Bill Clegg: Fast eine Familie

  • Bill Clegg: Fast eine Familie
    S. FISCHER 2017. 320 Seiten
    ISBN-13: 978-3100023995. 22€
    Originaltitel: Did you ever have a family
    Übersetzerin: Adelheid Zöfel


    Verlagstext
    Ein gefeierter Familienroman über die Macht des Mitgefühls, in dessen Kern die Familie steht – die, in die wir hineingeboren werden, und die, die wir selbst wählen. - Am Morgen der Hochzeit ihrer Tochter geht June Reids Haus in Flammen auf und reißt ihre ganze Familie in den Tod. Nur June überlebt. Taub vor Schmerz, setzt sie sich in ihren Subaru und fährt quer durch die USA. Eine alte Postkarte ihrer Tochter führt sie in ein kleines Motel an der Westküste, das Moonstone Motel, wo sie sich unter falschem Namen einmietet. Hier, glaubt sie, wird niemand sie finden. - Das amerikanische Provinznest Wells überschlägt sich derweil vor Gerüchten. Alle sind auf die eine oder andere Art von der Tragödie betroffen, und das Kleinstadtgerede offenbart allmählich eine unheilvolle Verkettung von Familientragödien. Während June in der dumpfen Anonymität des Motels jeden zwischenmenschlichen Kontakt meidet, spannt sich unter ihr unbemerkt ein Netz wahrer Mitmenschlichkeit – es könnte sie auffangen und zurück ins Leben holen. Ein Familienroman voller Optimismus über eine unverhoffte Begegnung mit der Menschlichkeit, die uns aus den Trümmern unseres Schicksals zu reißen vermag, wenn scheinbar alle Hoffnung verloren ist.
    Bill Cleggs New- York-Times-Bestseller „Fast eine Familie“ wurde hymnisch besprochen und mit einer Man-Booker-Nominierung geehrt.


    Der Autor
    „Fast eine Familie“ ist Bill Cleggs erster Roman. Er stand auf der Bestsellerliste der New York Times, wurde von der amerikanischen Presse gefeiert und für die zwei wichtigsten Literaturpreise der englischsprachigen Welt nominiert: den Man Booker Prize und den National Book Award. Bill Clegg wuchs an der Ostküste der USA auf und arbeitet heute als Literaturagent in New York City.


    Inhalt
    Am Tag von Lolly Reids geplanter Hochzeit fallen im Litchfield County /Connecticut Braut, Bräutigam, Brautvater und der Liebhaber der Brautmutter einem Brand zum Opfer. Das Unglück macht selbst professionelle Helfer sprachlos. Nur mit dem, was sie auf dem Leib trägt, flüchtet die einzig Überlebende June Reid mit dem Auto aus dem kleinen Ort und findet weit entfernt vom Unglücksort Zuflucht in einem kleinen Motel. Die Zurückgebliebenen versuchen Anteil an der Katastrophe zu nehmen, doch das scheint angesichts der Tragik unmöglich zu sein. Dorfklatsch und Schuldzuweisungen vertiefen bisher verdrängte Gräben zwischen den Dorfbewohnern. Der Ort Wells ist so klein, dass man dort jeden wiedertrifft, der einen einmal gemobbt oder über den Tisch gezogen hat. Einheimische und Zugezogene leben in zwei verschiedenen Welten.


    Auch June ist früher von Wells aus zur Arbeit nach Manhattan gependelt. Nur wer in New York arbeitet, kann sich die steigenden Immobilienpreise leisten und Hauspersonal beschäftigen. Doch wer als Pendler den Spagat zwischen Stadt und Land vollzieht, ist gestresst vom Job, von den Kindern und Hypothekenzahlungen. Die Einheimischen übernehmen Dienstleistungen, putzen Hotelzimmer für die Sommergäste und kümmern sich um Häuser, deren Besitzer nur am Wochenende kommen. Die Floristin Edith und Lukes Mutter Lydia repräsentieren das „Personal“. Vorn heraus verhalten sie sich stets liebenswürdig und verbergen ihre Wut über Klassenunterschiede und Gentrifizierung ihres Heimatortes. Als June eine Liebesbeziehung zum 20 Jahre jüngeren Luke beginnt, überschreitet sie die vorgegebene Klassenschranke zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und bringt damit die Emotionen im Ort zum Brodeln. Luke hat einen (unbekannten) schwarzen Vater und war als Frauenschwarm und angeblicher Tunichtgut schon immer Stadtgespräch.


