Paul Auster - 4 3 2 1

  • Titel: 4 3 2 1
    Autor: Paul Auster
    Übersetzt aus dem Englischen von: Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl
    Verlag: Rowohlt
    Erschienen: Februar 2017
    Seitenzahl: 1264
    ISBN-10: 3498000977
    ISBN-13: 978-3498000974
    Preis: 29.95 EUR


    1264 Seiten beeindruckende Erzählkunst liegen hinter mir. Ein Roman der unter Garantie noch lange nachhallen wird.


    Worum geht es in diesem grandiosen Werk von Paul Auster?
    Es geht um Archibald Ferguson, genannt „Archie“. Gleich in vier Variationen erscheint Archie in diesem Roman. Es sind Variationen nach dem Motto: „Was wäre wenn.....“.


    „Was für ein interessanter Gedanke", sagt er sich als kleiner Junge, "sich vorzustellen, wie für ihn alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe. Ja, alles war möglich, und nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen konnte."


    Und es geschieht eben auch auf andere Weise. Herausgekommen ist ein grandioses Familienepos, eine Reise durch die Zeitgeschichte – von Hiroshima bis Vietnam, die Ermordung Kennedys einbeziehend, eine Jugendzeit in den Fünfzigern und Sechzigern – ein amerikanisches Leben.


    Und es geht Paul Auster auch um die Macht des Zufalls. Dieses „Was wäre wenn.....“. Es ist eben der Zufall der über ein menschliches Schicksal entscheidet. Es geht aber auch das Verhäktnis von Illusion und Realität und um die Phantasie und um das was wirklich existiert. Aber eben auch ein Roman um die nostalgische Verklärung unserer Gedanken, wenn wir uns zurückerinnern. Paul Auster macht deutlich, dass in der Rückschau vieles anders daherkommt, als es war, als man es real erlebte. Die Zeit streicht viele Unebenheiten glatt.


    Dieser Roman kann wohl ohne Zweifel als das Hauptwerk Paul Austers bezeichnet werden, sein „Opus magnum“. Paul Auster sagt selbst über sein Werk: „Parabel über das menschliche Schicksal und die sich endlos gabelnden Wege, denen sich ein Mensch auf seinem Gang durchs Leben stellen muss".


    Es ist unglaublich beeindruckend, mit welcher Empathie Paul Auster seine Figuren zeichnet, mit welcher Hingabe er ihnen quasi auf diesen Buchseiten ein „ganz besonderes Leben einhaucht“. Ein Roman in dem man als Leser eintaucht und eigentlich erst nach dem Lesen der 1264 Seiten wieder an der Oberfläche erscheint. Auch wenn das Tauchen einige Tage dauert, so kommt man mit einem Leseatemzug aus, denn auch dann, wenn man – aus welchen Gründen auch immer – gerade nicht liest, so ist diese erzählte Geschichte mehr


    Eigentlich kein Buch für die Handtasche oder für die Fahrt mit der U-Bahn – dafür ist es einfach zu schwer und unhandlich. Eigentlich! Aber wenn man erst einmal begonnen hat, dann wird das Buch wohl schon selbst dafür sorgen, das man es überall mit hinschleppt – wie auch immer.


    Ein großartiger Roman. Mehr als lesenswert. Ein Highlight – nicht nur in diesem Jahr. 10 Eulenpunkte, obwohl ich gern mindestens 50 Punkte gegeben hätte.


    So, das soll es dann aber auch gewesen sein......

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Voltaire ()

  • Ich habe mir das Buch gekauft und bin sehr gespannt. Die gebundene englische Ausgabe kostet übrigens nur 17,99, falls es für jemanden in Frage kommt.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • @ Voltaire


    ich habe gestern abend die Leseprobe gelesen, die ich sehr ansprechend finde. Was mich noch ein bißchen zweifeln läßt, ist die Frage, ob sich durch die Konstruktion der Geschichte nicht sehr viele zwangsläufige Wiederholungen ergeben.


    Wie hast Du das wahrgenommen?

