'Was vom Tage übrigblieb' - Seiten 057 - 154

  • Ich bin erst auf Seite 82 und möchte doch jetzt schon ein paar Gedanken los werden.


    Mich bewegt sehr, das Altern des Mr. Stevens senior mitzuerleben. Was passiert eigentlich mit "ausrangiertem" Personal?
    Auch die beengte Kammer, in der der alte Herr hausen muss, ist seiner nicht würdig. Mein erster Gedanke war, dass der junge Stevens doch tauschen sollte. Er hat sicherlich ein besseres Zimmer, sogar mehrere, wenn ich das richtig verstanden habe.


    Auch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist sehr gut beschrieben. Äußerst förmlich, was sicherlich der Zeit und dem Beruf geschuldet ist. Die Peinlichkeit, seinen Vater zu einem Gespräch bitten zu müssen, arbeitet Ishiguro sehr gut heraus.


    Die Szene, in der Miss Kenton Stevens darauf aufmerksam machen will, dass sein Vater schwächer wird, ist spannend. Sie schleicht wie die Katze um den heißen Brei, Stevens wiederum versteht die ersten Andeutungen nicht. Zunächst dachte ich, dass Miss Kenton dem jungen Stevens an den Karren fahren will, jetzt denke ich jedoch, dass sie mit dem alten Stevens Mitleid hat und dem "blinden" Sohn auf die Sprünge hilft, damit der Vater nicht entlassen wird. Sie verhindert wahrscheinlich eine große Katastrophe.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Rückblick in 1922, als Miss Kenton und Stevens Vater zeitgleich in Darlington Hall anfangen. Den Dialogen zwischen Stevens Jr. und Mis Kenton fehlt eine gewisse Scharfzüngigkeit nicht. Gut, dass sich Miss Kenton nichts gefallen lässt. Sie gefällt mir gut, da sie um ihre Fähigkeiten weiß und entsprechen selbstbewusst, aber auch klug auftritt. Das ist viel bereichender als ein passives Verhalten.


    Kennzeichnend für den Roman ist dann die Stelle, als sich Stevens in seinen Erinnerungen nicht mehr sicher ist, dass Miss Kenton das so gesagt hat.


    Erinnerungen sind wegen dem subjektiven Empfinden so brüchig und unzuverlässig. Die meisten Romane ignorieren dies. Dabei muss man sich das klar machen, um wirklich das Vergangene reflektieren zu können.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Rückblick in 1922, als Miss Kenton und Stevens Vater zeitgleich in Darlington Hall anfangen. Den Dialogen zwischen Stevens Jr. und Mis Kenton fehlt eine gewisse Scharfzüngigkeit nicht. Gut, dass sich Miss Kenton nichts gefallen lässt. Sie gefällt mir gut, da sie um ihre Fähigkeiten weiß und entsprechen selbstbewusst, aber auch klug auftritt. Das ist viel bereichender als ein passives Verhalten.
    ...


    :write Mr gefällt der Schlagabtausch zwischen den beiden auch sehr gut. Er bringt Würze ins Geschehen und zeigt zugleich deutlich einige Charaktereigenschaften der beiden Protagonisten. Beide haben einen gewissen Stolz und wollen ihre Arbeit unbedingt perfekt erledigen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Herr Palomar


    Aber zu einem Sturz beim Servieren im Garten ist es dann ja anscheinend doch gekommen.


    Ich meinte, ein Ungeschick oder Unglück während der bevorstehenden Konferenz.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Kennzeichnend für den Roman ist dann die Stelle, als sich Stevens in seinen Erinnerungen nicht mehr sicher ist, dass Miss Kenton das so gesagt hat.


    Erinnerungen sind wegen dem subjektiven Empfinden so brüchig und unzuverlässig. Die meisten Romane ignorieren dies. Dabei muss man sich das klar machen, um wirklich das Vergangene reflektieren zu können.


    Wahre Worte, Herr Palomar!
    Ich muss gestehen, dass ich das so noch gar nicht betrachtet hatte. Dass Stevens ein bisschen an seinen Erinnerungen zweifelt hat ihn mir noch sympathischer und menschlicher gemacht.