    Fazit
    In zahlreichen, zeitlich versetzten Handlungsfäden entsteht ein fein gewebtes Bild der Familie Reid mit ihren Beziehungen zu den Ursprungsfamilien von Bräutigam Will, Liebhaber Luke und den Motelbesitzern. Das Motel ist nicht nur für June ein Fluchtpunkt, hier laufen schicksalsbestimmende Fäden zusammen. Erzählt wird u.a. von einem halben Dutzend Icherzählern und mit Focus auf rund 20 Personen. Es gibt im Grunde keine Nebenfiguren, jede Perspektive ist für das Gesamtbild wichtig. Für ein Urteil über June wirken die gesammelten Erkenntnisse alles andere als schmeichelhaft. „Wie oft stellt sich heraus, dass man völlig danebenliegt“, sagt Motelbesitzerin Rebecca über ihr Gelegenheits-Hausmädchen Cissy – und so ergeht es auch den Lesern des komplex gestrickten, multiperspektivischen Romans. Die Bezeichnung Familienroman wird Bill Cleggs ambitionierter Konstruktion nicht gerecht. Erwartet hatte ich einen einfach gestrickten und schnell zu lesenden Text. Gerade als US-amerikanischer Roman über ein kompliziertes Familiengefüge hat „Fast eine Familie“ mich positiv überrascht. Das Buch erzählt von durchschnittlichen berufstätigen Menschen, ihren Verstrickungen und zerbrechenden Partnerbeziehungen. Seine Figuren werden von Schicksalsschlägen aus der Bahn geworfen, sie treffen Entscheidungen, deren Folgen sie nicht voraussehen können. Alles dreht sich um das große Wenn. Was wäre geschehen, wenn es die vielen Abzweigungen in ihrem Leben nicht gegeben hätte? Es geht um Glückserwartungen, das Finden ehemaliger und zukünftiger Familien und um Klischees von Familie, die zur Falle werden können.


    9 von 10 Punkten

  • Als ich das Buch das erste Mal in der Hand hatte, habe ich es aufgrund des Klappentextes wieder auf den Stapel in der Buchhandlung zurückgelegt. Dieser liest sich für mich nämlich nach einem typischen, schon so oft gelesenen Familiendrama. Mein Interesse wurde dann aber durch die o. a. Rezension von Buchdoktor geweckt, der ich mich gerne anschließe.


    Das Buch ist alles andere als ein auf die Tränendrüse drückender Schicksalsroman, sondern eine Geschichte über zwei Frauen, June und Lydia, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber das Leben und der Tod des Geliebten bzw. Sohnes miteinander verbinden. Jedes Kapitel beinhaltet eine andere Perspektive auf den tragischen Vorfall und die davon betroffenen Menschen. Es kommen Menschen aus der Vergangenheit und der Gegenwart zu Wort und all das verknüpft sich langsam zu einem mitreißenden, tragischen, aber auch erwartungsvollen Blick auf Mitgefühl, Trauer, Schuld, Vorverurteilung und ganz normale Leben voller Höhen und echter Tiefen.


    Besonders gefallen hat mir der etwas distanzierte Schreibstil des Autors. Ich habe es so empfunden, das er so vermieden hat "zur Schnulze" abzudriften. Es gelingt ihm dadurch echtes Mitgefühl mit den Figuren zu wecken. Außerdem gelingt es ihm, jedem "Betrachter" nicht nur eine ganz eigene Stimme zu geben, sondern auch die Stimmung entsprechend anzupassen. Mal ist sie melancholisch, verzweifelt, dann wieder glücklich, in Erinnerungen schwelgend und es gibt ein Kapitel das fand ich richtig spannend. Das ist ganz, ganz wunderbar erzählt. Ich habe beim Lesen eigentlich nach jeder zur Wort kommenden Person eine Pause gemacht.


    Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und bin gespannt auf weitere Romane des Autors.
    Ich vergebe 9 Punkte.

  • Zitat

    Original von Saiya
    Als ich das Buch das erste Mal in der Hand hatte, habe ich es aufgrund des Klappentextes wieder auf den Stapel in der Buchhandlung zurückgelegt. Dieser liest sich für mich nämlich nach einem typischen, schon so oft gelesenen Familiendrama. ...


    Das ging mir ähnlich. Es war unerwartet ein Roman, der sich nicht an einem Abend wegschmökern ließ ...

  • Zitat

    Original von Buchdoktor


    Das ging mir ähnlich. Es war unerwartet ein Roman, der sich nicht an einem Abend wegschmökern ließ ...


    Das ging mir auch so. Aber das Buch möchte auch nicht an einem Abend gelesen werden. Es ist ja nicht schwer zu lesen, aber die Geschichte braucht Zeit.

  • An einem Tag habe ich dieses Buch auch nicht gelesen - es wäre auch schade, denn man könnte den verschiedenen Perspektiven gar nicht wirklich folgen.


    Hätte ich mich nur nach dem Klappentext gerichtet, hätte ich das Buch vermutlich auch nicht gelesen. Denn es klingt dort tatsächlich wie eine beliebige Familientragödie.
    Dabei ist dieses Buch sehr viel mehr. Es erzählt auch vom Leben und Scheitern von Beziehungen aber ebenso vom Umgang kleiner Gemeinschaften mit Minderheiten, von den Gehässigkeiten, dem Tratsch und Klatsch, dem stumpfen und bösartigen Verharren in Vorurteilen und von den wenigen Menschen, die sich davon freimachen können.
    Für mich war dieser Teil der eigentlich berührende Teil der Geschichte.


    Außerdem hat mir das fein gesponnene Geflecht gefallen, durch das die Personen des Romans nach und nach lebendig wurden.


    8 Punkte für einen Roman, der weit über eine Familiengeschichte hinausgeht.

  • Es hat schon etwas gedauert, bis ich mich in die Geschichten, des es geht ja um einzelne Lebensgeschichten von verschiedenen Personen, im Vordergrund die beiden Frauen Lydia und June, eingefunden habe.


    Mit der Zeit allerdings verdichteten sich die Stränge, man sah die Verbindungen und auch die Schicksale die, verschuldet oder unverschuldet, auf dem jeweiligen Erzähler lastet.


    Cissy ist mir von allen am nächsten ja und Will. June und Lydia dagegen blieben mir eigenartigerweise etwas fremd.


    Es ist ein großartiges Buch in einer ruhigen, unvoreingenommenen Erzählweise. Der Autor will keineswegs den Finger in eine Wunde legen, oder den Zeigefinger erheben, seht so geht es.


    Der Weg der beiden Frauen und der der Personen, die in ihrem Leben eine Rolle spielten wird vor uns ausgebreitet wie eine Perlenkette mit vielen bunten Perlen jede für sich einzigartig und beeindruckend.


    9 Punkte

    "Leute die Bücher lesen, sind einfach unberechenbar." Spruch aus "Wilsberg "
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  • Berührend und Traurig


    Inhaltsangabe:
    Ein gefeierter Familienroman über die Macht des Mitgefühls, in dessen Kern die Familie steht – die, in die wir hineingeboren werden, und die, die wir selbst wählen. Am Morgen der Hochzeit ihrer Tochter geht June Reids Haus in Flammen auf und reißt ihre ganze Familie in den Tod. Nur June überlebt. Taub vor Schmerz, setzt sie sich in ihren Subaru und fährt quer durch die USA. Eine alte Postkarte ihrer Tochter führt sie in ein kleines Motel an der Westküste, das Moonstone Motel, wo sie sich unter falschem Namen einmietet. Hier, glaubt sie, wird niemand sie finden. Das amerikanische Provinznest Wells überschlägt sich derweil vor Gerüchten. Alle sind auf die eine oder andere Art von der Tragödie betroffen, und das Kleinstadtgerede offenbart allmählich eine unheilvolle Verkettung von Familientragödien. Während June in der dumpfen Anonymität des Motels jeden zwischenmenschlichen Kontakt meidet, spannt sich unter ihr unbemerkt ein Netz wahrer Mitmenschlichkeit – es könnte sie auffangen und zurück ins Leben holen. Ein Familienroman voller Optimismus über eine unverhoffte Begegnung mit der Menschlichkeit, die uns aus den Trümmern unseres Schicksals zu reißen vermag, wenn scheinbar alle Hoffnung verloren ist.Bill Cleggs »New York Times«-Bestseller ›Fast eine Familie‹ wurde hymnisch besprochen und mit einer Man-Booker-Nominierung geehrt.