  • Ich habe die Leseprobe und die Rezi hier gelesen, sie hat mich sehr neugierig auf sein neues Buch gemacht. Ich werde es lesen, aber ich warte bis zur TB Ausgabe, 30 Euro sind doch sehr hoch.
    Vielleicht hat es ja auch meine Bücherei vorrätig :lesend

  • Unsere Geburt ist ein Zufall mit einer äußerst geringen Wahrscheinlichkeit und doch existieren wir. Ist die Bilanz unseres Lebens auch nichts anderes als die Summe zahlreicher Zufälle? Oder gibt es so etwas wie eine Identität (oder eine Seele), die unser besonderes Leben ausmacht - so gut wie allen Zufällen zum Trotz?


    Paul Auster schildert vier mögliche Leben und tatsächlich gibt es Anhaltspunkte für ein quasi unveränderliches Teilleben in allen möglichen. Beim Protagonisten sind der Sport in jungen Jahren, das Schreiben in der Jugend sowie die Liebe zu einer Frau wesentliche Bestandteile in allen vier möglichen Leben. Aber vielleicht ist das auch nur ein Zufall.


    Selbst wenn die Zufälle an den Schicksalspunkten das Leben in eine andere Richtung treiben, verlaufen die Lebensbahnen doch nicht völlig anders. Gibt es doch eine Disposition, die die Unendlichkeit möglicher Entwicklungen einschränkt? Das wird jeder Leser am Ende für sich selbst entscheiden und das ist auch gut so.


    Auster versteht es, über die Banalität des Alltags fesselnd zu schreiben. Sein Kernthema Zufall, der alles verändert und das Leben zu dem eines scheinbar Anderen machen könnte, hat er großartig verarbeitet. Bei der Anzahl der handelnden Personen wäre weniger mehr gewesen. Ein guter Autor weiß, wie viele Personen er dem Leser zumuten kann. Auf unnötige Details hätte er verzichten können und 400 Seiten weniger hätten dem Buch gutgetan.


    Es empfiehlt sich, das Buch in einem Rutsch zu lesen, denn legt man es zu oft zur Seite, besteht die Gefahr, dass man die vier Leben nicht mehr auseinanderhalten kann.


    Dennoch fehlen mir heute, am Tag 1 ohne Archie, die vier Leben, die mir in den letzten 2 ½ Wochen ans Herz gewachsen sind.

  • Ich bin entschieden anderer Meinung als die bisherigen Rezensenten, kann diesen stinklangweiligen Ziegel kaum hinter mich bringen, der wie eine dunkle Bedrohung auf meinem Nachttisch lauert. Seitenweise belanglose Aufzählungen, aus jedem Pups wird eine elend lange Abhandlung gemacht (Baseball, Laurel & Hardy, solche Sachen), die Figuren sind blass, fast roboterhaft, handeln irrational und/oder verändern sich - und zwar ohne erkennbaren Einfluss - plötzlich, weil's eben passt (was man auch "zufällig" nennen kann, aber ich würde "scheißdrauf" bevorzugen). Von einem Moment zum anderen ist Archie dann plötzlich Schriftsteller, möglicherweise erschlagen und/oder geleitet von Austers zügellosem Namedropping, diesem bildungsbürgerbelehrenden "Du bist ein Idiot, wenn Du den und den nicht kennst". Die vier Handlungsstränge sind kaum zu unterscheiden, der quälende Käse wiederholt sich also auch noch andauernd, und man ist fast froh, dass der eine Archie relativ früh stirbt. Fesselnd? Was soll da fesselnd sein? Es geht um nichts, einfach um überhaupt nichts, außer um den soziokulturellen Missionierungsdrang des Herrn Auster, unechte Figuren und tausendfünfhundert Seiten, die völlig umsonst sterben mussten, um für dieses blöde Buch verschwendet zu werden.


    Rezi folgt, wenn die Folter beendet ist. Noch sechshundert Seiten. Ich lese zwischendrin Will Self zur Erholung. ;-)

  • Zitat

    Klar, so kann man das auch sehen ...


