'Der Tag X' - Seiten 174 - 249

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    Original von logan-lady
    Meine Eltern haben mir auch mal vom Schlange stehen für ein paar Bananen oder Orangen erzählt. Das realisiert man viel später erst, was das tatsächlich bedeutet haben muss. Meine Mama sagte bei den Erzählungen immer: "Damit ihr Kinder wenigstens Obst hattet". Heute kann ich mich vor Obst im Supermarkt nicht retten. Damals stand meine Mama Stunden, damit wir ein paar Bananen hatten.


    Wobei es natürlich auch nochmal einen Unterschied macht, ob man wenigstens was anderes zu Essen hatte, oder wie im Buch nahezu gar nichts! Die Leute haben ja wirklich gehungert, eine Kartoffel für heranwachsende Jungs ist ja viel zu wenig!

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

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    Original von Lese-rina
    ..., warum sich die Sowjetunion in dieser Frage eingemischt hat?


    Die UdSSR hat sich nicht eingemischt, sondern betrachtete die Staaten des späteren Warschauer Paktes fast als ihr Staatsgebiet. Die DDR-Regierung wurde ja auch von den Sowjets eingesetzt. Viele, die da ein Amt innehatten, hatten zuvor in Moskau studiert bzw. sind während der Nazizeit nach Moskau geflohen. Die DDR war zu dieser Zeit nicht souverän und eigentlich bis zu ihrer Auflösung immer von der UdSSR abhängig.

  • In diesem Abschnitt passiert wahnsinnig viel. Für mich war es fast schon ein wenig schwierig, den einzelnen Handlungssträngen in Berlin und Halle sowie den Personen zu folgen.
    Die politischen Hintergründe finde ich sehr interessant und informativ dargestellt, vieles war mir bislang unbekannt. Ich habe mich allerdings auch nie bewusst mit der jüngeren deutschen Geschichte befasst.


    Was mir beim Lesen ein bisschen fehlt, ist ein "Lieblingsprotagonist" (wenn ich das mal so nennen darf :grin) Es gibt so viele wichtige Personen im Roman, die alle ihre interessanten Seiten haben, doch zu einer bestimmten Person besonders hingezogen fühle ich mich bislang nicht.
    Es ist vielleicht ein bisschen wie jammern auf hohem Niveau, aber für mich ist so ein "Liebling" immer das Tüpfelchen auf dem I. :knuddel1

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    Original von Schneehase
    Was mir beim Lesen ein bisschen fehlt, ist ein "Lieblingsprotagonist" (wenn ich das mal so nennen darf :grin) Es gibt so viele wichtige Personen im Roman, die alle ihre interessanten Seiten haben, doch zu einer bestimmten Person besonders hingezogen fühle ich mich bislang nicht.


    Es ist vielleicht ein bisschen wie jammern auf hohem Niveau, aber für mich ist so ein "Liebling" immer das Tüpfelchen auf dem I. :knuddel1


    Da gebe ich dir recht. :write Für mich ist das ein (kleiner) Nachteil, weil sich so viele Protagonisten mit ihren ganz unterschiedlichen Handlungssträngen im Buch tummeln. Macht eine äußerst interessante Geschichte aus vielen Blickwinkeln, doch dadurch fehlt die Zeit, sich tiefer mit den einzelnen Charakteren beschäftigen zu können. Da bleiben die persönlichen Hintergründe, ihre Beweggründe und Emotionen leider auf der Strecke. Lotte kommt mir dabei am nächsten, zum einen erfährt man über sie relativ viel, zum anderen kann ich bei ihr am besten "mitempfinden".

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

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    Original von streifi
    ...
    Nelly schläft mit Ilja, ob nun aus Dankbarkeit oder Bewunderung, ich kann es nicht einschätzen.
    Und zur Schule darf sie auch wieder, dank des zurückruderns der Parteileitung, die wiederum nur vor den Sowjets kuschen. ...


    Ich fand eher, dass Nelly selbst von ihren Gefühlen überrascht ist und ihre sexuellen Wünsche erst im Zusammensein mit Ilja entdeckt. Mir kam die Liebesszene sehr echt vor.


    Zitat

    Original von streifi
    ...
    Lotte kann ich gar nicht einschätzen, einerseits linientreu andererseits sehr unzufrieden. Ich bin gespannt, wie sie weiter durchkommt. Eine Verhaftung wäre für sie und ihre Jungs ja echt fatal...