    Zitat

    Original von Regenfisch


    :write Mr gefällt der Schlagabtausch zwischen den beiden auch sehr gut. Er bringt Würze ins Geschehen und zeigt zugleich deutlich einige Charaktereigenschaften der beiden Protagonisten. Beide haben einen gewissen Stolz und wollen ihre Arbeit unbedingt perfekt erledigen.


    Diese Szenen habe ich mit grossem Genuss gelesen. :-] Da sind zwei Charaktere, die aneinander geraten und sich dennoch tief im Inneren sehr schätzen. Die beiden ergänzen sich wunderbar - sowohl menschlich als auch auf der professionellen Ebene. Ich freue mich jedenfalls auf das Aufeinandertreffen der beiden nach so vielen Jahren.

  • ...

    Zitat

    Original von Regenfisch


    :write Mr gefällt der Schlagabtausch zwischen den beiden auch sehr gut. Er bringt Würze ins Geschehen und zeigt zugleich deutlich einige Charaktereigenschaften der beiden Protagonisten. Beide haben einen gewissen Stolz und wollen ihre Arbeit unbedingt perfekt erledigen.


    Diese Szenen habe ich mit grossem Genuss gelesen. :-] Da sind zwei Charaktere, die aneinander geraten und sich dennoch tief im Inneren sehr schätzen. Die beiden ergänzen sich wunderbar - sowohl menschlich als auch auf der professionellen Ebene. Ich freue mich jedenfalls auf das Aufeinandertreffen der beiden nach so vielen Jahren.[/quote]
    Ich bin jetzt fast durch mit diesem Abschnitt und die Umsichtigkeit und das Taktgefühl, mit der Miss Kenton das Sterben begleitet und Stevens davon berichtet, zeigt ihre Größe.
    Sie wirft ihren Vorsatz über Bord, mit ihm nur noch schriftlich zu verkehren und ist einfach da.
    Sie beeindruckt mich sehr.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Die Bedeutung und das Ansehen Lord Darlingtons in England , ja in Europa, scheint zwischen den Kriegen bedeutend gewesen zu sein.
    Ob es wirklich solche Zusammenkünfte gab? Bisher war mein Bild großer englischer Herrenhäuser sehr von den englischen Krimis geprägt. Da wurde nur Tennis gespielt, gejagt, Golf gespielt und Ehen angebandelt. :lache


    Sehr brisant, diese Delegation, die die Lockerung der Friedensvereinbarungen von Versailles anstreben.


    Sehr auffallend auch am Ende des Abschnittes ist die Distanz, die Stevens jetzt, in der Gegenwart, zu Lord Darlington einnimmt. Ob das mit seiner Rolle während des 2. Weltkrieges zu tun hat? Ich bin gespannt. Wahrscheinlich hat er seine "Freundlichkeit" Deutschland gegenüber aufrecht erhalten.
    Ich finde das ganz befremdlich zu lesen, dass ein Engländer wie Lord Darlington Mitleid mit den Deutschen empfindet oder sogar meint, es sei ihnen Unrecht geschehen.
    Aber im Moment befindet sich die Gewchichte ja auch noch vor dem 2. Weltkrieg.


    Wie empfindet ihr die Geschichte, dass das Verhältnis eines Butlers zu seinem Dienstherren wie das zu einem Expartner sei? Ist das eine Ausrede oder war das wirklich so? Oder wollte Stevens nur nicht zu Lord Darlington Stellung beziehen?


    Und wie muss sich ein Butler verhalten, wenn die politische Einstellung seines Dienstherrens ganz entgegen der eigenen Überzeugung ist, wenn sein "moralischer Status" in Verruf gerät?


    [SIZE=7]Edit ergänzt einen Buchstaben.[/SIZE]

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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  • Zitat

    Original von Regenfisch
    ...
    Mich bewegt sehr, das Altern des Mr. Stevens senior mitzuerleben. Was passiert eigentlich mit "ausrangiertem" Personal?
    Auch die beengte Kammer, in der der alte Herr hausen muss, ist seiner nicht würdig. Mein erster Gedanke war, dass der junge Stevens doch tauschen sollte. Er hat sicherlich ein besseres Zimmer, sogar mehrere, wenn ich das richtig verstanden habe.


