer wieder kurze Rückblicke eingestreut, die zeigen, was das Opfer in der Gefangenschaft ihres als Harlekin verkleideten Peinigers zu erdulden hatte.
Das Schicksal des Mädchens erinnert an das von Natascha Kampusch, nur dass das Opfer hier anscheinend schon von frühester Kindheit in dem Verlies eingesperrt ist. Es scheint jedenfalls keine Erinnerung an ein Leben vor seiner Gefangenschaft zu haben.
Wer ist der „Harlekin“? Alle sind verdächtig
Die Drohungen gegenüber Tessa Steinwart erstrecken sich bald auch auf ihren Sohn. Tatsächlich landet der Kleine mehrmals mit unerklärlichen Krankheitssymptomen in der Klinik. Nur dem das beherzte Eingreifen seiner Tages-Oma, Frau Rose, bewahrt ihn jeweils vor dem Schlimmsten. Wer kommt dem Kleinen so nahe, dass er ihm etwas antun könnte? Und warum? Es muss jemand aus Tessas unmittelbarem Umfeld sein. Und so langsam wird der Leser so paranoid wie die Heldin und verdächtigt ausnahmslos alle:
- Steckt vielleicht Tessas Ex-Gatte, Philipp Steinwart, dahinter? Der ehemalige Polizist hat ein Alkoholproblem und die Trennung von seiner Familie nie wirklich verkraftet.
- Ist es ihr alter Freund Tom Trautner, der sehr einsilbig wird, sobald man allzu Persönliches on ihm wissen will?
- Was weiß Tessa eigentlich von ihrem neuen Freund, Leander Weißmann? Sie hat ihn unter merkwürdigen Umständen im Internet kennengelernt. Auch er hat sein Päckchen zu tragen: Er hat vor Jahren unter dramatischen Umständen den Kontakt zu seiner unehelichen Tochter verloren und keine Ahnung, was aus ihr geworden ist. Er weiß nicht mal, ob sie noch lebt.
Dann kommt der Moment, an dem Tessa ihren kleinen Sohn nur fünf Minuten lang aus den Augen lässt – und schon ist er verschwunden. Entführt vom Harlekin! Auf einmal gerät auch die letzte von Tessas Vertrauten unter Verdacht: Helen Gesing, ihre beste Freundin seit Kindertagen. Hat ihr unerfüllter Kinderwunsch sie dazu bewogen, den kleinen Julian zu entführen? Oder steckt vielleicht doch Leander Weißmanns untergetauchte Tochter dahinter? Auch dafür gäbe es Indizien.
Eine makabere Schnitzeljagd
Der Harlekin hat einen Höllenspaß daran, Angst und Misstrauen zu verbreiten und Tessa von ihren Vertrauenspersonen zu isolieren. Er lädt die verzweifelte Mutter zu einer makaberen Schnitzeljagd ein. Sie wird ihren Sohn nur wiedersehen, wenn sie seinen mysteriösen Hinweisen folgt …
Puh! Spannend! Und mit einem behäbigen Regionalkrimi hat dieser Thriller rein gar nichts zu tun! Kein Mensch schwätzt schwäbisch. Die Geschichte könnte überall auf der Welt spielen.
Alle LeserInnen, die sich, wie ich, einem Buch dadurch nähern, dass sie erst einmal den Anhang studieren, seien hier gewarnt: Ein Nachwort heißt Nachwort, weil man es nach dem Roman lesen sollte. Wenn man dieses hier vorab durchliest, erfährt man, zu welchen Themen die Autorin recherchiert hat und riecht den Braten schon kurz nach Seite 50. Wobei man aber noch lange nicht weiß, wie die einzelnen Puzzleteile zusammengehören. Schließlich haben wir es hier mit ganz verschiedenen Mord-, Entführungs- und Vermisstenfällen zu tun, zwischen denen es erstaunliche Querverbindungen gibt.
Der Thriller lebt davon, dass alle verdächtig sind. Entsprechend viele psychisch angeknackste Personen bevölkern den Roman. Aber so ist das nun mal: Das Leben hinterlässt Spuren.
Die Handlung schlägt Haken
Dadurch, dass hier alte und neue Kriminalfälle miteinander verquickt werden, ist die Geschichte sehr konstruiert. Das ist überaus raffiniert gemacht, aber der Zufall wird schon ein bisschen strapaziert. Damit meine ich vor allem die Einbindung des Sportjournalisten – deutlicher will ich hier nicht werden. In dem Punkt schlägt die Handlung für meinen Geschmack einen Haken zu viel. Und so ganz habe ich auch die Beziehung zwischen „Harlekin“ und „Schneewittchen“ nicht verstanden. Ich dachte immer, für die hier beschriebene Störung brauche es zwingend ein Publikum. Aber da die Autorin mit Sicherheit sehr viel mehr über das Thema gelesen hat als ich, wird es schon so sein, wie sie es schildert.
KRÄHERWALD ist packende Unterhaltung mit einer sehr bodenständigen Heldin. Man kann es so gut nachempfinden, wie Tessa angestrengt versucht, sowohl ihrem Beruf als auch ihrem Kind gerecht zu werden. Man leidet mit ihr mit, als sie mit ihrem Sohn ins Visier des Harlekins gerät, und würde den Roman am liebsten in einem Rutsch durchlesen, um zu erfahren, ob sie ihren Jungen gesund zurückbekommt. Man vergisst total, dass es sich nicht um reale Personen handelt. Und so muss ein Thriller sein.
Die Autorin
Sina Beerwald, 1977 in Stuttgart geboren, wanderte vor acht Jahren mit zwei Koffern und vielen kriminellen Ideen im Gepäck auf die Insel Sylt aus und lebt dort seither als freie Autorin. Seitdem sind neun erfolgreiche Romane und der Erlebnisführer »111 Orte auf Sylt, die man gesehen haben muss« erschienen. Sie ist Preisträgerin des NordMordAward und des Samiel Award. www.sina-beerwald.de und auf Facebook.