    "Ein zutiefst optomischtisches Buch über die Macht des Mitgefühls, die fähig ist, um aus Trümmern unser Schicksal herauszuziehen " ((Anne Enright)



    Meine Meinung zum Inhalt:


    Sehr gut ist June beschrieben, wie sie vor dem Trümmerhaufen ihres Lebens steht, ihre ganze Familie ist bei dem Brand ihres Hauses am frühen Morgen ums Leben gekommen, nur weil sie frische Luft schnappen war. Man spürt ihren Schmerz, Wut und Trauer, ihre Schuldgefühle, das sie davon gekommen ist. Gerade heute sollte die Hochzeit ihrer Tochter sein. June Freund Luke ist auch unter den toten, ihr ehemaliger Ehemann und der Schwiegersohn. Nichts ist ihr geblieben, nur was sie am Leibe trägt , sowie der unendliche Schmerz und der Verlust. In ihrem Schockzustand und um dem Gerede und Tratsch aus dem Leute aus dem Ort zu entgehen, flieht sie Kopflos mit ihrem Auto Ziellos davon. Sie landet an der Westküste und mietet sich in einem kleinen Motel ein, schottet sich regelrecht ab und vergräbt sich in ihrem Schmerz und Erinnerungen. Wir blicken beim Lesen noch in viele Köpfe von den betroffenen Protagonisten, und lernen mit ihnen alles aus ihrem Blickwinkel zusehen. Da ist Luke Mutter, eine Interessante Frau und erfährt wie sie mit dem ganzen umgeht, da sind ja auch noch die Gerüchte um ihren Sohn, und noch so vieles was sie verkraften muss. Zum Ende wird man langsam erlöst und die einzelnen Puzzelsteine setzen sich zu einem Bild zusammen und es kommt die ganze Wahrheit ans Licht. June erlebt viel Mitmenschlichkeit, als sie am Ende ist, und in ihrem Loch aus dunkler Trauer, Erinnerungen und Verzweiflung versinkt.Ob, sie die helfende Hand annimmt , die sie da rausholen kann ? Das alles ist sehr schön und Gefühlvoll beschrieben...........



    Meine Meinung zur Autorin:


    Ich gebe zu am Anfang hatte ich Probleme mit dem Buch, da die Schriftstellern, jedem ihrem Protagonisten ein eigenes Kapitel gewidmet hatte. Einfacher wäre es gewesen, sie hätte alles Chronologisch erzählt. Sie erzählt in diesen Kapitel alles aus der Sicht der einzelnen Betroffenen.


    Es ist wie ein Kaleidoskop , man erfährt alles aus anderen Blickwinkeln, bunt durcheinander gewürfelt, bei dem sich aber alles zum Ende diese Teile zu einem Bild zusammensetzen. Sie versteht es geschickt mit den Gefühlen ihrer Leser und Figuren zu spielen, und sie unbewusst beim Lesen in die Geschichte mit einzubeziehen. Ich mochte ihren flüssigen und Gefühlvollen Schreibstil, der etwas magisches an sich hatte. Ihren Figuren hat sie Leben eingehaucht, sie sind aus Fleisch und Blut. Mit sehr viel Liebe und Feingefühl erzählt sie diese tragische Geschichte, aber auch vonMitgefühl, Mut und Hoffnung. Wahrlich kein einfaches Buch, es hat schon einen gewissen und forderten Anspruch.


    Ich habe dem Buch 4 Sterne verliehen - 8 Eulenpunkte


    :lesend