    Ich fand das auch schlimm, aber er konnte sicher froh sein, dass er dort unterkam und leben und auch noch arbeiten konnte. Wovon hätte er sonst leben sollen...
    Die Unterbringung richtete sich wohl ganz nach der Stellung. Davon wurde auch nicht abgewichen. Miss Kenton sagte ja auch erst, dass Stevens senior ihr unterstellt sei und reif ihn darauf hin bei seinem Vornamen.


    Zitat

    Auch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist sehr gut beschrieben. Äußerst förmlich, was sicherlich der Zeit und dem Beruf geschuldet ist. Die Peinlichkeit, seinen Vater zu einem Gespräch bitten zu müssen, arbeitet Ishiguro sehr gut heraus.


    Alles ist ganz fein gezeichnet und ein großer Lesegenuss.
    Mich erstaunt immer wieder an verschiedenen Stellen, dass die ganze Welt von Mr. Stevens aus seiner Arbeit besteht, seiner Würde und dem Nachdenken darüber. Zum Beispiel denkt und sinniert er über mehrere Seiten über Silberbesteck, das richtige Putzen und die Bedeutung von korrekt gereinigtem Silber. Gefühle lässt er nur in kurzen Momenten und nur ganz wenig zu, so dass fast der Eindruck entsteht, dass er keine hat.

  • Zitat

    Original von Regenfisch
    Die Bedeutung und das Ansehen Lord Darlingtons in England , ja in Europa, scheint zwischen den Kriegen bedeutend gewesen zu sein.
    Ob es wirklich solche Zusammenkünfte gab? Bisher war mein Bild großer englischer Herrenhäuser sehr von den englischen Krimis geprägt. Da wurde nur Tennis gespielt, gejagt, Golf gespielt und Ehen angebandelt. :lache


    Ich weiß nicht, ob das einen realen Hintergrund hat. Mein Bild englischer Herrenhäuser deckt sich auch eher mit deinem bisherigen. :lache


    Zitat

    Sehr auffallend auch am Ende des Abschnittes ist die Distanz, die Stevens jetzt, in der Gegenwart, zu Lord Darlington einnimmt. Ob das mit seiner Rolle während des 2. Weltkrieges zu tun hat? Ich bin gespannt. Wahrscheinlich hat er seine "Freundlichkeit" Deutschland gegenüber aufrecht erhalten.
    Ich finde das ganz befremdlich zu lesen, das ein Engländer wie Lord Darlington Mitleid mit den Deutschen empfindet oder sogar meint, es sei ihnen Unrecht geschehen.
    Aber im Moment befindet sich die Gewchichte ja auch noch vor dem 2. Weltkrieg.


    Ich dachte, dass diese sich aufbauende Distanz, neben der professionellen, sich vergrößerte, als Lord Darlington ihm auftrug,

    . Da gab es einen Bruch.


    Zitat

    Wie empfindet ihr die Geschichte, dass das Verhältnis eines Butlers zu seinem Dienstherren wie das zu einem Expartner sei? Ist das eine Ausrede oder war das wirklich so? Oder wollte Stevens nur nicht zu Lord Darlington Stellung beziehen?


    Der Butler lebt, wenn er seine Sache zur Zufriedenheit macht, fast sein ganzes Leben im hause seines Dienstherren. Die gegenseitigen Abhängigkeiten und das Maß der Loyalität müssen wirklich groß sein. Sagt Stevens das mit dem Expartner? Dann muss ich das wohl überlesen haben, aber es passt wohl. War es an der Stelle, als er nicht von seinem früheren Herren erzählen wollte, ja nicht mal dessen Namen erwähnen? Vielleicht ist es auch nur nicht mit seinem Berufsethos zu vereinbaren aus dem Nähkästchen zu plaudern.


    Edit: ich habe gespoilert, weil ich ein bisschen über das Abschnittsende gerutscht bin. Sorry!

    - Freiheit, die den Himmel streift -

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  • Zitat

    Original von Regenfisch


    Ich meinte, ein Ungeschick oder Unglück während der bevorstehenden Konferenz.


    Für Stevens Senior bedeutet das den beruflichen Absturz, eigentlich sogar seine Vernichtung!



    Zitat

    Original von Regenfisch
    Und wie muss sich ein Butler verhalten, wenn die politische Einstellung seines Dienstherrens ganz entgegen der eigenen Überzeugung ist, wenn sein "moralischer Status" in Verruf gerät?