    Danke für die Erlaubnis. :-)


    Ich mochte "Im Land der letzten Dinge" und "Timbuktu". Ansonsten bevorzuge ich von den Romanen, die aus dem fraglichen Haus kommen, inzwischen relativ eindeutig jene, die die Ehefrau verfasst hat.

  • Bitte, gern geschehen. :lache


    Mir hat "Das Buch der Illusionen" am besten gefallen.
    Von der Ehefrau habe ich nur "Der Sommer ohne Männer" gelesen, was mir nicht so gut gefallen hat. Schreiben kann sie, keine Frage!
    Fazit: Viel Gutes kommt aus diesem ehrenwerten "fraglichen Haus"!

  • Ich habe mittlerweile 700 der 850 Seiten (Englische Ausgabe) hinter mich gebracht, und meine anfängliche Begeisterung für das an sich spannende Konzept des Romans ist in Verdruss über Austers Geschwätzigkeit umgeschlagen. Archie als Protagonist fand ich von Beginn an nur wenig mitreißend, und seine pubertären Verwirrungen um Selbstfindung, schulische Ausbildung, erste sexuelle Erfahrungen etc. werden dadurch, dass sie mir gleich in vierfacher Ausführung jeweils ausufernd vergekaut weden, nicht interessanter. Dasselbe gilt für den von Auster ziemlich selbstverliebt heruntergebeteten Film- und Literaturkanon. Beisswenger hat definitiv Recht damit, dass dieser Roman beträchtlich gekürzt gehörte.


    Im Übrigen stelle ich fest, dass mich Geschichte und Figuren sowohl intellektuell wie emotional recht kalt lassen. Archies große und schreckliche Momente, seine Befindlichkeiten, positive wie negative Gefühlswallungen lese ich wohl, allein ich spüre sie nicht. Liegt es an Auster, der mir die handelnden Menschen bis auf wenige Ausnahmen nicht (im Wortsinn) nahezubringen versteht, dies womöglich überhaupt nicht vorhatte, oder fehlt mir einfach ein grundsätzliches Interesse an seinem Personal? Ich bin mir noch nicht sicher, erinnere mich aber, mit Siri Hustvedts "Was ich liebte" ein ähnliches Problem gehabt zu haben:


    Zitat

    Original von harimau
    Das literarisch ausgeleierte Setting (Hochschullehrer und Künstler aus der finanziell gesicherten jüdisch-intellektuellen Klasse im Village - fällt denen einfach nichts Neues ein, oder kennen sie überhaupt nichts anderes?) birgt keine Überraschungen mehr, die intellektuelle Wichtighuberei ("...und dann sprachen wir eine Stunde lang über Adorno") lässt mich bestenfalls nachsichtig schmunzeln.


    Wobei ich betonen möchte, dass Hustvedt in ihrem trotz dieser Kritik sehr guten Roman eine bessere Geschichte besser erzählt.


    Es ist mir selten passiert, dass mein Verhältnis zu einem Roman sich während des Lesens so drastisch verschlechtet hat, aber nachdem ich schon so weit gekommen bin, werde ich auch die letzten 150 Seiten noch durchhalten und danach vermutlich froh sein, nichts weiteres von Archie erfahren zu dürfen / müssen. Schade.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • harimau : Austers bemüht originelle, aber eigentlich sehr knorrige, konservative Erzählweise verwandelt alles in Aufzählungen, wobei das demokratische Nebeneinander von Belanglosem und vermeintlich Dramatischem sämtliche Höhepunkte plättet, die allerdings ohnehin überwiegend im Flachland stattfinden (oder dorthin geweht wurden). Nachdem man seitenweise etwas über den Nahverkehr in New Jersey oder Sportarten in Sommercamps erfahren hat, stirbt irgendwie einer, und dann geht es mit der nächsten Aufzählung weiter. Das Berührtsein der Figuren gliedert sich entsprechend ein, findet aber paradoxerweise nur auf der intellektuellen Ebene statt. Archie spielt kein Baseball mehr, weil sein Sommerkumpel Artie gestorben ist, aber das ist eine so akademische Reaktion und eine so nüchtern-belanglose Verhaltensweise, dass man kaum mehr mitgehen will. Wenn er später dann dem Baseball nachtrauert, lesen sich diese Behauptungen wie lahme Notlügen des Autors.
    Der Film- und Literaturkanon, mit dem Auster hier hausieren geht, eröffnet eine seltsame Metaebene, auf der man, so hatte ich zumindest das Gefühl, erkennen konnte, wo sich Paul Auster gerne sehen würde. Es gibt da diese Szene, die eigentlich keine ist, sondern inmitten einer Aufzählung das Ereignis, die Lektüre von Dostojevskis "Schuld und Sühne", die diesen Archie - Version 4, wenn ich richtig erinnere - dazu bringt, alle Träume und anderen Pläne fortzuwerfen und nunmehr Schriftsteller zu sein. Das ist eindeutig Wunschdenken des Autors, das hier in den Vordergrund drängt - es geht um die Wirkung von Literatur, die tatsächliche und die von Autoren herbeigesehnte. Aus der Figur oder ihrer Entwicklung heraus ergab sich diese plötzliche, überraschende Entscheidung jedenfalls nicht.


