Katherine Paterson ist die einzige Autorin, die mir je untergekommen ist, die in Interviews steif und fest behauptet, daß sie nie habe Schriftstellerin werden wollen. Wenn man bedenkt, daß sie 59 Jahre alt war, als ihr erstes Buch erschien, ist man geneigt, ihr zu glauben. Überdies ist sie als Tochter von Missionaren und selbst jahrelang als Missionarin in Japan tätig sicher der Wahrheit verpflichtet.
Ihr Erfolg ist deshalb umso erstaunlicher. Sie schreibt vor allem Jugendbücher, Mädchenbücher, die sowohl historischen als auch zeitgenössischen Hintergrund haben können. Ihre Hauptfiguren sind in der Regel recht junge Mädchen, halbe Kinder noch, so zwischen 11 und 14 Jahren, die sich mit recht schwierigen Problemen auseinandersetzen müssen. Trennung der Eltern, Heime, das harte Leben auf dem Land im Amerika des 19. Jahrhunderts, Fabrikleben, Verlust von geliebten Geschwistern, die erste Liebe.
Erzählt wird immer aus der Perspektive des jeweiligen Mädchens, in einer klaren Sprache, die nur vermeintlich einfach daher kommt, denn die Worte sitzen! Bei aller Härte, die das Leben so bringt, ist immer Raum für einen Blick auf die Schönheit der Natur, den Charakter anderer Menschen und nicht zuletzt das Komische. Es ist nicht immer eine unbedingt tiefsinnige Lektüre, aber es ist keineswegs leichte Unterhaltung und ddie ernsthaftigkeit, mit der die Hauptfigur immer gezeichnet ist, machen auch diese Geschichte hier zu einer interessanten Lektüre.
Die 13jährige Lyddie lebt mit ihrer Mutter und drei jüngeren Geschwistern auf einem winzigen Bauernhof in Vermont, Neuengland. Das Jahr ist 1843, das Leben, das uns präsentiert wird, entsprechend ungewohnt und vor allem hart. Die Worthens sind arm, der Vatre ist längst fortgezogen, angeblich um anderswo Geld für die Familie zu beschaffen. Lyddei, als Älteste, hat die Vaterrolle übernommen.
Gleich im ersten Kapitel zeigt sie, daß sie sich bewähren kann, sie vertreibt einen Bären, der in das Häuschen eingedrungen ist.
Diesen 'Bären' muß sie noch öfter vertreiben, denn er steht sinnbildlich für die weiteren Bedrohungen ihres Lebens und das ihrer Familie. Es gelingt ihr nicht immer. Die Schulden sind so hoch, daß ihre Mutter sie und ihren nächstjüngeren Bruder in der benachbarten Kleinstadt als Dienstboten verdingt und mit den beiden jüngsten Geschwistern fortzieht, zu einem Onkel. Der Hof soll verkauft werden. Lyddie schwört sich, daß sie alles tun wird, um ihn zurückzukaufen und ihre Familie wieder zusammenzubringen.
Wir folgen ihr, wie sie verbissen alles daransetzt, ihr Ziel zu verwirklichen. Als Magd in einem Gasthof, ein Jahr später dann, mit 14, als Arbeiterin in einer Weberei in der nächstgrößeren Stadt. Der Drang nach materieller Sicherheit füllt sie so aus, daß sie ganz vergißt, daß es noch andere Dinge gibt im Leben. Freundschaft und Spaß und Bücher - sie muß erst einmal ordentlich englisch sprechen und dann lesen und schreiben lernen - aber auch Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz, Sklaverei von Schwarzen wie Weißen. Vor allem aber, daß man Geschehenes nicht ungeschehen machen kann.
Aber man hat immer eine Chance, auch wenn die ganz anders aussieht, als man es sich vorgestellt hat.
Was mir an dem Buch gut gefallen hat, war, daß man die ganze Geschichte mit Lyddie erlebt, die Welt aus ihren Augen sieht, beschränkt und sich allmählich erweiternd, genau so, wie Lyddie erkennt, was geschieht, was richtig ist und was falsch. Manchmal kommt die Erkenntnis zu spät und dann leidet man ebenso mit.
Der historische Hintergrund fließt ganz unauffällig ein. Ohne daß man es merkt, befindet man sich in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Straßenschlamm spritzt einem im Februar um die Füße, das Feuer prasselt im Herd, die ungewaschenen Kleider riechen abscheulich, der Lärm der mechanischen Webstühle läßt einem den Kopf nur so dröhnen, der knusprige Apple Pie das Wasser im Mund zusammenlaufen.
An Problemen ist vielleicht ein bißchen viel hineingepackt, einschließlich dem Tod von Familienmitgliedern, in der Mitte wird es eine Spur lang. Aber die Personen sind überzeugend geschildert, neben Lyddie der geliebte Bruder Charlie, die Mädchen aus der Fabrik, Amelia und Betsy, mit denen Lyddie das Zimmer im Wohnheim teilt, Diana, die Gewerkschafterin, Luke Stevens, der Nachbarssohn. Oder Triphena, die Köchin, die Lyddies stolze Erklärung, daß sie zu Fuß in die Stadt gehen wolle, denn man soll zu Fuß in die Freiheit gehen mit der schönen Bemerkung kontert Man kriegt gewaltig Blasen davon
Schönes Buch, oft richtig spannend.