    Das ist sicher eins der ganz großen Themen in diesem Roman.


    Von einem Butler erwartet man ein hohes Maß an Loyalität, sonst ist er in seiner Funktion sinnlos.
    Aber es gibt doch irgendwie Grenzen! Nur werden diese oft erst hinterher erkannt.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar


    Das ist sicher eins der ganz großen Themen in diesem Roman.


    Von einem Butler erwartet man ein hohes Maß an Loyalität, sonst ist er in seiner Funktion sinnlos.
    Aber es gibt doch irgendwie Grenzen! Nur werden diese oft erst hinterher erkannt.


    Wie weit muss diese Loyalität gehen? Das frage ich mich beim lesen. Der Tag des Butlers vergeht mit viel Arbeit in einer Art Selbstverleugnung, denn man ist seine Funktion, nicht man selbst als Mensch. Der Mensch hinter der Fassade interessiert keinen.
    Man Merkt Stevens eine große Unsicherheit beim Ausdrücken von Gefühlen, ja selbst des Erkennens solche, an, weil er sie nie zulassen kann, nie nutzen und danach handeln. Ein hartes Leben!

  • Dieses Nichtzulassen von Emotionen steckt tief in Stevens.
    Das merkt man besonders in der Szene, als er seinen Vater das letzte mal sah.
    Der Vater wollte mit seinem Sohn reden, dass er stolz auf ihn sein und ob er ein guter Vater war.
    Aber Stevens wehrt nur ab, mit den Worten "Ich bin so froh, dass es Vater jetzt besser geht". Mehr Nähe lässt er nicht zu. Das finde ich tragisch für eine letzte Begegnung im Leben.


  • Wo sagt er das denn? Das habe ich wohl überlesen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Dieses Nichtzulassen von Emotionen steckt tief in Stevens.
    Das merkt man besonders in der Szene, als er seinen Vater das letzte mal sah.
    Der Vater wollte mit seinem Sohn reden, dass er stolz auf ihn sein und ob er ein guter Vater war.
    Aber Stevens wehrt nur ab, mit den Worten "Ich bin so froh, dass es Vater jetzt besser geht". Mehr Nähe lässt er nicht zu. Das finde ich tragisch für eine letzte Begegnung im Leben.


    :write
    Das empfinde ich auch so. Eigentlich schrecklich, wenn man selbst in diesem Moment keine Nähe geben kann. Ob er sie auch nicht empfunden hat, glaube ich nicht.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    ...


    Von einem Butler erwartet man ein hohes Maß an Loyalität, sonst ist er in seiner Funktion sinnlos.
    Aber es gibt doch irgendwie Grenzen! Nur werden diese oft erst hinterher erkannt.


    Spannend! Das ist sicherlich eine innere Zerreißprobe.


    Obwohl vor diesem Problem während des Nationalsozialismus viele standen.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Regenfisch


    Ich dachte, dass diese sich aufbauende Distanz, neben der professionellen, sich vergrößerte, als Lord Darlington ihm auftrug,

    . Da gab es einen Bruch.
    ...


    Wo sagt er das denn? Das habe ich wohl überlesen.[/quote]


    Oh weh, da habe ich vor lauter Spannung etwas drüber gelesen. Das kommt am Anfang des dritten Abschnittes. Tut mir Leid! Aber es passt auch gerade so gut hin. :wow

  • Zitat

    Original von Clare
    [quote]Original von Regenfisch
    ...
    Mich bewegt sehr, das Altern des Mr. Stevens senior mitzuerleben. Was passiert eigentlich mit "ausrangiertem" Personal?
    Auch die beengte Kammer, in der der alte Herr hausen muss, ist seiner nicht würdig. Mein erster Gedanke war, dass der junge Stevens doch tauschen sollte. Er hat sicherlich ein besseres Zimmer, sogar mehrere, wenn ich das richtig verstanden habe.


    Ich fand das auch schlimm, aber er konnte sicher froh sein, dass er dort unterkam und leben und auch noch arbeiten konnte. Wovon hätte er sonst leben sollen...
    Die Unterbringung richtete sich wohl ganz nach der Stellung. Davon wurde auch nicht abgewichen. Miss Kenton sagte ja auch erst, dass Stevens senior ihr unterstellt sei und reif ihn darauf hin bei seinem Vornamen.