    Ich sehe auch das vermeintliche Thema - What if? - nicht so recht, sondern viermal dasselbe Stück in anderer Regie und vor leicht veränderten Kulissen. Außerdem habe ich inzwischen wirklich ausreichend viele fiktive Biografien weißer Mittelschichtler aus dem Großraum New York gelesen. Updikes Harry "Rabbit" Angstrom und Henry Bech waren um Welten interessanter.

  • Hallo Tom,


    mit dem eigentlich dramatischen Todesfall Artie Federmanns und dessen Konsequenzen für Archie nennst du ein gutes Beispiel für einen Vorfall im Roman, der mich berühren könnte / sollte, mich anhand seines Stellenwertes im "Gesamtbrei" sowie der unglaubwürdigen Überhöhung seiner Wirkung aber kalt lässt, und deine Erklärung dafür scheint mir plausibel.


    Auch was "Schuld und Sühne" betrifft, würde ich dir Recht geben: Eines von mehreren "einschneidenden" Erlebnissen Archies, die ich zur Kenntnis nehmen, aber nicht nachvollziehen kann, weil mir Herleitung und Plausibilität fehlen.

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Gut, einige detailverliebte Episoden kamen sicherlich ein wenig oberlehrerhaft daher, allerdings hat mich das nicht besonders gestört. Die 4 Archies haben mich auch nicht besonders berührt, umgehauen oder mitgerissen, aber das ist für mich auch kein Kriterium, einem Buch die Etikette "Gelungen" anzukleben. Sie waren m. E. authentisch und plausibel gezeichnet, ebenso wie alle anderen handelnden Personen. Das reicht mir.


    Im Mittelpunkt stand für mich der Überbau des Ganzen, also das Woher und das Wohin des "What if". Und das hat Auster gut gemacht.


    Richtig störend empfand ich etwas, was Andere als Minor detail und meine Kritik daran als Erbsenzählerei eines Spießers bezeichnen würden:


    :bruell Was zur Hölle hat den Autor dazu bewogen, auf jeder zweiten Seite diese idiotische Redewendung "Soll heißen" einzubauen?

  • Zitat

    Original von beisswenger
    Die 4 Archies haben mich auch nicht besonders berührt, umgehauen oder mitgerissen, aber das ist für mich auch kein Kriterium, einem Buch die Etikette "Gelungen" anzukleben.


    Damit wir uns nicht missverstehen: Ich brauche keinen Sympathieträger als Protagonisten und muss auch nicht emotional mitleiden, aber ich möchte schon Interesse an ihm haben und neugierig gemacht werden, wie die Geschichte sich weiterentwickelt. :wave



    Zitat

    :bruell Was zur Hölle hat den Autor dazu bewogen, auf jeder zweiten Seite diese idiotische Redewendung "Soll heißen" einzubauen?


    Das ist mir in der englischen Fassung erspart geblieben. ;-)

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann