Graeme Macrae Burnet: Sein blutiges Projekt. Der Fall Roderick Macrae
Europa Verlag 2017. 344 Seiten
ISBN-13: 978-3958900554. 17,99€
Originaltitel: His Bloody Project. Documents relating to the case of Roderick Macrae
Übersetzerin: Claudia Feldmann
Verlagstext
August 1869: Ein verschlafenes Bauerndorf an der Westküste Schottlands wird von einem brutalen Dreifachmord erschüttert. Der Täter ist rasch gefunden. Doch was trieb den 17-jährigen Roderick Macrae, Sohn eines armen Pächters, dazu, drei Menschen auf bestialische Weise zu erschlagen? Während Roddy im Gefängnis auf seinen Prozess wartet, stellen die scharfsinnigsten Ärzte und Ermittler des Landes Nachforschungen an, um seine Beweggründe aufzudecken. Ist der eigenbrötlerische Bauernjunge geisteskrank? Roddys Schicksal hängt nun einzig und allein von den Überzeugungskünsten seines Rechtsbeistandes ab, der in einem spektakulären Prozess alles daransetzt, Roderick vor dem Galgen zu bewahren. Sein brillanter Spannungsroman offenbart Graeme Macrae Burnet als außergewöhnliche neue Stimme im Genre des psychologischen Thrillers. Mühelos versetzt er den Leser mitten ins Schottland des 19. Jahrhunderts und zu den Anfängen der Kriminalpsychologie. Kunstvoll verquickt er dabei Rodericks eigene Aufzeichnungen mit Gerichtsunterlagen, medizinischen Gutachten und der Prozessberichterstattung. Während er die Annahmen der Leser über die eigentlichen Tathintergründe immer wieder raffiniert ins Leere laufen lässt, enthüllt sich die dunkle Wahrheit erst in einem fulminanten Gerichtsdrama.
Der Autor
Graeme Macrae Burnet, geboren 1967 in Kilmarnock, Schottland, studierte Englische Literatur in Glasgow. Er schreibt seit seiner Jugend und wurde 2013 mit dem Scottish Book Trust New Writer’s Award ausgezeichnet. Sein Debütroman The Disappearance of Adèle Bedeau, der in seiner schottischen Heimat zum Kulthit wurde, erscheint im Europa Verlag im Herbst 2017. Er lebt und schreibt in Glasgow.
Inhalt
Im Jahr 1869 soll der 17-jährige Kleinbauernsohn Roderick Macrae den Nachbarn der Familie und zwei weitere Personen erschlagen haben. Auf Wunsch seines Verteidigers Sinclair schreibt Roderick im Gefängnis von Inverness seine Lebenserinnerungen nieder, während er auf seinen Prozess wartet. Roderick folgt diesem Wunsch aus Achtung gegenüber seinem Rechtsbeistand, der nahezu der Einzige ist, der den Jungen wie einen Menschen behandelt. Roderick stammt aus einem Dorf mit 9 Häusern, das in Sichtweite der Isle auf Skye an der schottischen Küste liegt. Die Bauern sind Pächter eines Großgrundbesitzers, dem sie Hand- und Spanndienste zu leisten haben, der von ihnen jedoch sonst nicht weiter behelligt werden will. Die Gerichtsbarkeit wird von einem Constable ausgeübt, der Gemeinschaftsarbeiten organisieren und Konflikte schlichten soll. In Culduie übt Lachlan Mackenzie dieses Amt mit gnadenloser Härte aus. Speziell Rodericks Vater John wird in eine aussichtslose Situation getrieben, aus der es keinen Ausweg geben kann. Die unselige Verknüpfung von Großgrundbesitz und Ausbeutung ist so verfahren und durch Gleichgültigkeit der Herrschenden gestützt, dass es selbst der cleveren Carmina Murchison vor Gericht schwerfallen wird, die Vorgeschichte der Ereignisse in Worte zu fassen. Da Roderick sich schuldig an der Situation seiner Familie fühlt, tötet er Lachlan, um seinen Vater von den Widrigkeiten zu befreien, die er durch den Mann erleidet.
Graeme Macrae Burnet legt im Kostüm eines True-Crime-Romans eine messerscharf formulierte Sozialstudie der Lebensbedingungen schottischer Kleinbauern vor. Dabei entlarvt er den Rassismus der zur damaligen Zeit herrschenden Klasse, der im Windschatten vorgeblicher Wissenschaftlichkeit auftritt. Ebenso wird die fragwürdige Rolle der Kirche demaskiert, die die feudalen Zustände stützte und einer verhungernden Bevölkerung nicht mehr zu bieten hatte als Kritik an ihrer mangelnden Gläubigkeit. Die Zeugenaussagen, die der Autor zusammenstellt, entlarven eher deren Urheber und ihre Schwächen, als dass sie zum Persönlichkeitsbild von Roderick beitragen. Die Begutachtung von Rodericks Zurechnungsfähigkeit wirkt wie purer Sarkasmus, wenn zu Zeiten eines ausgeprägten Aberglaubens das Mitglied einer Familie mit Verbindungen zur „Anderen Welt“ darauf untersucht wird, ob es über Dinge spricht, die nicht zu sehen sind.
Der Roman besteht formal aus einem Vorwort von Macrae Burnet als Herausgeber, Rodericks Erinnerungen, Zeugenaussagen, der ärztlichen und psychiatrischen Begutachtung des Gefangenen und Zeitungsartikeln zum Prozess. Zusammen mit Fußnoten und einer Karte des Dorfes wirkt der Text dadurch sehr authentisch und glaubwürdig. Ehe ich herausfand, wie der Verteidiger Sinclair seine Verteidigungsstrategie aufgebaut hat, konnte ich der Erzählperspektive lange nicht trauen. Lese ich einen Psychothriller, einen historischen Krimi oder doch die Dokumentation eines realen Falles?, habe ich mich gefragt. Das Rätseln, ob ein einfacher Bauernjunge Rodericks Text geschrieben haben kann und was Sinclair mit dem Bericht bezweckt, sorgte für eine so hohe Spannung, dass ich das Buch mit einer kurzen Pause in einem Zug gelesen habe. Der raffinierte Plot, Rodericks feine Beobachtungsgabe und Burnets sozialkritischer Unterton ergänzen sich zu einem herausragenden, äußerst spannenden Roman.
9 von 10 Punkten