    :gruebel Ich empfinde Lotte nicht als besonders linientreu, eher total überarbeitet, so dass nicht viel Platz für Politik in ihrem Leben ist. Sie wirkt auf mich müde und angestrengt und funktioniert nur. Insofern ist es sehr verständlich, dass sie sich einfach nur satte Kinder wünscht, die sich normal entwickeln dürfen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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    Original von xexos
    Also ich brauche so einen Lieblingsprotagonisten nicht, ich will Handlung und Info. ;-)


    O.k., ich bin auch ein Mann! :lache


    Ich finde es interessant, auf ein und dasselbe Ereignis/Zeitgeschehen verschiedene Blickrichtungen zu haben, sehr bereichernd. Natürlich kann man da nicht so sehr in die Tiefe gehen. Dafür wechselt die Perspektive und es gibt kein Gut und Böse.
    Ich finde es sehr erfrischend, einen historischen Roman ohne so eine Pseudo-Hauptfigur zu lesen, die oft nur ein Vehikel ist, um an die geschichtlichen Ereignisse heranzukommen. Hier jönnte jede Figur zu dieser Zeit gelebt haben.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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    Original von Regenfisch


    O.k., ich bin auch ein Mann! :lache


    Ich finde es interessant, auf ein und dasselbe Ereignis/Zeitgeschehen verschiedene Blickrichtungen zu haben, sehr bereichernd. Natürlich kann man da nicht so sehr in die Tiefe gehen. Dafür wechselt die Perspektive und es gibt kein Gut und Böse.
    Ich finde es sehr erfrischend, einen historischen Roman ohne so eine Pseudo-Hauptfigur zu lesen, die oft nur ein Vehikel ist, um an die geschichtlichen Ereignisse heranzukommen. Hier jönnte jede Figur zu dieser Zeit gelebt haben.


    Dass es verschiedene Blickrichtungen gibt, finde ich auch sehr wichtig. Alle Personen in diesem Roman haben einen anderen Hintergrund, ein Leben bzw. Schicksal, das sich von den übrigen Protagonisten unterscheidet.


    Mir fehlte bis hier jedoch ein wenig das Emotionale. Gegen eine "Pseudo-Hauptfigur" habe ich i.d.R. nichts einzuwenden. Wenn es denn eine solche Person in einem Roman gibt, heißt das ja nicht zwangsläufig, dass das Buch unsachlich, schlecht recherchiert ist oder sonstige Defizite hat.
    Ich mag es halt, wenn ich mich so richtig in jemanden hinein versetzen kann.
    Bin halt 'ne Frau.... :keks

  • Es gibt bestimmt auch Männer, die sowas wollen. Ich finde die menschlichen Empfindungen und Erlebnisse ja auch interessant, sie sind für mich aber mehr das Instrument, anhand dessen die Geschichte erzählt werden soll. Also eher ein Mittel zum Zweck oder ein Medium als der Hauptbestandteil. Zumindest bei Büchern, die im historischen Kontext spielen.

  • Zitat

    Original von Regenfisch


    O.k., ich bin auch ein Mann! :lache


    Ich finde es interessant, auf ein und dasselbe Ereignis/Zeitgeschehen verschiedene Blickrichtungen zu haben, sehr bereichernd. Natürlich kann man da nicht so sehr in die Tiefe gehen. Dafür wechselt die Perspektive und es gibt kein Gut und Böse.
    Ich finde es sehr erfrischend, einen historischen Roman ohne so eine Pseudo-Hauptfigur zu lesen, die oft nur ein Vehikel ist, um an die geschichtlichen Ereignisse heranzukommen. Hier jönnte jede Figur zu dieser Zeit gelebt haben.


    :write


    allerdings gilt das für mich hauptsächlich bei historischen Romanen, bei Fantasy-Büchern z.B. brauche ich i.d.R. schon eine Lieblingsfigur, mit der ich aus ganzem Herzen mitleiden kann.

  • Zitat

    Original von xexos
    Also ich brauche so einen Lieblingsprotagonisten nicht, ich will Handlung und Info. ;-)


    Früher ist es mir auch immer so gegangen, dass ich in jedem Buch nach meinem Lieblingsprotagonisten gesucht habe um dann ganz mit ihm mitzufiebern.
    Aber in letzter Zeit habe ich immer öfter Bücher gelesen, in denen es keinen Lieblingsprotagonisten gab. Gelegentlich waren es sogar Bücher, in denen mir überhaupt niemand so richtig sympathisch war. Und ich bin ganz erstaunt, dass mir das gar nichts mehr ausmacht. Hauptsache die Personen an sich sind glaubhaft und authentisch und handeln so, dass ich es nachvollziehen kann. Dann ist mir die Handlung auch deutlich wichtiger als ein Lieblingsprotagonist.
    Und hier in diesem Buch finde ich es einfach nur wahnsinnig interessant, die Handlung aus verschiedenen Sichtweisen und Blickrichtungen zu erfahren und zu erleben.

