Null
Kürzlich war ich mit meinem Sohn im "Miniatur-Wunderland", um diese ziemlich große Modelleisenbahnanlage anzuschauen, die in der Hamburger Speicherstadt zu sehen ist. Fraglos eine beeindruckende Leistung, die die Modellbauer da in jahrelanger, akribischer Handarbeit vollbracht haben. Die Anlage ist riesig, dabei ungeheuer detailreich und tatsächlich schön anzusehen, wenn man so etwas mag. Nein, nicht nur dann.
Aber es ist trotzdem nur eine Modelleisenbahn. Eine sehr große, ja, aber eben eine Modelleisenbahn. Und es gibt wirklich spannendere Dinge auf diesem Planeten als ausgerechnet Modelleisenbahnen. Ganz egal, wie groß sie sind. Zum Beispiel Fusionsreaktoren. Oder Ameisenhaufen. Regenwälder. Friedensdemonstrationen. Radiohead-Konzerte.
So ähnlich wie nach dem Besuch des Mini-Wunderlandes kam ich mir vor, als ich die letzte Seite von "4 3 2 1" gelesen hatte, dieses, wie allenthalben behauptet wird, Opus Magnums des Amerikaners Paul Auster, der mit der großartigen Siri Hustvedt verheiratet ist und tolle Geschichten wie "Im Land der letzten Dinge", "Timbuktu" oder "Die New York-Trilogie" vorgelegt hat.
Fraglos ist dieses Buch mit dem Countdown-Titel ein richtig fetter Roman - es hat über 1.200 Seiten -, und es enthält ganz viel amerikanische Geschichte (bzw. knapp 30 Jahre davon, die aber hochverdichtet), einen Sack voll äußerst kluger Sätze und jede Menge kulturelles Namedropping. Sogar promovierte Literaturwissenschaftler dürften sich beim Lesen des mehrfach in verschiedenen Varianten heruntergeleierten Literaturkanons nahezu ungebildet vorkommen (und erst recht angesichts der Leistung der Hauptfigur, in Vorbereitung einer journalistischen Arbeit "hunderte Bücher" und "tausende Zeitungsartikel" in zwei, drei Wochen zu lesen), und ein paar Sentenzen, die teilweise über mehrere Seiten reichen, sind mindestens einprägsam. Aber dennoch. Es ist unterm Strich eine ziemlich banale Geschichte, die da erzählt wird.
Schlimmer noch.
Eine belanglose.
Eine uninteressante.
Es ist die Geschichte von Archie Fergusson, Enkel russischer Einwanderer, Sohn eines Einzelhändlers und einer begabten Fotografin. Genauer: Es sind die Geschichten. Denn als Archie im Jugendalter ist, spaltet sich der Roman in vier Teile, die parallel von vier Schicksalen erzählen, die Archie zustoßen, weil er sich hier oder da in Teil zwei, drei oder vier anders entschieden hat als in Teil eins. Oder umgekehrt. Oder wie auch immer.
Highschool, College, erste Liebe, Talentfindung, Karriereentscheidung. Familie und Familiengeschichten. Dazu Vietnam und Kuba und Nixon und Kennedy und Studentenunruhen und Rassenhass und immer wieder Bücher und Filme und Newark und New York. Kurze Geldsorgen, die aber regelmäßig plötzlich und endgültig gelöst werden. Die Verliebtheit in Amy, die Tochter des Arbeitgebers der Mutter, die in Strang 4 zur Stiefschwester wird und deshalb tabu ist. Solche Sachen. Ein Archie stirbt früh, ein anderer nicht ganz so früh, aber auch noch deutlich zu früh. Dieser Archie - Strang 2 oder 3 - ist, wie dort behauptet wird, bisexuell, eigentlich aber ohne Zweifel homosexuell, wird, wie man sich das so vorstellt, bei einer zufälligen Begegnung in einem dunklen Kino quasi infiziert, während die anderen drei Archies keine solchen Neigungen empfinden - und auch für diesen ist es ziemlich überraschend. Der Sex, den der schwule Archie hat, wird in deutlich vulgärerer Sprache geschildert als derjenige, den seine heterosexuellen Vierlinge haben. Ich empfand diesen Strang als unangenehm, als klischeehaft und gleichsam ... albern. Und außerdem kam er mir zwischen den Zeilen ein wenig homophob vor. Geschenkt.
Jeder Archie Fergusson ist ungeheuer klug und sehr sensibel und irre ehrlich und äußerst loyal. Er ist kulturell begeistert und quasi ein Schwamm für intelligente Filme und Bücher. Er ist dazu in der Lage, sich von der Lektüre eines einzigen Buchs so beeindrucken zu lassen, dass sich sein Leben vollständig ändern kann. Er schreibt, schreibt sehr gut, entweder Geschichten oder Romane oder Zeitungsartikel oder Übersetzungen. Er ist sportlich.
Er ist ein Abziehbild. Ein Mann ohne Eigenschaften, emotional flach, mäßig engagiert, belanglos, ambitionsarm, uninteressant. Er ist stinklangweilig. Dieses ganze, ungeheuer dicke Buch ist ungeheuer langweilig. Eine endlose, zielfreie Verneigung vor dem Intellekt, vor allem vor dem eigenen, also Paul Austers Intellekt, der sich in seiner vervielfachten Romanfigur spiegeln soll. Aber auch innerhalb der Handlung genießen nur solche Personen Respekt, die über einen mindestens vierstelligen IQ verfügen und aus dem Kopf Baudelaires Gesamtwerk zitieren können, während sie auf den Händen stehen und mit den Ohren Escher-Zeichnungen abpausen. Ansonsten erzählt Auster wenig, genauer: nahezu nichts, und wenn es mal kurz zu Action kommt, etwa zu tödlichen Unfällen, wird er plötzlich hastig, während drumherum die überwiegend daherbehaupteten, in gebirgigen Satzmonstren versteckten Geschehnisse vor sich hin mäandern, als gäbe es Extralob für erzählerische Langsamkeit. Erhellend und auch wenigstens marginal packend sind vielleicht die Schilderungen vom Campus der Columbia University während der Besetzungen, da werden einige dieser blassen Wasserköpfe farbig, bekommen Konturen und Charakter. Auf dreißig, vierzig von über tausendzweihundert Seiten.
Am enttäuschendsten ist jedoch, was Auster aus der Ausgangssituation gemacht hat. Die Fragestellung des Romans - What if? - wird nicht beantwortet, weil sich die Stränge erstens kaum unterscheiden, vor allem aber, weil es zweitens keine Vergleichsmöglichkeit gibt, von den Todeszeitpunkten der Figurenvarianten abgesehen. Es ist nicht zu ermitteln, welcher Archie glücklicher oder zufriedener oder sonstwie anders ist, weil die Hauptfigur wie eine zappelnde Marionette willfährig durch geringfügig geänderte Kulissen stolpert, ohne je gegen die Strippenzieherei aufzumucken. Dadurch liest man vier sehr ähnliche Geschichten, die, wie erwähnt, genau genommen nichts erzählen, außer vom Erwachsenwerden eines begabten, intelligenten Amerikaners aus den Fünfzigern.
Fraglos hat Paul Auster eine sehr ordentliche, bemerkenswerte Leistung abgeliefert. Wie diese Bastler in Hamburg. Aber wenn der einzige Grund dafür, vor Ehrfurcht in die Knie zu gehen, derjenige sein soll, dass die Schwarte ziemlich fett ist, dann ist zumindest mir das deutlich zu wenig. Mehr habe ich zwischen diesen Buchdeckeln aber leider nicht vorgefunden.