  • Eure Debatte über "Fakten & Handlung" vs. "Emotion & auserzählte Figurenpsychologie" finde ich hochspannend! Wenn wir alle in einem Restaurant säßen, würde ich rüber an euren Tisch kommen und mich frech zu euch setzen. :lache


    Ich glaube, ich lese beide Arten von Romanen gern. Beim Schreiben scheint mir Variante 1 mehr zu liegen, wenn ich euch so zuhöre. Trotzdem würde ich natürlich gern mein schwächeres Spielbein etwas stärken ... Beim nächsten Roman dann. :-)


    Herzlich,


    Titus

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    Original von xexos
    Und die Sitzungen in Moskau wurden so intensiv protokolliert und die Protokolle auch verfügbar?


    Jetzt bin ich wieder zu Hause und habe mir die Textstelle genauer angesehen. Im Gegensatz zum Treffen von Adenauer und Churchill in London, wo der Dialog nahezu wortwörtlich stimmt, war ich hier als Romanautor unterwegs. ;-) Wobei es inhaltlich alles stimmt, der Zeitdruck, das Entsetzen bei den DDR-Regierungsangehörigen, die inhaltlichen Forderungen Moskaus, auch das Verbot des Ulbricht-Jubelfilms. Den Ausruf: "In zwei Wochen haben Sie keinen Staat mehr!" habe ich aus Karlshorst gestohlen, der ist dort gefallen, als die DDR-Regierung während des Aufstands Schutz bei den Sowjets suchte.

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    Original von xexos
    Du bist sicherlich herzlich eingeladen :suppeln ---> Frühjahr-Eulentreffen 2017: 22.04.2017 in Hannover - Teilnehmer


    Da hätte ich richtig Lust drauf! Aber meine Frau bringt mich um ... Ich habe 40 Lesungen zu "Der Tag X" vereinbart, sie dieses Jahr viel zu oft mit den Kindern allein zu Hause (unsere Jungs sind 1 und 3 Jahre alt). Solche Luxus-Termine zum puren Vergnügen sind momentan nicht drin.


    Danke trotzdem für die tolle Idee. :knuddel1

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    Original von Regenfisch
    In dem Buch kommen ja viele historische Persönlichkeiten vor, große Staatsmänner. Hast du eine andere Schreibhaltung, wenn du über diese Personen schreibst? Gibt es einen Unterschied zu den von dir erfundenen Protagonisten?


    Auf S. 219 ist auch noch ein Tippfehler: "Er erwarte nicht zu viel, ja?" Es muss sicherlich "Aber" heißen.


    Danke für den Fehler, ich freue mich schon, ihn zu korrigieren.


    Was die Staatsmänner als historische Persönlichkeiten betrifft: Das Schöne ist, dass wegen ihres Bekanntheitsgrades viele Zeitzeugen über sie berichtet haben (oder sie sogar, wie im Fall von Konrad Adenauer, selbst ihre Erinnerungen niedergeschrieben haben). Das hat mir dabei geholfen, mir ein Bild von ihnen zu machen und davon, was die Lage 1953 für sie bedeutet haben muss. Ansonsten bin ich aber in sie hineingeschlüpft wie in die anderen Romanfiguren auch, ich habe nicht neben dem Schreibtisch strammgestanden. ;-) :wave

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    Original von Lese-rina
    Naja, die Frage ist nur, ob er es aus „Menschlichkeit“ oder aus ganz anderen Gründen getan hat. Mir würden da durchaus auch andere Beweggründe einfallen (eigene Position stärken o. ä.).


    Titus, gibt es denn dazu Unterlagen oder zumindest Mutmaßungen, warum sich die Sowjetunion in dieser Frage eingemischt hat?


    Die Zahlen sprechen für sich. Jede Woche verließen Tausende die DDR, allein in den vier Monaten von Januar bis April 1953 flohen 120.000 Menschen in den Westen. Es war klar, dass das nicht lange so weitergehen konnte.